Kapitel 3
Wie habe ich mich nur dazu überreden lassen
können?, fragte sich Marian, während sie Jaenelle in das
nächste düstere Zimmer des alten Landenhauses folgte, das schon
mindestens zehn Jahre lang leer gestanden hatte und völlig
heruntergekommen war. Und wenn man danach ging, was sie bisher zu
Gesicht bekommen hatte, war das Haus selbst zu den Zeiten nicht
pfleglich behandelt worden, als es noch bewohnt gewesen war.
Sie wartete, bis Jaenelle vorsichtig einen
Fensterladen geöffnet hatte, um trübes Licht durch das verdreckte
Fenster hineinzulassen. Dann sah Marian sich um und kam zu dem
Schluss, dass dies bisher das schlimmste Zimmer war. Dem Mobiliar
nach musste es das Esszimmer gewesen sein. Und die Tapete hatte
vermutlich Gäste davon abhalten sollen, allzu lange bei einer
Mahlzeit zu verweilen.
»Spinnweben«, sagte Jaenelle mit einem Blick in die
Zimmerecken.
Marian zuckte unwillkürlich zusammen, zwang sich
dann aber dazu, sich genauer umzusehen. Sie war hier, weil das
pragmatische Wesen einer Haushexe einen Gegenpol zu Jaenelles
besonders exzentrischen Einfällen bildete. Außerdem gehörte sie zur
Familie. Jaenelle war als Zwölfjährige von Lucivars Vater adoptiert
worden. Obwohl sie also keine Blutlinie verband, war Jaenelle
Lucivars Schwester – und Lucivars Königin. Da Marian Lucivars Frau
war, bedeutete das, dass Jaenelle nun auch ihre Schwester
war.
Und es gab noch eine Verbindung zwischen ihnen.
Wenn Jaenelle sie nicht gerettet und nach Kaeleer gebracht hätte,
hätte sie den Angriff der fünf eyrischen Krieger nicht überlebt,
und wenn sie nicht überlebt hätte, hätte sie sich nicht in einen
starken, wunderbaren Mann verliebt, und sie hätte nun keinen
Sohn.
Also stand sie in Jaenelles Schuld. Aber Schuld und
Familie hin oder her, eine Haushexe konnte nur einen gewissen Grad
an Schmutz ertragen!
»Ja«, sagte sie. »Diese Spinnweben müssen auf jeden
Fall verschwinden.«
»Nein. Also, ja, die da müssen weg, aber wir werden
neue Spinnweben in den Ecken anbringen. Schwarze, rußige Stränge
voller Knoten. Vielleicht fügen wir noch einen Illusionszauber
hinzu, damit es so aussieht, als bewege sich darin etwas.«
Marian erschauderte. Sie zog die Membranflügel, die
eine Nuance dunkler als ihre braune Haut waren, eng an den Körper;
eine instinktive Reaktion, um kleiner zu wirken. »Die Landenjungen
glauben, unsere Häuser seien voller Spinnweben?« Sie wusste nicht
recht, ob sie beleidigt oder entsetzt sein sollte.
»Und Ratten«, meinte Jaenelle fröhlich, wobei sie
eine Liste herbeirief und sie Marian aushändigte. »Ich habe mir
während der Unterhaltung mit den Jungen Notizen gemacht.«
Das waren keine Jungen, dachte Marian
düster, während sie die Liste durchlas. Das waren kleine
Ungeheuer mit einem madenzerfressenen Spatzenhirn. »Wir können
keine Ratten halten.«
»Keine echten Ratten«, räumte Jaenelle ein. »Aber
wir können ein huschendes Geräusch erschaffen, damit es so klingt,
als gebe es Ratten im Mauerwerk.« Nachdenklich ließ sie den Blick
durch den Raum schweifen. Sie runzelte die Stirn, als auf einmal
tatsächlich huschende Geräusche zu vernehmen waren.
Marian schloss kurz die Augen. Das nächste Mal
würden sie ein paar verwandte Wölfe mitbringen, die sich um die
Ratten kümmern konnten, die bereits hier hausten.
