Kapitel 22
Gerade eben war da lediglich ein Stapel
Vorratskisten und zerbrochenes Mobiliar gewesen; und nun befand
sich dort eine Treppe, die zu einer Tür emporführte.
Es war Surreal im Grunde gleichgültig, wohin die
Treppe führte, solange sie auf diesem Weg aus dem Keller gelangten,
bei dem es sich um ein Labyrinth aus kleinen Räumen handelte, die
voller Schutt waren – oder auf eine Art und Weise leer, die sie auf
den Gedanken brachte, der betreffende Raum sei genutzt worden, um
etwas oder jemand einzusperren. Insgesamt war der Keller zu
weitläufig, zu groß für das Haus über ihnen – gleichzeitig fühlte
es sich an, als schrumpfe er um sie her zusammen.
Rainier sah sie an. *Die Schwarzen Witwen, die
diese Illusionszauber erschaffen haben, sind gut in ihrer Kunst
gewesen. Der Illusionszauber, der die Treppe verborgen hat, hat
nicht aus reinem Zufall zu wirken aufgehört.*
*Ich weiß*, entgegnete sie.
*Hier unten fühlt man sich wie in einer Gruft. Es
fühlt sich an, als wären wir lebendig begraben.*
Sie wünschte, er hätte das nicht gesagt, denn es
passte allzu gut zu ihrem Empfinden, dass der Keller sich um sie
zusammenzog.
*Sollen wir nach oben gehen?*, fragte
Rainier.
Sie nickte. Was immer sich auf der anderen Seite
der Tür befinden mochte, würde leichter zu bewältigen sein, als
hier zu bleiben.
Sie stiegen die Stufen empor. Rainier führte die
kleine Gruppe, während Surreal ihnen den Rücken deckte. Die Tür
ging mit einem theatralischen Knarren auf – und sie befanden sich
wieder in der Küche.
Irgendwo im Haus erklang ein Gong.
Gut. Gut. Ein Problem war gelöst. Sobald Surreal
die Kellertür geschlossen hatte, setzte er den Illusionszauber, der
die Treppe verbarg, erneut in Gang.
Nun würde sich zeigen, wie gut es Lucivar im Keller
erginge.
Die Kugel Hexenlicht schwebte am Ende seines
Kampfschwertes und forderte die erdrückende Dunkelheit
heraus.
Lucivar hasste den Keller. Zu dunkel, zu feucht, zu
beengend für einen Mann, der einem Volk mit Flügeln
entstammte.
Das Ganze erinnerte ihn zu sehr an die Salzminen
von Pruul.
Jenkell, dieser Bastard. Dieser Schriftsteller. Wie
viel wusste er über die Familie SaDiablo? Hatte er ein paar Dinge
in diesem Haus ausgewählt, weil er wusste, dass sie
Erinnerungen heraufbeschwören würden, oder war das alles reiner
Zufall? Wusste er genug über Eyrier Bescheid, um den Unterschied
zwischen einem Leben im Innern eines Berges und dem Gefangensein
unter der Erde zu begreifen?
Egal. Die Erinnerungen ließen Angst in ihm
hochkommen. Lucivar nährte seine Wut mit dieser Angst. Er war aus
den Salzminen von Pruul herausgekommen. Aus diesem Haus würde er
ebenfalls herauskommen.
Die Küche war unverändert – mit einer
Ausnahme.
»Die Schüssel mit den Pfirsichen ist fort«,
erklärte Surreal, die sich langsam um die eigene Achse drehte und
das Zimmer genauer unter die Lupe nahm. »Hat der vorgebliche
Hausmeister die Schüssel entfernt, oder befinden wir uns trotz des
Anscheins in einem anderen Raum?«
Auf einmal schrieen alle vier Kinder. Im nächsten
Moment roch es nach Urin.
Rainier warf ihr einen schuldbewussten Blick zu,
während er eine Schublade schloss. »Die Spinnen sind immer noch
da.«
Luftströme. Nicht wirklich frische Luft, aber
anders als die Kellerluft. Das Hexenlicht ließ keinerlei Öffnung
erkennen, keine Unterschiede an den Wänden. Aber da waren diese
Luftströme. Und dann …
Das Gebrüll überraschte ihn und ließ ihn seine
Kampfhaltung einnehmen.
