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Pia Petry bekommt anonyme Post

»Was freue ich mich, dich zu sehen. Wo ich doch schon seit Stunden versuche, dich zu erreichen«, knurrt Wilsberg, während sein Blick immer wieder zu Cornfelds geschwollenem Auge wandert.

»Wir waren frühstücken«, antworte ich leichthin und mustere unauffällig die Frau, die neben Wilsberg steht. Irgendwie kommt sie mir bekannt vor.

Ich sperre die Haustür auf und dirigiere meine Besucher die Treppe hoch in meine Wohnung.

»Setzt euch«, sage ich im Wohnzimmer und deute auf die weiße Couch. »Ich mache Kaffee.«

Als ich den Keramikfilter aus dem Schrank nehme, kommt Wilsberg in die Küche. »Was ist eigentlich mit deinem Handy los?«, fragt er und nun fällt mir auf, wie blass er ist. Ob vor Sorge oder vor Wut, kann ich nicht recht einschätzen.

»Es ist kaputt.« Ich drehe mich zu ihm um. »Weißt du, als ich da ganz allein auf der Reeperbahn in meinem Auto saß, händeringend darauf wartete, dass mein geschätzter Kollege aus Münster auftauchen würde, hat so ein Gorilla versucht, mich aus dem Auto zu zerren. Dabei ist leider mein Handy zu Bruch gegangen.«

»Das ist doch typisch«, schimpft Wilsberg leise. »Ich bin also wieder an allem schuld. Ich konnte nicht kommen. Die Polizei hat mich festgesetzt.«

»Ach nein«, sage ich. »Und da konntest du mich nicht anrufen. Oder haben die Bullen kein Telefon? Trommeln die noch?«

»Dein Freund, dieser Herr Lademann, hat mir mein Handy abgenommen …«

»Ich breche gleich in Tränen aus. Du armer kleiner Kerl. Er hat dir einfach dein Spielzeug weggenommen?«

»Pia. Es reicht!«

»Tut es nicht«, gifte ich ihn an. »Anna hätte hopsgehen können. Reichweiler hat sie in eine Kiste gesperrt und gedroht, sie da so lange drinzulassen, bis sie blau anläuft, wenn sie ihm nicht erzählt, weshalb sie wirklich gekommen ist und wer sie geschickt hat. Eine Viertelstunde später wäre sie wahrscheinlich schon auf dem Weg in den nächsten Puff gewesen.«

Wilsberg räuspert sich. »Das glaube ich nicht«, sagt er. »Lademann hat mir erzählt, dass es keinerlei Verbindungen zwischen Reichweiler beziehungsweise von Sandleben und dem Rotlichtmilieu gibt. Das Hanse-Theater liegt mitten auf St. Pauli. Der ganze Stadtteil wird von albanischen Zuhältern kontrolliert. Und die würden es kaum zulassen, dass ihnen da irgendeiner in ihrem eigenen Revier Konkurrenz macht.«

»Wie dem auch sei«, sage ich. »Anna war auf jeden Fall in Gefahr.«

»Und du hast sie dann gerettet«, fällt mir Wilsberg ins Wort.

»Nein, Cornfeld hat sie gerettet. Und ich habe die beiden dann vor dem Theater aufgesammelt und in Sicherheit gebracht.«

»Und dabei hat sich Cornfeld sein blaues Auge eingefangen.«

»Genau«, sage ich. »Wie auch immer man es dreht, mein Lieber: Du hast dich nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Wir sind kein bisschen weitergekommen. Die ganze Aktion war ein voller Reinfall. Wenn es brisantes Filmmaterial von dem Abend gibt, dann ist es spätestens jetzt gelöscht oder in irgendeinem Safe verschwunden. Und wer ist überhaupt diese Frau, die du da angeschleppt hast?«

Verdutzt sieht er mich an. »Das ist Franka Holtgreve, meine Rechtsanwältin. Hast du sie nicht schon einmal in Münster gesehen?«

»Und die hast du extra kommen lassen?«

»Ganz recht. Wenn ich in juristischen Schwierigkeiten stecke, lasse ich sie immer kommen. Schließlich ist sie meine Anwältin. Und eine ziemlich clevere dazu.«

Ich verziehe das Gesicht.