»Also diese« – Ungeheuer mit einem
Spatzenhirn – »Jungen glauben, die Angehörigen des Blutes leben
in schimmeligen Räumlichkeiten mit knarrenden Türen, ächzenden
Dielenbrettern und Möbeln, die seit zehn Jahren nicht mehr
abgestaubt worden sind, und wir essen in Zimmern, in denen die
Spinnweben in den Ecken hängen und Ratten in den Wänden
hausen?«
Jaenelle lächelte freudestrahlend. »Ja,
genau!«
Marian ging um den sperrigen Tisch herum, der die
Mitte des Zimmers einnahm. Wie sollte man dieses Monstrum sauber
bekommen? Vielleicht mit einem Meißel. Oder einem Vorschlaghammer.
Sie blieb an der Anrichte stehen und starrte das silberne
Serviertablett an, dessen Anblick sie mit den Zähnen knirschen
ließ.
Wenigstens, dachte sie, war unter all dem
angelaufenen Beschlag Silber.
Der Anblick des völlig verschmutzten Tabletts ließ
sie dennoch innerlich vor Wut kochen. Sie wandte sich ab und
marschierte auf die nächste Tür zu, wobei sie knurrend die Zähne
bleckte, als sie an dem schmutzigen Türknauf drehte. Es erforderte
einige Kraftanstrengung, die verklemmte Tür zu öffnen, aber als sie
endlich Erfolg hatte, musste sie feststellen, dass sie gar nicht
aus dem Zimmer hinausführte. Stattdessen befand sich dahinter ein
Wandschrank mit Regalböden, auf denen sich weiteres schwarz
angelaufenes Silber und von Ungeziefer verseuchtes Leinen befanden.
Sie ertrug es einfach nicht mehr.
»Warum keine vermodernde Leiche?«, fragte Marian
mit einer Stimme, die so verächtlich klang, dass sie ihr selbst
ganz fremd vorkam. »Würden wir nicht unsere Feinde in einem
Wandschrank einsperren und verhungern lassen, während sie uns beim
Essen zusehen?«
»Also …«, setzte Jaenelle an.
»Du hast doch gesagt, dir schwebten
Geschichtenerzähler vor. Erklär den« – Ungeheuern mit einem
madenzerfressenen Spatzenhirn – »Jungen doch einfach, sie
sollen diese Tür nicht aufmachen. Wenn sie auch nur im
Entferntesten wie
Daemonar sind, öffnen sie die Tür so bald wie möglich, bloß um
herauszufinden, warum sie es nicht tun sollen.«
»Aber hier geht es nicht um kleine Kinder in
Daemonars Alter«, widersprach Jaenelle. »Diese Kinder werden alt
genug sein, um die Geburtszeremonie hinter sich zu haben – oder sie
hätten sie hinter sich, wenn sie Angehörige des Blutes wären. Ein
Kind in dem Alter wird gewiss keine Tür öffnen, nachdem man ihm
gesagt hat, das solle es nicht tun.«
»Dann erschaffe den Illusionszauber eines Jungen im
richtigen Alter. Lass ihn die Tür aufmachen. Ja, lass am
besten gar keinen Türknauf an der Tür sein, bis der Geisterjunge
auftritt. Dann erscheint ein gespenstiger Knauf, an dem nur er
drehen kann.«
»Man hatte ihm erklärt, er solle die Tür nicht
aufmachen, aber er hat es doch getan – und der Knauf ist
abgefallen, als er ihn berührte, sodass der Schließzauber, mit dem
die Tür verriegelt war, außer Kraft gesetzt worden ist«, sagte
Jaenelle. »Der Geisterjunge weicht zurück, und die Besucher hören
ein boshaftes Lachen, während sich die Tür langsam öffnet.«
»Und in dem Moment erblicken sie das Skelett des
Jungen, dem gesagt worden war, er solle die Tür nicht
öffnen.«
Und der anscheinend auch als Geist immer noch
ungehorsam war.
»Das Skelett«, sagte Jaenelle leise. »Ja. Das
Skelett eines Jungen. Mit gerade einmal so viel Kopfhaut, dass man
noch Haarbüschel sehen kann, der aber ansonsten zerlumpte Kleidung
über sauberen Knochen trägt.«
»Haben wir das nicht alle in unseren Wandschränken,
zusammen mit den Tischtüchern und Servietten?«
Schweigen erfüllte das Zimmer. Dann …
»Marian«, hauchte Jaenelle. »Das ist genial! Wir
müssen uns nur noch einfallen lassen, warum er die Tür nicht öffnen
sollte, aber … Es ist genial!«
Das hatte sie davon, wenn sie versuchte, gehässig
zu sein! Sie war offensichtlich nicht dafür geschaffen.
