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Pia Petry hat eine Eingebung
Am nächsten Tag wache ich viel zu früh auf. Mit höllischen Kopfschmerzen. Der Schlag, den mir Nicolás versetzt hat, hat Spuren hinterlassen. Eine Platzwunde am Kopf und zermürbende Stiche in den Schläfen, von denen ich gehofft hatte, sie heute Morgen nicht mehr spüren zu müssen. Ich war spät eingeschlafen. Zu sehr hatte mich die Geschichte von Frau Reichweiler beschäftigt. Die Vorstellung, was sie getan und vor allem wie sie es bewerkstelligt hat, ließ mir keine Ruhe. Irgendwann reagierte sie gestern Abend nur noch mit stoischem Schweigen auf Lademanns Fragen. Aber es war nicht schwierig gewesen, die Ereignisse, die zu Isabels Tod geführt hatten, zu rekonstruieren.
Nachdem die Reichweiler die Filmaufnahmen erhalten hatte, die Isabel und ihren Mann beim Austausch von Zärtlichkeiten zeigten, war ihr klar gewesen, dass Isabel von ihrem Mann ein Kind erwartete und die beiden nicht nur eine Affäre, sondern eine Liebesbeziehung unterhielten. Die Reichweiler wusste, dass diese Schwangerschaft das Ende ihrer Ehe bedeutete. Dass sie, die jahrelang vergeblich versucht hatte, Kinder zu bekommen, jetzt einer jungen Frau und deren Nachwuchs weichen musste. Dazu einer Frau, die sie selbst nach Deutschland geholt hatte. Ihre Wut und Verzweiflung war so groß, dass sie den perfiden Plan ausheckte, Nicolás, Isabels gewalttätigen Zuhälter, nach Deutschland zu holen und ihn auf Isabel zu hetzen. Ihn quasi wie eine Waffe scharf zu machen und abzufeuern. Mit der Konsequenz, dass Isabel und ihr ungeborenes Kind ums Leben kamen.
Wir haben gestern Nacht noch lange zusammengesessen und über die Ereignisse der letzten Tage geredet. Sogar Lademann ist ein bisschen zugänglicher geworden und gestand in einer schwachen Minute ein, dass wir einen nicht unerheblichen Beitrag zur Lösung des Falls beigesteuert haben. Es gab Momente, da wirkte er fast sympathisch.
Müde drehe ich mich zur Wand, ziehe mir die Decke über den Kopf und versuche, noch einmal einzuschlafen. Aber daraus wird nichts. In meinem Badezimmer rauscht das Wasser. Wilsberg steht unter der Dusche. Das Rauschen macht mir bewusst, dass ich nicht allein in meiner Wohnung bin und Wilsberg jeden Moment in mein Schlafzimmer kommen kann. Unter welchem Vorwand auch immer. Zudem fällt mir wieder ein, dass er heute Nachmittag zusammen mit Anna den Zug nach Münster nehmen will und bis dahin noch einiges zu tun ist. Widerwillig stehe ich auf, schlüpfe in meinen Bademantel und absolviere auf meiner Gästetoilette eine Art Katzenwäsche mit rudimentärer Gesichtsreinigung, Zähneputzen und einmal Haare kämmen.
In der Küche erwartet mich eine Überraschung. Der Tisch ist gedeckt, frische Brötchen türmen sich im Brotkorb, das Hamburger Abendblatt liegt neben meinem Teller und der Kaffee tropft zischend in die Glaskanne meiner Kaffeemaschine. Und das nach einer Nacht, die alles andere als zu Wilsbergs Zufriedenheit verlaufen ist. Er hat mal wieder auf meiner Couch im Wohnzimmer übernachtet.
Ich schenke mir frischen Kaffee ein, setze mich an den Tisch und schlage die Zeitung auf. Nachdem ich die Überschriften des Feuilletons überflogen habe, wende ich mich dem Wirtschaftsteil zu und betrachte das Aufmacherfoto auf der ersten Seite. Sekundenlang starre ich das Bild an, bevor ich begreife, was ich da sehe. Florian von Sandleben auf einer schneeweißen Jacht im Hamburger Hafen. Darüber die Schlagzeile: Renommierter Hamburger Reeder erwirbt Aktienpaket der HHLA. Ich setze die Kaffeetasse wieder ab und überfliege den Artikel. Von Sandleben hat tatsächlich den Zuschlag für ein Aktienpaket in Höhe von 500 Millionen Euro erhalten. Der Bürgermeister betont, wie wichtig es ihm gewesen sei, ein Aktienpaket dieser Größenordnung in den Händen eines Hamburger Traditionsunternehmens zu wissen.