»Magst du sie nicht?«

»Ich kenne sie doch gar nicht.«

Wilsberg greift nach meinem Arm und zieht mich an sich. »Lass uns aufhören zu streiten. Ja?«

Nur pro forma leiste ich Widerstand. Allerdings keinen allzu großen. Auf jeden Fall nicht genügend, um zu verhindern, dass er mir eine Haarsträhne hinters Ohr streicht, mit seinen Lippen meine Stirn, meine Nasenspitze, meinen Mund berührt. »Ich habe mir wahnsinnige Sorgen gemacht. Ich hatte wirklich Angst, dir wäre etwas passiert. Das hätte ich nicht …«

Sacht verschließe ich seine Lippen mit meinem Mund. Und küsse ihn, lasse mich gegen seinen Oberkörper sinken, umschlinge ihn mit beiden Armen und genieße dieses Gefühl unendlicher Geborgenheit – da ertönt eine scharfe weibliche Stimme hinter uns.

»Ist der Kaffee immer noch nicht fertig?«

Wilsberg und ich fahren auseinander. Franka Holtgreve steht in der Tür und mustert mich mit dem Blick einer gereizten Raubkatze. Und eins ist sofort klar: Das ist ganz bestimmt nicht der Anfang einer wunderbaren Frauenfreundschaft.

 

Ein paar Minuten später trage ich vier dampfende Kaffeebecher ins Wohnzimmer. Cornfeld ist gerade dabei, Wilsberg und Franka von seinen Heldentaten zu berichten. Anna, die neben Cornfeld sitzt, und zwar sehr nah neben ihm sitzt, hängt geradezu an seinen Lippen. Er ist an der Stelle, als er in die Clubräume stürmte und mit Reichweilers Faust kollidierte. Danach ging er kurz zu Boden, rappelte sich wieder hoch und konnte seinen Angreifer mit einem gezielten Faustschlag gegen das Kinn außer Gefecht setzen. Kaum war der Gegner erledigt, eilte unser junger Held zum Holzkasten und befreite die liebe Anna. Damit findet Cornfelds Geschichte ihr heroisches Ende. Beglückt strahlt er Anna an, die seinen Blick aufs Innigste erwidert. Was für ein schönes Paar. Wenn man mal von Cornfelds ramponierter Physiognomie absieht.

Amüsiert nippe ich an meinem Kaffee und beobachte Wilsberg. Tja, im Moment sieht es so aus, als ob die Anna-Front am Bröckeln wäre. Meinem Assistenten sei Dank. Wilsberg bemüht sich um einen neutralen Gesichtsausdruck, dennoch kann er nicht verhehlen, dass ihm diese Entwicklung nicht wirklich behagt.

Aber wo Cornfeld dran ist, da ist er auch bald drin, denke ich bösartig.

»Cornfeld«, sage ich. »Haben Sie eigentlich noch etwas wegen Reichweilers Zuhälterambitionen herausgefunden?«

»Nein. Nichts. Überhaupt gar nichts. Ich habe noch drei weitere Taxifahrer interviewt und ein halbes Dutzend Wirte. Niemand hat je etwas von einem Puff mit kubanischen Frauen auf dem Kiez gehört. Auch nicht gerüchteweise.«

Wilsberg wirft mir einen ironischen Blick zu. Seiner Meinung nach ist mit Lademanns Erkenntnissen die Mädchenhändler-These längst vom Tisch.

Es klingelt. Widerwillig erhebe ich mich, mache mich auf den Weg in den Flur und öffne die Tür. Aber da ist niemand. Vielleicht Kinder, die sich einen Scherz erlaubt haben.

Ich will schon wieder gehen, als ich den kleinen, braunen Briefumschlag doch noch sehe. Mitten auf meinem Fußabtreter. Pia Petry steht in großen dunkelblauen Blockbuchstaben darauf. Sonst gar nichts. Kein Absender, keine Adresse, nichts. Mit spitzen Fingern hebe ich den Umschlag hoch und lausche. Tickt da etwas? Ist da eine Briefbombe drin?

Zurück im Wohnzimmer schwenke ich den Briefumschlag gut sichtbar für alle über dem Kopf. »Anonyme Post. Tickt aber nicht.«

Sofort gehört mir die volle Aufmerksamkeit aller Anwesenden. Cornfeld kann sich sogar von Annas Anblick losreißen. »Seien Sie bloß vorsichtig«, sagt er und steht auf.