»Komm schon«, sagte Jaenelle und ging auf den
Korridor
zu. »Sehen wir einmal, welcher Unsinn uns für die Zimmer im ersten
Stock einfällt.«
Marian starrte zu der leeren Türöffnung und
überlegte, was sie oben erwarten mochte. Schlafzimmer. Badezimmer.
Wandschränke. Und darüber der Dachboden.
Als sie die Türöffnung erreichte, knarrten die
alten Treppenstufen geräuschvoll. Jaenelle stieß ein entzücktes
Lachen aus. Marian betrachtete die Liste, die Jaenelle nach den
Vorstellungen erstellt hatte, welche die Landenjungen vom
Lebenswandel der Angehörigen des Blutes hatten.
Möge die Dunkelheit Erbarmen haben!
Vorsichtig lehnte Daemon sich gegen den gewaltigen
Ebenholztisch, der als Arbeitsfläche für diejenigen Gelehrten
fungierte, die das Lesematerial in diesem Teil der Bibliothek des
Bergfrieds benutzen durften. Eine kleine Muskelzerrung an seinem
Rücken. Nichts weiter. Insgesamt war er glimpflich
davongekommen.
Verfluchte Katze.
»Was führt dich heute in den Bergfried?«
Zuneigung. Trockene Belustigung. Liebe. All diese
Dinge schwangen in der tiefen Stimme mit. Er drehte den Kopf und
sah den Mann an, der die Bücher sortierte, die sich in der Mitte
des Tisches stapelten.
Ein gut aussehender Hayllier, dessen dichtes
schwarzes Haar an den Schläfen stark von Silbersträhnen durchzogen
war. Sein Gesicht spiegelte allmählich die Last seines langen
Lebens wider, aber am tiefsten hatten sich Lachfältchen in die
braune Haut gegraben, die die goldenen Augen umgab. Er war ein
Hüter, einer der lebenden Toten, und er war mehr als fünfzigtausend
Jahre durch die Reiche gewandert.
Er war Saetan Daemon SaDiablo, ein Kriegerprinz mit
schwarzem Juwel, der Prinz der Dunkelheit, der Höllenfürst, der
Hohepriester des Stundenglases. Ehemals der Haushofmeister des
Dunklen Hofes- und immer noch der inoffizielle
Haushofmeister des gleichen inoffiziellen Hofes – und nun zudem
der stellvertretende Bibliothekar und Geschichtsschreiber des
Schwarzen Askavi.
Und er trug noch einen weiteren Titel, der in
Daemons Augen am meisten zählte: Vater.
Sie kannten sich im Grunde erst seit ein paar
Jahren. Im Verlauf der Geburtszeremonie erhielt ein Kind das Juwel,
das die Macht anzeigt, die diesem jungen Gefäß innewohnte. Außerdem
war sie der Zeitpunkt, an dem die Vaterschaft für ein Kind formell
bestätigt oder verweigert wurde. Bei Daemons Geburtszeremonie,
während er stolz sein rotes Juwel in Händen gehalten hatte, war die
Vaterschaft verweigert worden. Man hatte Saetan jegliches Anrecht
auf seinen Sohn genommen, und sie hatten einander verloren – bis
das gegenseitige Bedürfnis, ein mächtiges, aber zerbrechliches
Mädchen zu beschützen, sie wieder zusammengeführt hatte.
Jetzt hatte Daemon einen Vater, jemanden, mit dem
er sich unterhalten konnte, jemanden, der sein Wesen besser
verstand als alle anderen, da er als einziger anderer Mann
ebenfalls das schwarze Juwel trug und die Macht einer Schwarzen
Witwe besaß. Besser sogar als Lucivar.
»Benötige ich einen Grund, um dich zu besuchen?«,
fragte Daemon.
»Gewiss nicht«, erwiderte Saetan, während er ans
andere Ende des Tisches ging und drei Bücher neben einen weiteren
Stapel legte.
Daemon trat ein wenig zur Seite, um die Stapel
besser sehen zu können. Handelte es sich um Bücher, die ausrangiert
werden sollten, oder um Werke, die Saetan und Geoffrey, der
Geschichtsschreiber und Bibliothekar des Bergfrieds, bewahren
wollten?
