Kapitel 7
 
 
 
Daemon kam aus dem Badezimmer der Zimmerflucht des Gefährten, bemerkte die besorgte Miene seines Kammerdieners und näherte sich der Kleidung, die auf dem Bett ausgebreitet lag, mit erhöhter Wachsamkeit. Er musterte das Hemd, das ein goldenes Karomuster aufwies und die dunkelgrüne Hose – definitiv nicht sein gewöhnliches weißes Seidenhemd und das schwarze Jackett mit schwarzer Hose! Fragend blickte er seinen Kammerdiener an.
»Was ist das?«
»Freizeitkleidung«, erwiderte Jazen. »Du hast gesagt, du würdest zu Fuß zum Dorf hinuntergehen. Um dir Bewegung zu verschaffen.«
»Ich habe gesagt, ich würde zu Fuß zum Dorf gehen, anstatt eine Kutsche zu nehmen, weil mir die Bewegung gut tun wird.« Was seiner Ansicht nach nicht das Gleiche war. »Aber ich begebe mich ins Dorf hinunter, um mit Sylvia zu sprechen. Der Königin von Halaway. Auf ihre Bitte hin.«
»Aber du wirst zu Fuß gehen. Also wirst du die hier brauchen.« Jazen hielt ein Schuhpaar in die Höhe, bei dem es sich keinesfalls um Daemons gewöhnliches schwarzes, glänzend poliertes Schuhwerk handelte. »Sie passen zu der Freizeitkleidung.«
Daemon kratzte sich mit einem schwarz gefärbten Fingernagel leicht am Kinn. »Ich bin nun schon seit geraumer Zeit erwachsen und kümmere mich ganz alleine um alle möglichen persönlichen Belange. Mittlerweile bin ich sogar der Herrscher über ein ganzes Territorium, was bedeutet, dass ich Entscheidungen treffe, die Auswirkungen auf das Leben tausender Menschen haben. Warum soll ich also auf einmal nicht mehr dazu fähig sein, mir selbst auszusuchen, was ich anziehe?«
»Du hast geheiratet.«
Er betrachtete prüfend Jazens Gesicht. »Das ist keine klugscheißerische Antwort gewesen, oder?«
»Nein, Prinz. Die Lady findet, dass du in deiner gewöhnlichen Kleidung phantastisch aussiehst, aber sie hat auch den Eindruck, eine kleine Veränderung ab und an könnte nicht schaden.«
»Aha.«
Während Jazen ins Badezimmer ging, um »aufzuräumen«, warf Daemon den Bademantel ab und zog sich an. Es gab nicht viel aufzuräumen, aber er brauchte kein Publikum, wenn er sich an- oder auszog – außer es handelte sich um Jaenelle -, und Jazen, der auf brutale Weise kastriert worden war, als er noch in Hayll lebte, brauchte keinen unversehrten Mann zu sehen und daran erinnert werden, was er verloren hatte.
Als Jazen in das Schlafzimmer des Gefährten zurückkehrte, war Daemon vollständig angekleidet und betrachtete einen Stoffbeutel voller zerbrochener Kekse, der neben der Kleidung gelegen hatte.
»Nein!«, rief Jazen in dem Augenblick, bevor Daemon sich ein Stück in den Mund schieben konnte.
Seine goldenen Augen verengten sich. »Da sie hier bei meinem Wanderzeug lagen, bin ich davon ausgegangen, dass es sich um den Reiseproviant handelt.«
»Dem ist auch so«, versicherte Jazen ihm. »Aber die Kekse sind nicht für dich«, fügte er hinzu, wobei er einen Buckel machte.
Ach, beim Feuer der Hölle!
Er öffnete die Schlafzimmertür und stand im Türrahmen, noch nicht bereit, sein Zimmer zu verlassen und sich der Situation zu stellen.
Fünf kleine Pelzknäuel warteten im Gang. Fünf kleine Schwänze wedelten ihm zum Gruß übermütig zu. Fünf kleine Sceltiegeister kläfften knapp vor seinen inneren Barrieren.
*Gassi?* *Gassi!* *Wir kommen mit!*
Er wurde in den Gang geschubst, als Jazen die Tür hinter ihm schloss.
»Na schön«, sagte er und ließ den Beutel mit den Leckerbissen verschwinden. »Gehen wir Gassi.«
Die erste Hürde musste bereits genommen werden, als er den Fuß der Treppe erreichte und von jammervollem Gejaule aufgehalten wurde, das oben von der Treppe erklang. Anscheinend konnten die Welpen die Stufen alleine hinaufklettern, schafften es aber nicht wieder hinunter.