Auch Wilsberg wirkt beunruhigt. »Zeig mal.« Er nimmt mir den Umschlag aus der Hand. Erwartungsvoll und angespannt stehen wir um ihn herum.

»Ihr geht jetzt alle mal raus«, übernimmt Wilsberg das Kommando. »Es reicht, wenn einer verletzt wird.«

»Spiele nur nicht den Helden«, sage ich und mich beschleicht der Verdacht, Wilsberg will Cornfeld seinen Rang als Frauenretter und Heilsbringer streitig machen. »Ich habe mal gelesen, dass Briefbombenbauer den Auslöser so anbringen, dass man ihn beim Öffnen des Briefes aktiviert. Und sie positionieren den Auslöser dort, wo man normalerweise einen Brief öffnet. Nämlich an der Längsseite«, doziere ich.

»Das weiß ich!«, erwidert Wilsberg gereizt. »Seid ihr so lieb und geht jetzt bitte in den Flur.«

Mangels einer Alternative verziehen wir uns auf den Gang.

»Tür zu«, ruft Wilsberg und dann hören wir erst einmal nichts mehr.

»Vielleicht sollten wir vom Eingang weggehen«, sagt Cornfeld, als Wilsbergs Stimme wieder ertönt: »Ihr könnt reinkommen.«

Vorsichtig schiebe ich die Tür auf. »Alles okay?«

»Alles okay!«

Er hält eine kleine silberne Scheibe in einer durchsichtigen Plastikhülle hoch. »Gibt es hier einen DVD-Player?«

»Aber klar doch«, sage ich und nehme ihm die Disc aus der Hand.

 

Der Film startet mitten in einer Zaubervorführung, die im Theater der Zauberloge stattfindet. Das erkenne ich an den verspiegelten Wänden, den vor der Bühne aufgebauten Tischen und Stühlen, dem ausladenden Lüster und dem roten Samtvorhang. Alle Plätze sind besetzt und schwarz gekleidete Kellner zwängen sich mit schwer beladenen Tabletts durch die enge Bestuhlung.

Mitten auf der Bühne steht Isabel Ortega in einem knappen silbrigen Glitzerbikini, von mehreren Scheinwerfern dramatisch angeleuchtet. Neben ihr befindet sich ein großes, mit Wasser gefülltes Glasbassin. Der Magier, ein dunkelhaariger, korpulenter Mann im roten Frack, fesselt sie mit einem Seil, das er ihr um die Fußknöchel, die Knie, die Hüfte, die Schultern und den Hals schlingt. So verknotet, kann sie sich nicht mehr rühren. Ein Zuschauer wird auf die Bühne gebeten, der mit Kennermiene Seil und Knoten prüft und dem Publikum mit nach oben gerecktem Daumen signalisiert, dass die Dame fest verschnürt ist. Kaum hat er die Bühne verlassen, tauchen zwei Männer in weißen Anzügen auf der Bühne auf, heben Isabel hoch und lassen sie in das Glasbassin gleiten, in das sie sich gerade eben hineinhocken kann. Als sie ihren Kopf seitlich auf die angezogenen Knie legt, ist sie komplett mit Wasser bedeckt. Sie lächelt. So als wäre es nicht weiter dramatisch, sich gefesselt in einem randvoll mit Wasser gefülltem Kasten zu befinden. Ich würde das keine Sekunde aushalten.

Die beiden Männer legen eine Glasplatte auf das Behältnis und ziehen ein schwarzes Tuch darüber. Das Bassin schwebt langsam in die Höhe. Die Kamera bewegt sich nach rechts, zu einem mannshohen Käfig, der an einer Kette von der Decke hängt. Dann schwenkt sie wieder zurück. Der Zauberer unterhält währenddessen sein Publikum mit ein paar Witzchen, die aufgrund der schlechten Tonqualität nicht zu verstehen sind, offensichtlich ihre Wirkung aber nicht verfehlen. Die Zuschauer lachen und das gleich mehrmals. Als der Behälter circa einen halben Meter unterhalb der Decke hängt, setzt ein Trommelwirbel ein, der dramatisch anschwillt und auf dessen Höhepunkt der Zauberer die Arme hochreißt, nach dem Tuch greift und es mit einem Ruck herunterzieht. Kurz kommt der Käfig ins Bild, der aber leer bleibt. Dann ist wieder das Bassin zu sehen. Isabel hockt immer noch gefesselt im Wasser. Doch sie lächelt nicht mehr. Ihre Augen sind vor Entsetzen geweitet, ihr Mund aufgerissen. Ein Tumult bricht los. Der Behälter wird eilig nach unten gelassen, die Glasplatte entfernt, Isabel aus dem Wasser gezogen und auf den Boden gelegt. Einer der Männer beugt sich über sie und versucht, sie mit einer Mund-zu-Mund-Beatmung zu reanimieren. Ob er Erfolg hat, lässt sich nicht feststellen, da die Zuschauer auf die Bühne stürmen, sodass Isabel hinter einer Wand schwarz befrackter Männerrücken verschwindet. Damit brechen die Filmaufnahmen ab.