Alte Bücher, den Buchdeckeln nach zu schließen. Die
meisten waren so alt, dass die Titel verblasst waren und sich die
Einbände trotz der Bewahrungszauber, die sie so lange erhalten
haben mussten, zu lösen begangen. Die Bände in der riesigen
Bibliothek des Bergfrieds zu sortieren, war
eine fortlaufende Tätigkeit, und mit jedem einzelnen Buch musste
sorgfältig umgegangen werden.
»Es freut mich immer sehr, dich zu sehen, Daemon«,
sagte Saetan, der nun wieder zu den Stapeln in der Mitte des
Tisches zurückkehrte. »Aber ich erkenne sehr wohl den Unterschied
zwischen einem Gelegenheitsbesuch und einer Visite, wenn einer von
euch vorbeischaut, weil ihn etwas beschäftigt.«
Ertappt. Aber er war noch nicht bereit, die Frage
zu stellen. Also brachte er ein anderes Thema zur Sprache. »Hast du
von dem Spukhaus gehört?«
»Dem was?«
Voll boshafter Belustigung erzählte Daemon seinem
Vater alles über Jaenelles Vorhaben, ein Haus zu erschaffen, das
auf den Vorstellungen der Landenkinder vom Lebenswandel der
Angehörigen des Blutes basierte – und sah mit an, wie der
Höllenfürst immer bleicher wurde.
»Du beliebst zu scherzen«, sagte Saetan
heiser.
Daemon schüttelte den Kopf. »Jaenelle und Marian
befinden sich in diesem Augenblick dort und besichtigen das
Haus.«
»Kannst du die Sache nicht verhindern?«
»Hast du einen Vorschlag, wie ich das anstellen
soll?«
Eine Minute lang beobachtete Daemon seinen Vater
beim schweigenden Sortieren der Bücher, wobei er sich sicher war,
dass der Mann nicht darauf achtete, was er wohin legte. Später
würde er gewiss alles noch einmal sortieren müssen.
»Gibt es nicht sonst noch etwas, über das du mit
mir sprechen wolltest?« Saetan griff nach einem neuen
Bücherstapel.
Jene winzige Spur Verzweiflung, das leise
unterschwellige Flehen machte es Daemons Vater möglich, die Frage
zu stellen. Doch er wandte den Kopf ab und blickte nicht seinen
Gesprächspartner an, sondern die Wand.
»Als Lustsklave in Terreille bin ich jeden Morgen
aufgewacht und habe mich gefragt, wen ich an diesem Tag umbringen
würde, oder welches niederträchtige Spielchen ich spielen müsste,
oder ob ich es wäre, der umgebracht würde.
Jeden wachen Augenblick lebte ich auf Messers Schneide, und ich
wetzte mein eigenes Temperament daran. Ich habe mir den Beinamen
Sadist redlich verdient.«
»Und was ist jetzt das Schlimmste, dem du dich zu
stellen hast?«
»Sex am Morgen.«
Saetan ließ die Bücher fallen.
Daemon zuckte zusammen und hoffte, dass keiner der
Bände Schaden genommen hatte.
Nachdem Saetan sich um die Bücher gekümmert hatte,
hielt er einfach inne.
»Ich bin dein Vater«, sagte er leise. »Und ich bin
Jaenelles Adoptivvater. Von daher gibt es also Dinge in eurem
Eheleben, in die ich lieber nicht eingeweiht werden möchte, wenn es
nicht unbedingt erforderlich sein sollte. Aber sag mir eins:
Brauchst du eine Heilerin?«
Die Frage überraschte Daemon. »Nein.«
»Mir ist nicht entgangen, dass du deinen Rücken
schonst.«
»Das ist nicht wegen Jaenelle, sondern wegen der
verdammten Katze. Sie hat Kaelas angebrüllt, und er hat die Fassung
verloren.«
Saetan seufzte; ein leises Geräusch, in dem
unüberhörbar Erleichterung mitschwang. »Kaelas ist ein Kriegerprinz
mit rotem Juwel, der dreihunderfünfzig Kilo und ein ausgeprägtes
Raubtiertemperament auf die Waage bringt. Ich finde es immer wieder
verblüffend, dass Jaenelle ihn nur ›böses Kätzchen‹ zu nennen und
ihm mit den Fingerspitzen einen Klaps zu versetzen braucht, um ihn
in ein hilfloses Häufchen Elend zu verwandeln.«
»Sie hat ein wenig mehr als das getan. Sie hat die
Katze angebrüllt.«
»Warum?«
»Er hat sie aufgeweckt.«
Erneutes Schweigen. »Du bist mit Hexe im
Bett gewesen?«
Ernsthafte Sorge klang in seiner Stimme mit. Der
Haushofmeister sprach mit dem Gefährten der Königin. Es war
allgemein bekannt, dass Jaenelle schon schlecht gelaunt
war, wenn man sie alleine aufwachen ließ. Wurde sie jedoch jäh
aufgeweckt, war Hexe die Seite ihres Wesens, die zuerst
erwachte – und Hexe erwachte unversöhnlich.