Keinerlei Bewegung. Kein sprunghafter Angriff. Nur
jene Warnung.
»Jaal?«, rief er leise. »Kaelas? Ich bin’s,
Lucivar.«
Es war möglich, dass Jenkell andere Angehörige des
Blutes angeheuert hatte, die einen Tiger oder eine arcerianische
Katze für ihn erjagen sollten. Dämonentot wäre sowohl die eine wie
auch die andere Katze ein tödliches Raubtier. Andererseits wären
sie ganz genauso tödlich, wenn man sie lebend in das Haus geworfen
hätte. Sollte es sich um ein lebendes Raubtier handeln, wäre noch
nicht einmal ein verwandtes Wesen nötig gewesen.
Doch wenn die Katze nicht Teil der Zauber in dem
Haus war...
Er ließ sich von den Luftströmen führen und näherte
sich der Wand – und wurde mit einem Fauchen belohnt.
Lucivar hatte dieses Geräusch oft genug vernommen,
um es nun wiederzuerkennen und zu wissen, mit welcher Katze er es
zu tun hatte. Er wusste bloß nicht, ob das Fauchen als Begrüßung
oder als Drohung gedacht war.
»Kaelas? Ich bin’s, Lucivar.«
Was war da? Ein Durchgang, den man gebaut hatte,
als das Haus noch bewohnt war, damit Dienstboten zwischen dem Haus
und einem Gebäude hin und her gehen konnten? Oder war es lediglich
ein Tunnel, der als Notausgang gegraben worden war, als man das
Haus in diesen Albtraum verwandelt hatte?
So oder so, er konnte sich nicht vorstellen, dass
Jaenelle
eine der Katzen gebeten hatte, einen Tunnel zu bewachen, und sie
hatte heute Morgen keine Katze bei sich gehabt. Es hatte sich also
keine Katze nahe genug befunden, um das Haus derart schnell zu
erreichen.
Also musste ein Schatten den Tunnel bewachen.
Beinahe genauso tödlich wie eine echte Katze. Vielleicht sogar noch
tödlicher, wenn Jaenelle ihn erschaffen hatte. Es gab einen
Hoffnungsschimmer, dass der echte Kaelas mit sich reden ließe, da
die Katze wusste, dass sie angeschrieen würde, wenn sie ein anderes
Männchen anfiel, das Jaenelle gehörte. Doch ein Schatten folgte
bestimmten Regeln. Lucivar ging davon aus, dass »Töte!« der
Hauptbefehl war, den das, was Jaenelle in dem Tunnel postiert
hatte, zu hören bekommen hatte.
Er wollte erneut rufen, aber dann donnerte das
männliche Grollen, das Kaelas’ mentale Stimme war, gegen seine
inneren Barrieren. Kaelas’ Stimme, aber dennoch nicht Kaelas. Der
Tunnel wurde also tatsächlich von einem Schatten bewacht.
*Lucivar nicht fressen. Surreal nicht fressen.
Rainier nicht fressen.* Der Schatten-Kaelas klang verstimmt
darüber, dass die Liste seiner Nahrungsmöglichkeiten derart
eingeschränkt war.
Der verdammte Schatten konnte sowieso niemanden
auffressen. Zerfleischen und umbringen, ja. Fressen, nein.
Zumindest war Lucivar sich ziemlich sicher, dass
ein Schatten niemanden richtig auffressen konnte. Andererseits war
es nicht gerade klug, irgendetwas bei einem von Jaenelles Schatten
als gegeben vorauszusetzen.
»Die Lady hat dir befohlen, mich nicht
aufzufressen?«
Eine Pause. Dann kam zögerlich: *Die Lady hat
gesagt, ich soll dich nicht umbringen.*
Beim Feuer der Hölle. Er musste Jaenelle unbedingt
sagen, dass sie diesen Schatten ein wenig zu viel von der Wesensart
des betreffenden Originals mitgab. Ein Schatten würde diesen
Unterschied nicht machen, es sei denn, man hatte es ihm
gesagt.
»Hast du Surreal gesehen?«
*Gewittert. Jetzt fort.*
»Durch den Tunnel?«
*Nein.*
Das überraschte ihn nicht. Surreal und Rainier
wussten nicht, dass Jaenelle und Daemon draußen warteten; von daher
bestand für sie kein Grund zu der Annahme, Jaenelle könnte für die
Katze verantwortlich sein, die den Tunnel bewachte. Statt das Haus
zu verlassen, mussten sie wieder hineingegangen sein.