Also musste er wieder nach oben, und dann je einen Welpen in der Hand die Treppe hinuntertragen, wo er die Fellknäuel auf dem Boden absetzte. Er hätte sich der Kunst bedienen und alle fünf Scelties auf einmal nach unten schweben lassen können, aber …
Bewegung, Sadi. Du wolltest diesen Spaziergang machen, um dir Bewegung zu verschaffen.
Noch zweimal die Treppe hinauf und hinunter, und sie befanden sich alle auf dem Weg in die große Eingangshalle und auf die Eingangstür zu.
Dort wartete Beale auf ihn. Er hielt eine Schüssel und einen Krug Wasser bereit. Ein Lakai öffnete die Tür, und fünf wuschelige Fellbündel rannten nach draußen, wobei sie Daemon durch ihr Jaulen zu verstehen gaben, er möge sich beeilen.
Daemon ließ die Schüssel und den Krug verschwinden. »Danke, Beale.«
»Genieß deinen Spaziergang, Prinz. Ich habe Tarl gebeten, einen der kleinen Gartenkarren herzubringen.«
Daemon hob eine Braue und wartete ab.
»Es ist ein langer Weg für kurze Beine«, sagte Beale. Er verzog keine Miene, aber in seinen Augen war zweifellos ein Funkeln. »Ich denke, der Karren wird dir auf dem Heimweg zugutekommen.«
Wenn er den Karren mit fünf schlummernden Welpen hinter sich her zöge.
»Ich bin ein Kriegerprinz mit schwarzem Juwel, und der Kriegerprinz von Dhemlan obendrein. Das habe ich mir doch nicht bloß eingebildet, oder?«
»Nein, mein Prinz«, erwiderte Beale. »Das hast du dir nicht bloß eingebildet. Du bist der mächtigste Mann in ganz Dhemlan.«
Daemon ging mit einem Nicken auf die Tür zu.
»Allerdings …«
Er blieb stehen. Drehte sich in der Hüfte, um zu Beale zurücksehen zu können.
»Nachdem die Lady die Burg bezogen und mit dem Höllenfürsten zusammengelebt hat, hat er ziemlich häufig die gleiche Frage gestellt.«
 
Sylvia betrachtete die Welpen. Dann sah sie ihren jüngeren Sohn Mikal an und deutete auf die Tür. »Raus in den Garten. Und ihr bleibt im Garten. Das ist nicht nur eine Bitte deiner Mutter. Es ist ein Befehl deiner Königin.«
Der Junge und die Welpen rannten nach draußen.
»Funktioniert das?«, fragte Daemon. »Beide Titel zu benutzen?«
»Normalerweise verschaffe ich mir so eine extra Viertelstunde, bevor ich nach ihm sehen muss, um den Unfug zu verhindern, den er gerade wieder anstellen will.« Sie fuhr sich durch die Haare, und es schien sie zu überraschen, dass die Bewegung so abrupt endete.
»Eine neue Frisur?«, fragte er in möglichst gleichgültigem Tonfall. Ihr Haar war kurz und frech und ließ sie … athletischer … wirken als die elegantere Frisur, an die er bei Lady Sylvia gewöhnt gewesen war.
»Neue Kleidung?«, versetzte sie.
»Ich habe geheiratet«, erwiderte er trocken.
»Das ist uns nicht entgangen.«
Hinter dem Schalk in ihren Augen lauerten Schatten.
»Warum?«, fragte er sanft mit einem Blick auf ihr Haar. Doch er wusste es.
»Ich musste unbedingt anders aussehen.« Erneut berührte sie ihr Haar mit den Fingern. »Ich wollte nicht mehr in den Spiegel schauen und die Frau sehen, die einst die Geliebte des Höllenfürsten war.«
Sie ging in den Familiensalon hinüber. Er folgte ihr.
»Ich habe ihn geliebt«, sagte sie. »Das tue ich immer noch. Ich habe viele lange Nächte in diesem Zimmer gesessen und darüber nachgedacht, was letztes Jahr passiert ist, und warum er sich dazu entschieden hat, den Alltag – und mich – hinter sich zu lassen.«
»Sylvia …«
»Nein. Lass es mich jemandem gegenüber aussprechen. Bitte?«
Er ließ die Hände in die Hosentaschen gleiten und nickte.