»Dann lass mich dich erneut fragen, Prinz«, sagte
der Höllenfürst. »Brauchst du eine Heilerin?«
Daemon schüttelte den Kopf.
»Und dein Rücken?«
Er hob eine Hand und ließ sie dann wieder fallen.
»Bloß ein blauer Fleck. Ich habe am Schreibtisch gesessen. Er ist
zu schnell hereingekommen. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass
Kaelas komplett den Verstand verlieren und versuchen würde, auf
meinen Schoß zu klettern, während ich in dem Sessel saß!«
»Du hast einen Schutzschild aufgebaut?«
»Hat mich davor bewahrt, aufgespießt zu werden«,
erwiderte Daemon trocken. Ansonsten hatte es ihm nicht viel
geholfen. Er hatte, ein wenig betäubt, auf dem Fußboden des
Arbeitszimmers gelegen; zwischen dem kaputten Sessel und der
verängstigten Raubkatze eingeklemmt, deren gewaltige Pranke ihm –
mit dankenswerterweise eingezogenen Krallen – den Kopf tätschelte,
während Kaelas’ Gedanken auf ihn einstürmten. Die Lady war wütend.
Daemon war das Männchen der Lady. Daemon würde alles
wiedergutmachen.
In diesem Moment war Daemon voll und ganz damit
beschäftigt gewesen, Luft zu bekommen.
Saetan rieb sich das Kinn. »Das war ein schöner
Sessel. Allerdings nicht für solch ein Gewicht geschaffen.«
So wenig wie ich, dachte Daemon.
»Der Name des Handwerkers, der ihn angefertigt hat,
steht in den Haushaltsbüchern.«
»Ich werde Ersatz bei ihm bestellen.«
Erneutes Schweigen. Dann sagte Saetan: »Und
sonst?«
»Ich mag mein jetziges Leben. Wirklich. Ich mag es,
morgens aufzuwachen und zu wissen, dass der Tag voller kleiner
Herausforderungen und Freuden sein wird. Ich mag es, dass ich mich
einen Teil des Tages um die Familienbesitztümer
und die Finanzen kümmere wie auch um meine eigenen Geschäfte, und
dass ich mich einen Teil des Tages Dhemlan widme. Und während all
dessen ist da der Umstand, dass ich mit Jaenelle zusammen bin. Da
ist das Wunder und die Freude, mit Jaenelle zusammen zu
sein.«
»Aber?«
»Aber manchmal frage ich mich, ob ich die
unerbittliche Härte verlieren werde, die mich zu dem macht, der ich
bin, zu dem, was ich bin. Manchmal frage ich mich: Wenn der
Tag kommt, mich als Verteidiger zu bewähren, werde ich dann zu
weich sein, zu zahm, um das zu beschützen, was mir am meisten
entrichten muss?«
So. Er hatte es ausgesprochen. Hatte die Frage
gestellt.
Und Saetan stand nur da und starrte auf seine
Bücher, während er sachte mit den Fingerspitzen über den obersten
Einband strich.