Lucivar wollte sich schon abwenden, da hielt er
inne und dachte an die schwache Note eines anderen, die er im Haus
gespürt hatte – die kleine Schreiber-Maus, die hinter den Wänden
umherhuschte, alles beobachtete und belauschte. Es kam ihm in den
Sinn, dass es nie schadete, ein gewaltiges Raubtier bei Laune zu
halten, ob es sich nun um einen Schatten handelte oder nicht –
besonders für den Fall, dass er vielleicht den Tunnel benötigen
sollte, um alle aus dem Haus zu bekommen.
Er sagte zu der Schatten-Katze: »Sollte ein anderer
Mensch versuchen, durch den Tunnel zu kommen, dann friss ihn ruhig
auf.«
Als er sich aufmachte, einen anderen Teil des
Kellers zu erkunden, folgte ihm das behagliche Schnurren von
Kaelas’ Schatten auf dem mentalen Faden.
Daemon ging um den Zaun, der das Haus umgab. Ein
langsames Herumstreifen, wie ein Raubtier auf der Jagd. Wachsam.
Aufmerksam.
Es gab keinerlei Anzeichen, dass sich jemand in dem
Haus befand. Kein Vorhang bewegte sich, kein Gesicht zeigte sich an
einem Fenster. Andererseits hatte er letzte Nacht natürlich auch
kein Licht gesehen, obwohl es Lampen oder brennende Kerzen gegeben
haben musste.
Er konnte dem, was er sah – oder nicht sah – also
nicht vertrauen.
Doch er musste darauf vertrauen, dass er es sehen
würde,
wenn Lucivar sich durch die Zauber kämpfte und einen Weg aus dem
Haus eröffnete.
Er blieb an der Stelle stehen, unter der sich der
Tunnel befand, und dachte an die Schatten-Katze, die dort unten
Wache hielt. Im Grunde war es schade, solch ein prächtiges Raubtier
zu vergeuden. Vielleicht …
Anstatt seinen Rundgang fortzusetzen, kehrte er um
und ging zur Kutsche zurück.
»Mrs. Beale ist sehr tüchtig gewesen«, sagte
Jaenelle bei seinem Eintreten. »Yuli und ich haben noch mehr Essen
in der Vorratskammer entdeckt. Wir werden eine Suppe kochen.
Möchtest du auch etwas?«
Er warf seinen Mantel ab und ließ ihn verschwinden.
»Ja, ich möchte auch welche. Aber ich werde mich darum
kümmern.«
»Ich kann durchaus Suppe machen.«
»Sicher.« Nachdem er versucht hatte, ihr ein paar
Grundlagen des Kochens beizubringen, war er sich da gar nicht so
sicher.
Sie verengte die Augen zu Schlitzen. *Ich habe
schon seit Jahren keine Küche mehr in die Luft gejagt.*
Obwohl der Junge ihnen mit weit aufgerissenen Augen
zusah, gab Daemon ihr einen leidenschaftlichen Kuss – und nahm ihr
anschließend den Behälter mit der Suppe aus der Hand. *Gerade
deshalb sollten wir jetzt kein Risiko eingehen. Du darfst Brot und
Käse schneiden.*
*Na prima!*
Ihm fiel Yulis verwirrter Blick auf und er musste
grinsen. Der Junge war schlau und aufmerksam genug um zu wissen,
dass etwas vor sich ging, doch er wusste nicht, was – oder
warum.
*Nach dem Essen möchte ich mit dir über eine
leichte Veränderung in dem Verworrenen Netz reden, das die
Schattenkatze hält. Ich habe vielleicht Verwendung für ein
Raubtier. *
*Darf ich die Suppe wenigstens umrühren?*
*Nein.*
Schmollen. *Ich werde trotzdem mit dir
reden.*
Während er die Suppe für sie drei kochte,
verdrängte er die Sorgen und die Wut. Später gäbe es noch reichlich
Zeit für beides.
Es war so weit.
Tersa ließ das Verworrene Netz verschwinden und
wandte sich von dem Arbeitstisch ab.
Sie würde zu dem Spukhaus gehen und mit diesem
Langston reden. Ein … letztes … Mal.