»Saetan hat mir gezeigt, was ich von einem Geliebten verdient habe. Nicht nur Erfüllung im Bett, sondern echte Zuneigung, Interesse an meinem Leben und meinen Belangen. Diese Mischung aus Zärtlichkeit und Belustigung, die er an den Tag legte, wenn ich mich aufgeregt habe. Dieser Blick, der besagte, er begreife, dass das, was mich derart in Rage versetzte, etwas Weibliches war, und er abwarten musste, bis sich der Sturm wieder legte.« Sie presste die Lippen zusammen und schloss kurz die Augen. »Zu guter Letzt habe ich begriffen, dass er gegangen ist, weil … es lag nicht nur an dem, was ihm angetan wurde, als man ihn in Terreille gefoltert hat. Er musste wirklich fortgehen, musste die Reiche der Lebenden hinter sich lassen.«
»Ja«, sagte Daemon behutsam. »Er musste wirklich fortgehen.«
Ihr traten Tränen in die Augen. Er sah, wie eine Träne über ihre Wange rollte.
»Vor unserer Liebesbeziehung sind wir Freunde gewesen.« Sie wischte sich die Träne fort und schniefte. »Ich vermisse auch den Freund. Mehr als den Geliebten vermisse ich den Freund. Während mancher langen Nacht habe ich ihm Briefe geschrieben. Ihm Anekdoten aus Halaway erzählt oder über die Jungen.«
»Aber du hast sie nie abgeschickt.«
»Nein.«
Er streckte die Hand aus. »Gib sie mir.«
»Oh nein, ich …«
»Gib sie mir. Ich kann dir nicht versprechen, dass er sich darüber freuen oder sie auch nur lesen wird. Aber ich werde sie ihm zeigen.«
Sie machte eine Schublade ihres Sekretärs auf und holte ein mit einem rosenfarbenen Band zugeschnürtes Bündel hervor. »Ein paar Briefe von den Jungen sind auch mit dabei. Vielleicht …«
Er nahm das Bündel und ließ es verschwinden, bevor sie es sich anders überlegen konnte. »Er hat dich geliebt, Sylvia. Das tut er noch immer. Aber er wird nicht zurückkommen.«
»Ich weiß.« Es war ein zitterndes Lächeln, aber immerhin ein Lächeln.
»Tja, am besten sammele ich die pelzigen Kleinen ein und …«
»Nein.« Sylvia schnitt eine Grimasse. »Ich habe dich nicht hergebeten, weil ich über deinen Vater sprechen wollte. Wir müssen uns über deine Mutter unterhalten.«
 
Daemon betrachtete die Vorderseite der beiden Häuser, dann ging er langsam um die Gebäude, weil er nachsehen wollte, ob alles in gepflegtem Zustand war. Vor vierzehn Jahren hatte Saetan das eine Haus gekauft, damit Tersa ein Zuhause hatte. Daemon hatte das Nachbarhaus für Manny erstanden, die Dienstbotin, die sich um ihn gekümmert hatte, als er als versklavtes Schmuckstück an Dorothea SaDiablos Hof gelebt hatte. Ja, im Grunde hatte Manny ihn aufgezogen, hatte ihn geliebt, war die einzig gute Konstante seiner Kindheit gewesen.
Als er nach Kaeleer ausgewandert war, hatte er Jazen und Manny mitgenommen, da er sie nicht den mitleidlosen Königinnen in Terreille ausliefern wollte. Jazen blieb als sein Kammerdiener bei ihm. Nach ein paar Wochen auf der Burg wollte Manny ihr eigenes Zuhause – und sie wollte sich ihren Lebensunterhalt selbst verdienen. Er kaufte ihr das Haus neben Tersas, und allmählich wurde Manny zu so etwas wie der Haushälterin und Köchin von Tersa und Allista, die Tersa derzeit Gesellschaft leistete und dabei lernte, eine Schwarze Witwe zu sein.
Er bog um eine Ecke und blieb stehen. Leise zählte er mit, um zu sehen, wie lange das junge Pärchen, das sich leidenschaftlich umarmte, brauchen würde, um seiner mentalen Signatur und damit seiner Gegenwart gewahr zu werden.
Erst bei zwanzig fuhr der Junge erschrocken auf, und die beiden sprangen auseinander.
Zuerst starrte Daemon das Mädchen an, wobei er seine instinktive Wut bezähmen musste. Sie war sichtlich verlegen, und das lag an dem Umstand, wer sie beim Küssen erwischt hatte, doch er konnte keine Spur des widerlichen Stolzes jener Hexen entdecken, die es genossen, Männer in kompromittierende Situationen zu bringen. Und das schüchterne Lächeln, das sie dem Jungen schenkte, bevor sie aus dem Garten stürmte, ließ ihn so viel von seiner Anspannung verlieren, dass er dem Jungen lockerer entgegentreten konnte. Hierbei handelte es sich nicht um eine Eroberung, sondern um junge Liebe. Höchstwahrscheinlich hätte Manny das Mädchen aus dem Garten verscheucht – nachdem sie dem Pärchen genug Zeit gegeben hätte, noch ein paar heimliche Küsse auszutauschen.
