Kapitel 21
Massiv«, sagte Rainier und versetzte der Decke
über der Treppe einen letzten Hieb mit dem Schürhaken, bevor er
sich wieder zu Surreal und den Kindern gesellte. »Der Zauber muss
so angelegt gewesen sein, dass wir auf dem Weg nach unten durch den
Fußboden hindurchgegangen sind.«
»Verdammt gefährliche Vorgehensweise«, sagte
Surreal. Mithilfe der Kunst konnten Angehörige des Blutes durch
feste Gegenstände – wie Mauern und Fußböden – gehen, aber man
sollte es nicht unbedacht tun. Und durch Gegenstände zu gehen zu
lassen, ohne dass der Betreffende davon wusste, konnte tödlich
ausgehen.
Natürlich war das in diesem Fall wohl unerheblich
gewesen.
Sie hob den Arm, um sich die Stirn zu reiben, wobei
sie beinahe den Schürhaken hätte verschwinden lassen. Doch dann
fiel ihr gerade noch ein, dass sie sich nicht der Kunst bedienen
durfte. Surreal war nicht daran gewöhnt, immer etwas in der Hand zu
haben. Sie klemmte sich den Schürhaken unter den anderen Arm, da
sie in der Hand die Kerze mit der Hexenfeuerflamme hielt.
*Wie oft können wir noch Kunst verwenden, bevor wir
ganz in die Zauber in diesem Haus eingeschlossen werden? *, fragte
sie Rainier, während sie sich die Stirn rieb. *Hast du mitgezählt?
Könnten wir durch das Mauerwerk nach oben ins Erdgeschoss
zurückgehen?*
*Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich an jedes
einzelne Mal erinnern kann*, entgegnete er. *Ich glaube, wir sind
nicht weit von der letzten Anwendung der Kunst entfernt. Und das
bedeutet: ›Das Spiel ist aus.‹ Du und ich könnten
durch die Mauer gehen. Wenn wir je ein Kind trügen, könnten wir
zwei Kinder mitnehmen. Aber mehr ginge nicht.*
Sie müssten also zwei Kinder zurücklassen, als
Beute für alles, was sich hier unten befinden mochte. Keine
Entscheidung, die sie treffen wollte.
*Außerdem können wir uns nicht sicher sein, dass
wir überhaupt dorthin zurückgelangen würden, wo wir hinwollen *,
fügte Rainier hinzu.
»Sehen wir uns einmal hier unten um«, sagte
sie.
Ein paar Schritte von der Treppe entfernt tropften
und erloschen die Kerzen, abgesehen von der mit dem
Hexenfeuer.
»Luftströme«, stellte Rainier fest, eine Spur
Erleichterung in der Stimme. »Vielleicht befindet sich hier unten
doch ein Ausgang.«
Ein Brüllen hallte durch die Luft, Drohung und
Warnung in einem.
»Meinst du, das ist wirklich eine der Katzen?«,
fragte Surreal, als sie wieder etwas hören konnte.
»Wer auch immer hinter diesem Haus steckt, hat es
fertiggebracht, zwei Schwarze Witwen und einen eyrischen Krieger zu
töten, und dazu wer weiß wie viele andere, um Raubtiere für dieses
Spiel zu haben. Warum nicht eine der Katzen? Man bräuchte nicht
unbedingt eine, die Juwelen getragen hat, sondern nur eine, bei der
es sich um ein verwandtes Wesen handelt und die dämonentot werden
kann. Ohne Kunst steht unsere körperliche Kraft gegen die der
Katze.«
»Wir hätten keine Chance«, erkannte Surreal
grimmig.
»Nicht die geringste.«
»Dann ist das wohl die Richtung, in die wir
nicht gehen.«
»Einverstanden. Lass uns jetzt nach einem Weg
suchen, wie wir die Treppe wieder hinaufkommen.«
Lucivar grinste beim Anblick der kleinen schwarzen
Käfer, die erst den Boden der Badewanne bedeckten, dann zu großen
schwarzen Käfern anschwollen – und zerplatzten.
Er hoffte, dass Rainier das Badezimmer als Erster
betreten hatte, denn Surreal... sie war immer noch der Überzeugung,
diese spezielle Angst sei ihr kleines Geheimnis, und weder Daemon
noch er hegten die geringste Absicht, sie vom Gegenteil zu
unterrichten. Aber es wäre längst kein Geheimnis mehr, sollte sie
diese Viecher gefunden haben!