»Dass ich nicht lache«, sage ich laut. In dem Moment kommt Wilsberg herein.
»Stürzenbecher hat angerufen«, sagt er und setzt sich leise stöhnend auf einen Küchenstuhl. Offensichtlich tut die gebrochene Rippe ziemlich weh. »Und jetzt habe ich ein Problem.«
»Wieso?«
»Sie haben die Trickwaffe, mit der Monetti ermordet worden ist, von einem Spezialisten untersuchen lassen. Und das Ergebnis ist eindeutig. – Es war tatsächlich ein Unfall.«
»Oh!«, sage ich. »Dann ist Monetti gar nicht ermordet worden.«
Wilsberg nickt. »Und das muss ich jetzt Anna beibringen. Die so felsenfest davon überzeugt ist, dass ihr Mann umgebracht wurde.«
»Aber wenn Monettis Tod ein Unfall war, wer hat dann Kemmer getötet und seine Leiche entsorgt?«
»Da tippe ich immer noch auf Reichweiler!«, sagt Wilsberg. »Aber so genau werden wir das wohl nie erfahren.«
»Wahrscheinlich genauso wenig, wie wir klären werden, wer die Polizei nach Isabels Ermordung angerufen hat«, sage ich. »Obwohl ich da ja auf Nicolás tippen würde.«
»Könnte ich mir auch vorstellen«, sagt Wilsberg und greift nach einem der Brötchen.
»Immerhin habe ich heute schon etwas herausgefunden. Manchmal reicht es, wenn man einfach nur Zeitung liest«, sage ich und deute auf das aufgeschlagene Hamburger Abendblatt. »Von Sandleben hat ein Aktienpaket der HHLA im Wert von 500 Millionen Euro erworben.«
Wilsberg schmiert Butter auf seine Brötchenhälfte. »Wo hat der denn so viel Geld her?«
»Ich schätze, von Gerassimov.«
»Du meinst, von Sandleben macht den Strohmann für den Russen?«
Ich nicke und deute auf das Foto. »Wahnsinn, wie der die Leute einwickelt. Dem nimmst du doch problemlos den netten, seriösen Unternehmer …« Mitten im Satz breche ich ab.
»Was ist?«, fragt Wilsberg und versenkt einen kleinen silbernen Löffel im Marmeladenglas.
Ich deute wieder auf das Foto. Diesmal aber nicht auf von Sandleben, sondern auf die schwarze Schrift am Bug der Jacht.
»Da steht G. Balsamo.«
Wilsberg zuckt mit den Schultern. »Und?«
»Giuseppe Balsamo! Klingelt da nicht was bei dir?«, versuche ich, ihm auf die Sprünge zu helfen. »Berühmt geworden als … Na?«
Endlich fällt bei ihm der Groschen. »… als Graf von Cagliostro?«, fragt er.
»Genau! Von Sandleben ist unglaublich«, seufze ich. »Er hat wahrscheinlich gemerkt, dass Reichweiler versuchte, mithilfe dieser Erpressung an das Aktienpaket zu kommen, und ihm mit dem gezielten Verschicken von kompromittierenden DVDs die Suppe versalzen. Um letztendlich selbst in den Besitz der Aktien zu gelangen.«
Mein Telefon klingelt. Ich laufe in mein Arbeitszimmer und nehme ab.
Cornfeld hält sich nicht mit langem Vorgeplänkel auf. »Machen Sie mal Ihren Computer an und gehen Sie auf die Seite www.einHerzfuerexotischeTiere.de«, fordert er mich auf.
Ich rufe nach Wilsberg, bedecke aber vorher die Sprechmuschel mit der Hand, da ich jede Diskussion zum Thema Warum hat Wilsberg schon wieder bei Ihnen übernachtet? Und wo genau hat er genächtigt? vermeiden möchte.
Dann starte ich meinen Mac. Als sich die Seite aufbaut, bleibt mir der Mund offen stehen. Zu sehen sind die Zauberlehrlinge bei einem ihrer ausgefallenen Diners. Wie sie in ihren feinen Anzügen und Fracks an kleinen Tischen sitzen und sich frittierte Heuschrecken, gesottene Fledermäuse und gedünstete Schlangen munden lassen. Sowohl die Gesichter einiger prominenter Hamburger als auch die Gerichte, die da serviert werden, sind deutlich zu erkennen.
Wilsberg, der mittlerweile neben mir steht, ist genauso baff wie ich.
»Wie haben Sie das gemacht?«, frage ich meinen Assistenten und stelle das Telefon auf laut.