Als er auf den Jungen zuging, fragte er sich, ob Manny inzwischen auch wieder ihrer anderen alten Beschäftigung nachging – die der Dorfkupplerin.
»Prinz Sadi«, stammelte der Jüngling.
Er trug ein ärmelloses Unterhemd, war dreckverschmiert und verschwitzt. Schubkarren, Hacke, Rechen und eine Schaufel lagen in unmittelbarer Nähe. Ohne Zweifel einer der Jugendlichen, die sich ein paar Münzen dazuverdienten, indem sie bei den schwereren Arbeiten im Garten aushalfen.
»Wir haben nur … Ich habe nur …« Verwirrt ließ der Junge den Blick über die Werkzeuge und den Boden schweifen, als erhoffe er sich von dort eine Antwort.
»Das habe ich gemerkt.« Daemon lächelte und trug seine trockene Belustigung offen zur Schau. »Wenn du sie das nächste Mal in aller Öffentlichkeit küssen möchtest, dann behalte deine Umgebung im Blick. Und versuch es beim nächsten Mal mit ein bisschen weniger Zungeneinsatz. Es schadet nie, wenn das Mädchen mehr will, als man gibt. Besonders unter diesen Umständen.«
Als der Junge ihn ansah, leuchtete schockierte Freude aus seinem Antlitz, weil der Kriegerprinz von Dhemlan – und noch viel wichtiger, Jaenelle Angellines Ehemann – ihm Rat in Liebesdingen gegeben hatte.
Daemon musste ein Seufzen unterdrücken; auf einmal fühlte er sich viel älter, als es noch am Morgen beim Aufwachen der Fall gewesen war. Er trat an die Hintertür und klopfte.
Als Allista die Tür öffnete, wirkte sie nicht sonderlich nervös, aber er bemerkte die unterschwellige Sorge, als er die Küche betrat.
»Tersa ist oben auf dem Dachboden«, sagte Allista. »Sie hat die Speichertür mit Schlössern versehen und ist sehr geheimniskrämerisch bezüglich der Dinge, die sie in den letzten Wochen dort oben treibt.«
»Warum bin ich davon nicht in Kenntnis gesetzt worden?«
»Es ist merkwürdig, aber es scheint Tersa nicht zu schaden oder irgendeine Gefahr darzustellen. Ja, sie wirkt sehr erfreut über … was auch immer es ist.«
Er fühlte Wut in sich aufsteigen. Tersa war seine Mutter, eine gebrochene Schwarze Witwe, die vor siebenhundert Jahren den letzten Rest ihres gesunden Verstandes aufgegeben hatte, um ihre Macht als Schwester des Stundenglases wiederzuerlangen und die Träume und Visionen zu empfangen, die das Kommen von Hexe ankündigten. In der Nacht, in der sie ihm von der Vision erzählte, die sie in ihrem Verworrenen Netz erblickt hatte, hatte sie ihm Hoffnung geschenkt. Doch der Preis für diese Vision war gewesen, dass ihr Leben genauso zerstört wurde wie ihr Geist – bis Jaenelle sie so weit, wie Tersa konnte, aus dem Verzerrten Reich herausgeholt und sie hierhergebracht hatte, damit sie vom Höllenfürsten umsorgt und beschützt leben konnte.
»Ich bin mindestens einmal pro Woche hier«, sagte Daemon, dessen Stimme angespannt klang, während er sich Mühe gab, Allista nicht anzubrüllen. »Man hätte mich davon in Kenntnis setzen sollen, wenn Tersa sich in irgendeiner Weise ungewöhnlich verhält.«
Allista starrte ihn an. Offensichtlich fühlte sie sich zwischen zwei Loyalitäten hin und her gerissen. Hier zu sein war Teil ihrer eigenen Ausbildung – alle Schwarzen Witwen gingen das Risiko ein, sich im Verzerrten Reich zu verirren – und deswegen gehörte ihre Treue dem Stundenglassabbat und Tersa. Doch Daemon Sadi herrschte über Dhemlan und bezahlte ihr vierteljährlich ihren Lohn als Dank dafür, dass sie sich um Tersa kümmerte – genau wie sein Vater es vor ihm getan hatte.
Sie traf eine Entscheidung. Mit gerecktem Kinn und gestrafften Schultern sagte sie: »Sie wollte nicht, dass du davon erfährst.«
Er stürmte aus der Küche und die Treppe empor, noch bevor Allista ein Wort des Protestes herausbringen konnte.