Tersas Werk. Ganz sicher.
Daemonar hätte bestimmt liebend gerne einen
aufplatzenden Käfer. Natürlich dürfte es kein frei herumlaufender
Käfer sein. Eher so eine Art Schachtel-Käfer. Eine Schachtel mit
einem guten Schutzschirm, denn wenn es dem Jungen gelänge, den
Käfer herauszuholen und irgendwo als Überraschung für seine Mama zu
verstecken … Marian würde ihm niemals verzeihen, dass er seinem
Sohn das Tierchen mit nach Hause gebracht hatte.
Er würde mit Tersa wegen eines Käfers sprechen und
bei einem Schreiner in Riada eine Kiste in Auftrag geben. Es war
noch reichlich Zeit, um das Ding bis Winsol als Geschenk fertig zu
bekommen.
»Surreal, mein Schatz, du hast mehr Rückgrat als
die meisten eyrischen Krieger, die ich in Terreille gekannt habe,
aber ich möchte wetten, dass du bei diesem Anblick gekreischt
hast!«
Ihm verging der Humor schlagartig, als er das
Badezimmer verließ und den Jungen im rückwärtigen Gang stehen
sah.
Diesmal handelte es sich nicht um eine Illusion.
Der Junge war ein kindelîn tôt.
»Ich werde dich beißen und dein Blut trinken«,
sagte der Junge.
Armer verängstigter Welpe. Er musste ein süßes Kind
gewesen sein. Selbst jetzt klang er, als sage er einen Vers bei
einer Schulaufführung auf – und verhaspele sich bei den
Wörtern.
»Dein Mörder …«, setzte Lucivar an.
»Er ist ein mächtiger Krieger gewesen.«
Der Junge klang eher hoffnungsvoll denn sicher, von
jemand Mächtigem umgebracht worden zu sein.
»Welpe, was Macht angeht, ist dein Mörder ein Glas
Wasser gewesen. Ich bin die stürmische See. Wenn du mich angreifst,
werde ich dich in Stücke reißen.«
»Aber … ich bin doch nur ein Kind.«
»Ich weiß«, sagte Lucivar sanft. »Darauf kann ich
keine Rücksicht nehmen. Nicht jetzt.«
Der Junge sank schlaff in sich zusammen.
Ein süßes Kind, das man für ein Spiel umgebracht
hatte. Lucivar setzte den Proviant ab und griff in den Beutel mit
den Heilvorräten, den er an seinem Gürtel befestigt hatte. Er zog
ein kleines Fläschchen mit einem Stöpsel heraus und hielt es dem
Jungen entgegen. »Da. Es ist Lamm, nicht Mensch, aber es ist
unverdünntes Blut. Es wird dafür sorgen, dass deine Kräfte nicht
schwinden, jedenfalls eine Zeit lang nicht.«
»Wirst du mir etwas antun, wenn ich es
annehme?«
Lucivars Wut steigerte sich kurzzeitig zum
Blutrausch, bevor er sie wieder bezähmte. »Nein, ich werde dir
nichts tun.«
Ein wunderbarer Dialog! Einfach wunderbar! Wer
hätte solch ein Glanzstück ausgerechnet von dem Eyrier
erwartet? Er würde eine Szene in das Buch aufnehmen müssen, in der
Landry Langston dem Jungen begegnet. Es wäre so traurig, so
bewegend, so … wunderbar.
Der Junge griff nach dem Fläschchen und trank das
Blut in hastigen Zügen. Es waren bloß wenige Schlucke, aber er sah
aus, als habe man ihm ein Festmahl serviert. Beinahe hätte er die
Innenseite der Flache ausgeleckt, doch dann hielt er inne, als
seien ihm unvermittelt wieder seiner Manieren eingefallen. Er
verschloss die Flasche mit dem Stöpsel und reichte sie
zurück.
»Welpe, weißt du, wer die kindelîn tôt
sind?«, fragte Lucivar.
»Tote Kinder«, entgegnete der Junge. »Wenn man ein
braver Junge ist, kommt man eine Weile an einen schönen Ort,
bevor man zu einem Flüstern in der Dunkelheit wird. Aber wenn man
ungezogen ist …« Er ließ den Blick durch den Korridor
schweifen.