»Du wirst diese unerbittliche Härte niemals
verlieren«, sagte Saetan unvermittelt, leise. »Daemon, dieses
Leben, das du nun führst, ist genau das, was ich mir immer für dich
gewünscht habe. Und ich hoffe inständig, dass dir Jahrzehnte
bevorstehen, in denen die schlimmsten Herausforderungen in deinem
Leben der Sex am Morgen mit deiner Frau und eine verstörte Katze
sind. Aber ich kann dir sagen, hier und jetzt, dass du diese Härte
dennoch niemals verlieren wirst. Gleichgültig, wie lange dieses
angenehme Leben verhüllt, wer und was du im Grunde deines Wesens
bist – an dem Tag, an dem du die kalte Klinge deiner Natur zücken
musst, wird sie genauso scharf geschliffen und tödlich sein, wie
sie es jetzt ist. Vielleicht sogar noch mehr.«
Eine Anspannung, die ihm gar nicht bewusst gewesen
war, löste sich aus seinen Muskeln. Dies war die Frage, die zu
stellen er hergekommen war. Und er hatte die Antwort erhalten, die
zu hören er gehofft hatte.
»Tja«, sagte Saetan mit einem trockenen Lächeln,
»warum kümmerst du dich nicht um die Familiengeschäfte und lässt
mich …«
Die Tür ging auf. Lucivar kam herein. Daemon
erstarrte
und spürte zugleich, wie sich Saetan neben ihm versteifte. Nicht
wegen Lucivar, sondern wegen -
»Onka Daemon! Großpapa!«
Daemonar hielt die Arme ausgestreckt. Die winzigen
Füße gegen die Hüfte seines Vaters gestemmt, schlug er mit den
kleinen Flügeln. Ein glücklicher kleiner eyrischer Junge … in einem
Zimmer voller Bücher von unschätzbarem Wert.
Der Gedankte jagte Daemon Angst und Schrecken
ein.
»Hallo«, sagte Lucivar, der versuchte, den sich
windenden Jungen unter Kontrolle zu halten, ohne einen
Tobsuchtsanfall heraufzubeschwören. »Habt ihr beiden von diesem
Spukhaus gehört, das Jaenelle und Marian planen?«
Unvermittelt hatte Saetan ihn am Arm gepackt und
zerrte ihn so rasch auf die Tür zu, dass Lucivar kurz darauf
rückwärts in den Korridor taumelte.
»Ja, Daemon hat mir gerade eben davon erzählt.
Meiner Meinung nach ist das eine Angelegenheit, die ihr beide
besprechen solltet, denn um derlei Dinge sollten sich Ehemänner
kümmern, keine Väter. Aber wenn mir etwas einfallen sollte, das
hilfreich sein könnte, werde ich es euch bestimmt wissen
lassen.«
Und im Nu stand auch Daemon im Korridor und starrte
die geschlossene Tür an, das deutliche Einschnappen eines Schlosses
im Ohr.
»Tja«, meinte Lucivar. »Damit wären wir wohl
entlassen.«
Lucivars Mund war zu einem trägen, arroganten und
gefährlichen Lächeln verzogen, aber sein Tonfall passte nicht
dazu.
Daemon betrachtete seinen Bruder. Seinen
Halbbruder, aber diese Unterscheidung hatten sie nie
getroffen. Der augenfälligste Unterschied zwischen ihnen waren
Lucivars dunkle Flügel, die nur Eyrier besaßen, nicht aber Hayllier
oder Dhemlaner, die anderen beiden langlebigen Völker. Und er hatte
die ganze Arroganz und selbstbewusste Haltung, die in der Natur
eines eyrischen Mannes lagen – besonders eines Eyriers, der
Kriegerprinz war und schwarzgraue Juwelen trug.
»Möchtest du …«, setzte Daemon an.
»Nein.« Zu scharf, beinahe schneidend, auch wenn er
weiterhin lächelte. »Habe zu tun.«
Auf einmal spürte Daemon eine Distanz zwischen
ihnen. Weshalb sie da war, konnte er sich beim besten Willen nicht
erklären. »Wollen wir uns heute Abend auf einen Drink treffen? Ich
könnte zu euch …«
»Ich komme auf die Burg. Bis dann, Bastard.«
»Pass auf dich auf, Mistkerl.«
»Tschüs, Onka Daemon! Tschüs!«
Er winkte zum Abschied, bis Lucivar und Daemonar um
eine Ecke in dem Korridor verschwunden waren. Dann blickte Daemon
zu der versperrten Tür zurück und seufzte.
Vielleicht musste er nicht mehr auf Messers
Schneide tanzen wie damals, als er noch in Terreille lebte, aber es
sah doch nicht so aus, als verliefe sein gegenwärtiges Dasein allzu
einfach.