Das Schloss an der Tür zum Dachboden war nicht abgesperrt, doch als er versuchte, die Tür zu öffnen, vernahm er das Klappern eines weiteren Schlosses auf der anderen Seite. Und er konnte ein mit der Kunst verstärktes Schloss spüren. Wenn Tersa es erschaffen hatte, war es möglicherweise gefährlich, selbst für jemanden mit seiner Macht.
»Tersa?« Er hämmerte an die Speichertür. »Tersa! Mach die Tür auf!«
*Geh weg*, antwortete sie auf einem mentalen Faden.
*Nein, ich werde nicht weggehen.*
Ärger quoll ihm auf dem Faden entgegen. Und eine Spur Angst.
*Warte.*
Er ging im Gang des Obergeschosses auf und ab und wartete. Fünf Minuten. Zehn Minuten. Eine Viertelstunde.
Endlich ging die Tür zum Dachboden auf, und Tersa kam in den Gang geschlüpft. Sie war so dünn, wie sie es immer gewesen war, trotz der regelmäßigen Mahlzeiten, die sie inzwischen zu sich nahm. Doch ihre Kleidung war neu, und ihr Haar, das zwar immer noch so verworren wie ihr Verstand war, war sauber.
»Tersa.« Er konnte nicht in ihren Gefühlen lesen, konnte sie nicht weit genug entwirren, um herauszufinden, was vor sich ging. Es tat weh, dass ihr seine Anwesenheit missfiel, aber er verdrängte den Schmerz.
»Es ist eine Überraschung«, sagte sie. In ihrer Stimme schwang ein flehender Ton mit, den er noch nie bei ihr gehört hatte. »Für den Jungen. Nur eine kleine Überraschung für den Jungen.«
Der Junge. Das bedeutete also für ihn. Er fragte sich häufig, was sie sah, wenn sie ihn erblickte. War es, als sähe sie in einen zerborstenen Spiegel, wobei jeder Splitter ein Bild aus der Vergangenheit in sich barg? Manchmal wusste er, dass sie ihn als das Kind sah, das er gewesen war, bevor Dorothea ihn ihr weggenommen und Tersa aus Hayll vertrieben hatte. Manchmal sah sie ihn als den Jüngling, der er gewesen war, als er ihr erneut begegnet war, und diese Begegnung für ihr erstes Zusammentreffen hielt, weil er sich nicht daran erinnern konnte, wer sie war. Und manchmal sah sie ihn so, wie er hier und jetzt vor ihr stand. Aber in all den zerbrochenen Splittern war er immer der Junge.
Zu wissen, weshalb sie ihn nicht bei sich haben wollte, linderte den Schmerz. Sie tat etwas für ihn, und sie hatte Angst, er könne darauf bestehen, es zu sehen, bevor sie damit fertig war.
Er senkte den Kopf und sah sie durch seine Wimpern hindurch an. »Und wann bekomme ich meine Überraschung?«
Einen Augenblick zögerte sie überrascht. Dann verengte sie die goldenen Augen zu Schlitzen. »Du neckst mich?«
»Nur ein bisschen.« Er schenkte ihr sein bestes Jungengrinsen.
Ihre Augen verengten sich noch stärker, aber ihm fiel die Veränderung ihrer mentalen Signatur auf, als sie den Umstand in sich aufnahm, dass er zu Späßen aufgelegt war und keine Antworten von ihr verlangte.
»Wann bekomme ich also meine Überraschung?«, fragte er erneut.
»Bald. Aber nicht heute.«
Er wartete und sah zu, wie sie sich bemühte, an der normalen Alltagswelt festzuhalten.
»Heute kannst du Nusskuchen haben.« Tersa ergriff seinen Arn und zog ihn auf die Treppe zu, die ins Erdgeschoss führte – und fort von der Überraschung auf dem Dachboden. »Und Milch.«
»Ich brauche keine Milch.« Er hetzte die Treppe hinab, um nicht von ihr abgehängt zu werden.
»Jungs bekommen Milch zum Nusskuchen. Das ist eine Regel. Manny hat es mir gesagt.«
Er biss die Zähne zusammen. Er konnte schlecht einer Regel widersprechen, die es Tersa ermöglichte, mit etwas fertig zu werden, das andere Menschen als einfach und alltäglich betrachteten; schließlich wusste er, dass Sylvias Sohn Mikal häufig zu Besuch kam. Zweifellos hatte Manny die Regel um Mikals willen aufgestellt.