Wie erstarrt stehen wir vor meinem Computer. Anna schluchzt auf und schlägt sich die Hände vors Gesicht. Worauf Cornfeld den Arm um sie legt und mit ihr das Zimmer verlässt.

»Hattet ihr nicht gesagt, sie ist erdrosselt worden?«, fragt Franka leise.

»Als ich sie gefunden habe, hatte sie Strangulationsmale am Hals«, sage ich.

»Sie war in diesem Bassin gefesselt«, erwidert Wilsberg nachdenklich. »Und das Seil lag auch um ihren Hals …«

»Wenn sie versucht hat, sich zu befreien, und die Knoten nicht lösen konnte, dann hat sie an ihren Fesseln gezerrt«, überlege ich laut.

»Und hat sich dabei unter Umständen selbst stranguliert. Vielleicht sogar, noch bevor Wasser in ihre Lungen dringen konnte«, greift Franka den Gedanken auf.

»Ich glaube«, sage ich nachdenklich, »es wäre nicht schlecht, wenn wir ein Standfoto hätten. Sicher ist sicher.«

»Du hast doch den Obduktionsbericht gelesen. War da irgendwo die Rede von Ertrinken?«, fragt Wilsberg.

Ich ziehe den Schreibtischstuhl zu mir, setze mich an den Computer und mache einen Screenshot. »Nein. Nicht dass ich wüsste. Aber ich habe das meiste ja sowieso nicht verstanden. Bei dem ganzen Fachchinesisch«, sage ich, während ich die Qualität der Aufnahme überprüfe. Danach betätige ich die Print-Taste.

»Eins scheint jedenfalls sicher«, sagt Wilsberg. »Isabel ist im Club gestorben. Dennoch wurde ihre Leiche trocken und bekleidet in ihrer Wohnung gefunden. Also hat man sie nach Hause gebracht, um es wie einen Mord aus Leidenschaft aussehen zu lassen.«

Ich nicke und beobachte die Seite, die sich langsam aus dem Drucker schiebt. »Warum haben die nicht die Polizei gerufen? Es war doch ganz offensichtlich ein Unfall«, frage ich.

»Weil das einen Riesenskandal gegeben hätte«, sagt Cornfeld, der gerade wieder das Zimmer betreten hat.

»Wieso?«, will ich wissen.

Cornfeld greift mir über die Schulter und startet den Film erneut, dann aktiviert er den Schnelldurchlauf, bis zu dem Moment, als das Wasserbassin nach oben gezogen wird und man den Magier auf der Bühne kurz von vorn sehen kann. Mein Assistent deutet auf das unscharfe Gesicht.

»Darf ich vorstellen: Dieter Rosenberg. Seines Zeichens Senator für Wirtschaft und Arbeit in Hamburg.«

Wilsberg zieht scharf die Luft ein. »Das erklärt natürlich vieles.«

»Wo ist Anna?«, frage ich, als mir auffällt, dass sie nicht mit Cornfeld zusammen ins Zimmer zurückgekommen ist.

»In der Küche. Ich habe ihr ein Glas Wasser gegeben.«

Doch in der Küche ist sie nicht. Auch nicht im Bad und nicht im Schlafzimmer.

»Anna ist nicht mehr da!«, rufe ich, laufe in den Hausflur hinaus und beuge mich über das Treppengeländer. Weit und breit ist niemand zu sehen und niemand zu hören. Wilsberg und Cornfeld folgen mir.

Ich drehe mich zu ihnen um. »Sie ist weg!«