Cornfelds Stimme ist ein gewisser Stolz anzuhören, der allerdings auch berechtigt ist. »Ein Kumpel von mir kennt sich ganz gut mit Computern aus. Der hat die letzten Tage abends in seinem Auto vor dem Hanse-Theater verbracht und sich in das WLAN-Netz mit der Kamera, die in der Zauberloge steht, eingehackt. Gestern Abend hatte er Glück. Die Herrschaften waren beim Essen. Er hat sich die Aufnahmen auf seinen Computer heruntergeladen und ins Netz gestellt. Der Film läuft die nächsten Tage nonstop. Also, wenn Sie jemanden darüber informieren wollen, tun Sie sich keinen Zwang an.«
»Cornfeld, Sie sind der Größte. Ich danke Ihnen!«, rufe ich begeistert in den Hörer, beende das Gespräch und laufe in die Küche. Dort schnappe ich mir das Hamburger Abendblatt und schlage im Impressum die Telefonnummer des Politikressorts nach.
Fünf Minuten später habe ich einen Redakteur dran, der das Gespräch nur angenommen hat, weil ich der Sekretärin gegenüber behauptet habe, eine Kollegin zu sein. Unwillig hört er zu und scheint nicht zu verstehen, worauf ich hinauswill. Erst als er die Seite aufgerufen hat und ich ihn auf ein paar Details aufmerksam mache, begreift er, was er da gerade sieht. Als wir uns verabschieden, klingt er hektisch und aufgeregt. Kein Wunder, denke ich, der Mann wittert die Story seines Lebens.
Höchst zufrieden strahle ich Wilsberg an. »Die Herrschaften werden so schnell keine vom Aussterben bedrohten Tiere mehr vertilgen«, sage ich. »Das gibt einen Riesenskandal, der eine Menge Leute aus ihren Positionen katapultieren und von ihren Stühlen fegen wird.«
»Du kannst ja richtig rachsüchtig sein«, sagt Wilsberg. »Mit dir möchte ich keinen Krach haben.«
»Wir haben doch auch keinen Krach«, sage ich. »Oder?«
Er lächelt und sieht auf die Uhr. »Jetzt, wo wir alle Probleme gelöst haben, sollte ich mich langsam mal auf den Weg machen. Fährst du mich?«
»Klar!«, sage ich.
Er steht auf und verlässt die Küche. Kurz darauf höre ich ihn draußen seine Sachen zusammensuchen.
Während ich das schmutzige Frühstücksgeschirr in die Spülmaschine räume, wird mir bewusst, dass ich eigentlich nicht möchte, dass er jetzt schon nach Münster zurückfährt. Und schon gar nicht möchte ich, dass er mit Anna zusammen zweieinhalb Stunden im Zug verbringt. Vertraut ins Gespräch vertieft. Womöglich im Speisewagen, wo sie sich tief in die Augen blicken können, während draußen die herbstliche Landschaft am Fenster vorbeizieht.
Der Abschied kommt mir entschieden zu schnell. Und ist mir entschieden zu unromantisch. Mir kommt eine Idee. Ich nehme eine Flasche Schampus aus dem Kühlschrank und öffne sie. Wie nicht anders zu erwarten, passiert, was nicht passieren soll: Der Korken knallt gegen die Decke, der Sekt sprudelt aus dem Flaschenhals und hinterlässt einen nassen Fleck auf meiner Bluse.
Wilsberg kommt herein. »Hat einer auf dich geschossen?«, fragt er grinsend und legt seine Schirmmütze auf den Tisch.
»Wir haben den Fall aufgeklärt.« Ich reiche ihm einen Sektkelch. »Wir sollten darauf anstoßen.«
»Gute Idee.« Er hebt sein Glas.
Ich proste ihm zu und nehme einen großen Schluck. Wir sehen uns an. Verlegen. Keiner weiß so recht, was er sagen soll. Wie geht es jetzt weiter?, überlege ich. Nach der Devise: Don’t call me, I call you? Oder starten wir einen neuen Versuch? Einen ernsthaften? Mit mehr Vertrauen, mehr Offenheit und weniger Ängsten?
Wilsberg mustert mich nachdenklich. Und ich habe das Gefühl, als würden ihm die gleichen Fragen durch den Kopf gehen.
Sein Blick bleibt an dem feuchten Fleck auf meiner Bluse hängen. »Jetzt, wo du nass bist«, sagt er leise, »könntest du dich eigentlich auch ausziehen.«
Einen Moment bin ich verdutzt. Aber nur einen Moment. Dann öffne ich den ersten Knopf meiner Bluse, gehe langsam auf ihn zu und öffne den zweiten.
»Wann, hast du noch mal gesagt, fährt dein Zug?«