Saetan lehnte an der verschlossenen Tür und
starrte zur Decke empor.
Warum habe ich mir bloß Kinder
gewünscht?
Das Gespräch mit Daemon hatte ihn
durcheinandergebracht, und er hatte reagiert, ohne nachzudenken.
Und der Blick in Lucivars Augen, kurz bevor er die Tür geschlossen
hatte, hatte ihm gezeigt, welch großen Irrtum er beging. Er würde
es wiedergutmachen. Am Abend würde er im Horst vorbeischauen und es
wiedergutmachen.
Wie das andere Problem zu lösen war, wusste er
hingegen nicht recht. Spukhaus. Die Worte waren zu einer spitzen
Gräte geworden, die ihm in der Kehle steckte; eine Beleidigung all
der Dinge, an die er glaubte. Eine Beleidigung, die von seiner
Königin ausging.
Ihm blieben zwei Möglichkeiten. Er konnte die Gräte
hinunterschlucken oder er konnte sie aushusten. So oder so würde es
schmerzen. Er musste sich nur entscheiden, mit welcher Möglichkeit
er leben konnte.
Er stieß sich von der Tür ab und kehrte in dem
Moment
an den Ebenholzschreibtisch zurück, in dem Geoffrey durch einen
der Torbogen trat, die zu den eingelagerten Büchern führten. Der
andere Hüter wirkte teilnahmsvoll und belustigt, während er Saetan
dabei zusah, wie dieser ein paar Bücher hin- und herschob.
Geoffrey trat an den Tisch, griff nach einem Buch
und schlug es auf, um die Titelseite zu lesen. »Wie lange meinst
du, wirst du das noch durchziehen können?«, fragte er. »Früher oder
später wird einer von ihnen dahinterkommen, dass dies neue Bücher
sind, deren Einband mit einem Illusionszauber belegt ist, damit sie
alt aussehen, und dass du sie lediglich als Requisiten
benutzt.«
»Bisher hat das noch niemand bemerkt«, erwiderte
Saetan und zog Geoffrey das Buch aus der Hand. »Wenn ich
beschäftigt bin, können sie sich Zeit lassen und langsam das zur
Sprache bringen, weswegen sie hergekommen sind. Keiner von ihnen
sieht genau genug hin, um zu bemerken, dass der Zustand des Papiers
nicht mit dem angeblichen Alter der Bücher übereinstimmt.«
»Und du hast ein paar der echten Bücher
mitgenommen, um die Vorlagen für den Zauber zu erschaffen. Ziemlich
genial, Saetan. Aber demnach zu schließen, was ich mitbekommen
habe, bevor ich mich zurückzog, stehst du vor einem Problem.«
»Allerdings.« Die Gräte in seiner Kehle kratzte
noch ein wenig heftiger. »Ja, allerdings.«
Lucivar landete auf dem kleinen Hof vor seinem
Horst, verlagerte das Gewicht seines kleinen Sohnes und wandte sich
dann um, um den Berg anzusehen, den man den Schwarzen Askavi
nannte.
Er war nicht wie sie. Würde niemals wie sie sein
können. Sein Vater. Sein Bruder. Zwei vom gleichen Schlag.
Der Unterschied zu ihm fiel nicht so sehr auf, wenn es nur der eine
oder der andere war. Aber wenn die beiden zusammen waren...
Gebildete Männer, mit einer Passion für Bücher und
Worte
und Gelehrsamkeit. Er war der Außenseiter, derjenige, der nicht
dazugehörte.
Es tat weh. Egal, wie oft er versuchte, es mit
einem Achselzucken abzutun, es tat dennoch weh. Und jetzt ging der
Schmerz noch tiefer. Wegen des Jungen.
Er rieb die Wange an Daemonars Kopf, und in ihm
stieg süßer Schmerz auf, als sich ihm die kleinen Ärmchen zu einer
Umarmung entgegenstreckten.
Er wusste, warum er aus der Bibliothek ausgesperrt
worden war. Wusste, warum man ihn ausgeschlossen hatte. Aber wenn
er sich zwischen ihnen entscheiden musste, würde er das Kind
wählen, das er in seinen Armen hielt.
Nachdem er seinem Sohn einen Kuss gegeben hatte,
sagte er: »Komm schon, Junge. Heute darfst du mit deinem Papa
spielen.«