»Na schön«, sagte er und versuchte, ein Knurren zu unterdrücken. »Ich werde die« – verdammte – »Milch trinken.«
Tersa blieb kurz hinter der Türschwelle zur Küche stehen und drohte ihm mit dem Zeigefinger. »Und nicht die Kunst benutzen, um die Milch verschwinden zu lassen. Nicht schwindeln.«
Die Geste einer Mutter. Die Schelte einer Mutter. Es war so außergewöhnlich, so etwas bei Tersa zu erleben, weil es im Grunde so gewöhnlich war.
Beinahe brach es ihm das Herz.
Es gab so vieles, das er ihr, seiner Mutter, nicht sagen konnte, weil es sie verwirren, in die Irre führen, weil es ihre zerbrechliche Verbindung zur Alltagswelt bedrohen würde. Aber er konnte ihr auf anderem Wege sagen, dass er sie liebte.
Also hob er ihre Hand an sein Gesicht und küsste ihre Handfläche. »Na gut, meine Liebe. Ich werde die Milch trinken. Für dich.«
009
»Also«, sagte Jaenelle, als sie das Esszimmer des Spukhauses inspizierten. »Wir haben das Skelett im Wandschrank, die Spinne im Netz, das Knurren im Keller, die glühenden Augen, den Rauch und die lachende Treppe.«
Marian erschauderte. »Kannst du das Gelächter nicht an einer ganz bestimmten Treppenstufe festmachen?«
Jaenelle drehte sich grinsend zu ihr um. »Es ist jetzt viel Furcht erregender, seitdem ich das ursprüngliche Gelächter in einer Höhle abgespielt habe, um das letztendliche Geräusch zu erhalten. Aber es soll nicht auf eine ganz bestimmte Stelle beschränkt sein. Die nächste Besuchergruppe würde das Geräusch erwarten, wenn sie die sechste Stufe erreicht.«
»Genau.« Sie hätte sich beinahe in die Hosen gemacht, als sie vorsichtig vermieden hatte, auf die sechste Stufe zu treten, und das Geräusch von unten emporgestiegen kam, als sie auf die achte Stufe getreten war. »Mach es wenigstens an einer Stufe fest, während wir noch mit dem Haus beschäftigt sind.«
Jaenelle bedachte sie mit einem ihrer langen, abschätzenden Blicke. »Gib es schon zu. Das hier hat dich oftmals erschaudern und zittern lassen, aber du hast es auch genossen.«
»Ich gebe gar nichts zu«, erwiderte Marian. Doch sie lächelte bei diesen Worten. Genau vor dem Esszimmer, wo die Leute warten würden, bis sie an der Reihe waren, stand ein staubiger Tisch mit einer Vase voll abgestorbener Blumen. Wenn man mit dem Finger durch den Staub wischte – oder noch besser, wenn ein Landenjunge seinen Namen in den Staub schrieb -, kamen als Nächstes die Worte »Hallo Opfer« zum Vorschein.
Das hatte sie sich ganz alleine ausgedacht.
Es war diese Mischung aus dem Absurden, dem Furchteinflößenden und dem Echten, die das Spukhaus über die dummen Vorstellungen erhob, von denen die Landenjungen Jaenelle ursprünglich erzählt hatten. Mittlerweile gab es Geisterführer, die den Leuten den Weg durch das Haus wiesen und ihnen Geschichten erzählten, damit sie wussten, wonach sie in jedem einzelnen Zimmer Ausschau halten mussten. Es gab Phantomgestalten, die in einem der Spiegel erschienen, doch der Zauber wirkte erst, wenn jemand in den Spiegel sah. Wenn man den Gang im Obergeschoss entlangging, hörte man an einer Stelle eine herzzerreißend schöne Stimme singen – es handelte sich um Jaenelles -, doch wenn man zurückging, um sie erneut zu hören, war sie verschwunden.
Und dann gab es da noch die anderen Führer.
»Niemand wird sich vor einem Sceltie fürchten«, sagte Marian, als die beiden Hunde, bei denen es sich um Illusionszauber handelte – ein schwarzer Hund mit braunen Flecken im Gesicht und ein braun-weißer -, ins Esszimmer getrottet kamen. Ihre Mienen waren lediglich eine Spur zu ausgelassen.
»Aber nur, weil diese Leute nicht mit einem Sceltie zusammenleben«, entgegnete Jaenelle.