Du Bastard! Du hast den Jungen nicht nur
umgebracht, sondern du hast ihm obendrein eingeredet, er habe es
verdient, hier zu sein? Im Vergleich mit diesem Haus war die
Insel der kindelîn tôt in der Hölle wahrscheinlich ein
schöner Ort.
»Wer hat dich umgebracht?« Die Frage war direkt,
und seine Stimme klang barsch, weil es ihn große Mühe kostete,
seinen Zorn im Zaum zu halten. Dieses Kind hatte es nicht verdient,
Zeuge seiner Wut zu werden.
Schlagartige Angst. Der Junge wusste, wer ihn
umgebracht hatte, und selbst jetzt war er zu verängstigt, um es
laut auszusprechen.
Es war unwahrscheinlich, dass er das mentale
Kommunizieren beigebracht bekommen hatte, dessen die Angehörigen
des Blutes sich bedienten. Doch jeglicher Angehörige des Blutes war
bis zu einem gewissen Grad dazu in der Lage. »Sieh mich an und
denke die Antwort so laut, wie du kannst, in deinem Kopf.«
Jarvis Jenkell.
Kaum ein Flüstern. Wenn er sich nicht auf den
Jungen konzentriert hätte, hätte er es nicht gehört. Jetzt konnte
er Daemon gegenüber bestätigen, wer ihnen diese Falle gestellt
hatte.
»Ich kann mich nicht an seinen Namen erinnern«, log
der Junge, »aber er ist sehr berühmt.«
»Von diesem Augenblick an ist er ein wandelnder
Leichnam. Das ist ein Versprechen.« Lucivar holte tief Luft und
ließ sie langsam wieder entweichen. »Hier ist noch ein Versprechen.
Ich muss mich erst um die Lebenden kümmern, aber falls es eine
Möglichkeit geben sollte, dich von diesen Zaubern zu befreien und
dich aus diesem Haus zu holen, bevor wir es dem Erdboden
gleichmachen, werden mein Bruder und ich es tun.«
»Verstehe.«
Lucivar hob das Proviantpaket auf und ging in den
vorderen Korridor. Er merkte, dass der Junge ihm folgte.
»Das ist eine böse Treppe. Es gibt einen
Trick.«
Er betrachtete die Stufen, dann sah er erneut den
Jungen an. »Was für einen Trick?«
»Man kann den Gang unten sehen, aber man kann nicht
dorthingelangen. Man gelangt an einen anderen Ort.«
»Hast du eine Hexe und einen Kriegerprinzen
gesehen?«
Der Junge nickte. »Sie sind die Treppe
hinuntergegangen. Sie sind verschwunden.«
»Hatten sie Kinder bei sich?«
»Vier.«
Demnach waren drei der Kinder, die das Haus
zusammen mit Surreal und Rainier betreten hatten, mittlerweile
tot.
»Du hast sie nicht wegen der Treppe gewarnt?«
»Die Hexenlady hat geschrieen, und ich hatte Angst.
Also habe ich nicht mit ihnen gesprochen.«
»Sie hat wohl die Käfer gesehen.«
Ein rasches jungenhaftes Grinsen. »Sie zerplatzen
richtig gut.«
Lucivar zögerte. »Wenn es einen Weg gibt, werden
wir dieses Haus verlassen.« Dann stieg er die Treppe hinab.
Oh, das war nicht gut. Das war gar nicht gut.
Sollte Lucivar das Luder Surreal und ihren Gefährten einholen,
würde es die große Schlacht am Ende der Geschichte verderben.
Einfach verderben. Und dieser Junge! Was machte er bloß? Er
sollte die Leute angreifen, anstatt sich mit ihnen zu
unterhalten.
Selbstverständlich hatte er nicht damit gerechnet,
dass einer seiner »Gäste« mit Flaschen voll Blut als
Bestechungsmittel ankommen würde.
Allerdings ein guter Einfall. Wahrscheinlich würde
er die Idee in der Geschichte der Hexe zuschreiben müssen.
Schließlich konnten nicht sämtliche guten Einfälle auf
Landrys
Konto gehen. Und sie trüge Blut bei sich, weil sie es immer tat –
seit ihrer Begegnung mit …
Na ja, da würde ihm schon noch etwas
einfallen.
Jetzt musste er seinen Gästen einen Weg aus dem
Keller und in den letzten Akt weisen.
Und er würde nicht weiter über diesen Ausdruck
nachdenken, den Lucivar verwendet hatte: wandelnder Leichnam.