Marian musterte die Illusionen, die mit dem Schwanz zu wedeln begannen, da sie ihnen ihre Aufmerksamkeit schenkte. »Wie komplex ist dieser Zauber?«
»Sie werden in vielerlei Hinsicht mit den Besuchern interagieren können.«
Boshafte Freude ließ Marian erzittern. »Mit anderen Worten, sie werden die Landenkinder durch das Haus treiben.«
»Sie können einen Besucher berühren; aber man kann sie nicht berühren«, sagte Jaenelle und nickte in Richtung der Hunde. »Die eigene Hand wird einfach durch sie hindurchgreifen, aber man wird es definitiv spüren, wenn sie einen zwicken.«
Das Haus gefiel ihr immer besser. Diese Landenjungen wollten sehen, wie die Angehörigen des Blutes lebten? Sie dachten, ihr Dasein bestünde aus Spinnweben in Zimmerecken und Ratten im Gemäuer? Ha! Sollten sie ruhig versuchen, mit den verwandten Wesen fertig zu werden!
»Wie um alles in der Welt bist du auf Sceltiegeister gekommen?«, fragte Marian.
Röte stieg Jaenelle in die Wangen. »Als ich nach Scelt gereist bin, um Fiona zu bitten, die kleinen Geschichtsfetzen auszuschmücken, die wir verfasst haben, haben Ladvarian und Schatten uns belauscht. Und da Kaelas das Knurren im Keller und die Geisterkatze sein durfte, die man aus einem der Fenster im Obergeschoss sieht …«
»Sie haben dich geknufft, bis du schließlich nachgegeben hast, nicht wahr?«
»Mir zugesetzt. Körperliche Gewalt war nicht im Spiel. Weder von meiner Seite noch von ihrer.«
Ach, der säuerliche Tonfall in Jaenelles Stimme!
Marian wandte sich ab, um ein Grinsen zu verbergen. Die mächtigen Männer in Jaenelles Leben gingen nur sehr selten siegreich aus einem Streit mit ihr hervor. Andererseits ging sie nur selten siegreich aus einem Streit mit Ladvarian hervor. Ärgerte es Lucivar, Daemon und Saetan mit anzusehen, wie ein Hund, der ihnen noch nicht einmal bis ans Knie reichte, Jaenelle dazu brachte, in Dinge einzuwilligen, während sie sie nicht im Mindesten von ihrer Meinung abbringen konnten? Oder waren sie dankbar, dass irgendjemand ihre geliebte Königin erfolgreich ablenken konnte, wenn es notwendig war?
»Also schön«, sagte Jaenelle munter. »Bleibt noch ein Zimmer, in dem es einiges zu tun gibt.« Sie verließ das Esszimmer und ging in den Raum voraus, bei dem es sich um einen Salon gehandelt haben musste. »Das hier wird das beängstigendste Zimmer im ganzen Haus sein.«
Marian betrachtete Mobiliar und Tapete und kam zu dem Schluss, dass das Zimmer schon Furcht erregend genug war, ohne dass sie etwas daran veränderten. »Was wird es hier drin geben?«
Oh, der Blick in Jaenelles Augen, als sie leise sagte: »Ein Versprechen.«
010
Daemon betrat einen der kleinen Salons, die sich in den Privatgemächern von Hexe im Bergfried befanden, und verrückte mithilfe der Kunst eine gepolsterte Fußbank neben diejenige, auf der Saetans bestrumpfte Füße ruhten. Dann setzte er sich auf die Bank und musterte seinen Vater, während Saetan das Buch zuklappte, in dem er gerade gelesen hatte, und die halbmondförmige Brille abnahm.
»Hübscher Pulli«, sagte Daemon trocken und beäugte den langen schwarzen Pullover, den Saetan über einem weißen Seidenhemd trug.
»Hübsches Hemd«, erwiderte Saetan genauso trocken und bestätigte damit Daemons Verdacht, dass sein Vater den Pullover aus dem gleichen Grund besaß, aus dem er das Hemd trug. »Das Gold steht dir ausgezeichnet.«
»Ich habe eben noch andere Kleidungsstücke außer weißen Hemden und schwarzen Hosen«, gab Daemon mürrisch zurück.
»Und wenn nicht, wirst du sie bald haben.« Saetan lächelte. »Haben sich vielleicht ein paar deiner Seidenhemden in den Schrank deiner Lady verirrt?«
»Nein.« Heiterkeit stieg in Daemon auf. »Meine Schultern sind breiter als deine, also passen meine Hemden nicht so gut, wie die deinen es getan haben. Soviel ich mitbekommen habe, ist das eine herbe Enttäuschung gewesen. Was die Hemden betrifft, nicht die Schultern.«
»Glückspilz.«
Er musste über den säuerlichen Ton in Saetans Stimme grinsen. Dann verschwand seine Belustigung, und er rief ein Bündel Briefe herbei, das mit einem rosenfarbenen Band zusammengeschnürt war. »Sylvia hat dir die hier geschrieben«, sagte er leise. »Es sind auch ein paar von den Jungen dabei. Ich habe ihr gesagt, ich würde sie dir zeigen, aber sie weiß natürlich, dass du sie nicht annehmen musst.« Besonders jetzt, da er sah, wie sich der Schmerz in den goldenen Augen seines Vaters sammelte. »Ich kann sie behalten oder vernichten oder sie lesen, wenn du das Gefühl hast, jemand müsse den Inhalt kennen. Ich werde damit tun, was immer du von mir willst.«
»Ich kann sie nicht annehmen«, sagte Saetan mit angespannter Stimme. »Es ist eigensüchtig, ich weiß, aber …«
Daemon ließ das Bündel verschwinden und legte eine Hand auf Saetans Knöchel. »Du hast das Recht dazu, diese Wahl zu treffen.«
»Es gibt Gründe, warum die Dämonentoten ihre eigenen Reiche haben. Es gibt Gründe, warum die Toten sich von den Lebenden entfernen. Und die gleichen Gründe gelten für Hüter.«
Entferne dich von allen, von denen du dich entfernen musst, dachte Daemon. Bloß nicht von mir. Oder von Lucivar.
»Du und Lucivar …« Saetan lächelte sein trockenes Lächeln. »Als ich euch zum ersten Mal erzählte, ich würde mich von den Reichen der Lebenden zurückziehen, hörte ich die unausgesprochene Warnung, was ihr tun würdet, wenn ich versuchen sollte, mich allzu sehr von euch abzuschotten. Und ich hätte nicht versucht, euch auszusperren. Nicht meine Kinder. Nicht dich oder Lucivar oder Jaenelle. Nicht den Hexensabbat oder die Jungs, denn sie sind auf gewisse Weise ebenfalls meine Kinder.«
»Sie haben deine Lektionen gelernt, haben die Liebe in sich aufgesogen und leben ihr Leben. Sie stellen keinerlei Forderungen an dich. Allenfalls haben sie kleine Erwartungen, wenn überhaupt.«
Saetan zögerte. »Im Moment stellt ihr die meiste Zeit über eine wunderbare Abwechslung dar. Nicht nur für mich. Auch für Geoffrey und Draca. Sogar für Lorn. Einmal pro Woche steige ich hinab und lese ihm die Briefe des Hexensabbats vor. Nur die Dunkelheit weiß, was der sagenhafte Prinz der Drachen von ihrem Inhalt hält.« Noch ein Lächeln, für den Bruchteil einer Sekunde. »Aber die Sache mit Sylvia ist etwas anderes.«
»Ja, das ist etwas anderes.« Eine Geliebte, die das Herz eines Mannes wirklich berührte, war immer eine Ausnahme. Er drückte den Knöchel seines Vaters liebevoll und lehnte sich dann auf der Fußbank zurück. »In ihrem Haushalt wird sich einiges verändern. Anfangs wird das nicht ganz einfach für sie sein, aber es wird anders sein.«
»Ach ja?«
»Ich bin mit fünf Sceltiewelpen ins Dorf hinuntergelaufen. Zur Burg zurückgekehrt bin ich mit vier.«
»Und der fünfte?«
»Mittlerweile hat Sylvia das kleine Biest bestimmt dazu überreden können, Mikals Hose loszulassen. Und Mrs. Beale hat versprochen, Sylvias Köchin ihr Rezept für Welpenkekse zu schicken.«
»Mrs. Beale hat eingewilligt, ein Rezept herzugeben?«, fragte Saetan gedehnt.
»Mrs. Beale hat eingewilligt, dass ich etwas bezahle... Ich weiß selbst nicht, was es ist, außer dass es sich um etwas handelt, das sie für die Küche haben wollte, das sie aber nicht als normalen Haushaltsposten rechtfertigen konnte.«
»Und du hast dich bereit erklärt, es im Austausch für ein Rezept zu bezahlen?«
Daemon starrte seinen Vater lange an, bevor er murmelte: »Sie hat das Hackbeil gewetzt, bevor sie zu mir kam, um mit mir zu reden.«
Einen Herzschlag lang herrschte Schweigen. Zwei Herzschläge lang. Dann brach Saetan in Gelächter aus.
011
Es war beinahe so weit. Alles war so gut wie fertig. Bald würde es große Überraschungen geben. Nur noch ein paar Einzelheiten, um die man sich kümmern musste.
Beinahe fertig.
Bald.
Und dann würden sie schon sehen, wie viele seiner Überraschungen die Familie SaDiablo überleben konnte.
Die schwarzen Juwelen 06 - Nacht
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