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Pia Petry sieht Gespenster

Wilsberg hat sich in Luft aufgelöst. Einfach so. Die Nebelschwaden lichten sich und es ist eindeutig: Das Geisterhaus ist leer. Mir bricht der kalte Schweiß aus. Was soll das? Ein Gag? Ein Trick? Oder wird es jetzt ernst? Erschrocken fahre ich herum, als von Sandleben plötzlich neben mir auftaucht. Genauso unerwartet wie er gerade mit meinem Kollegen von der Bühne verschwunden ist.

»Wo ist Wilsberg?«

»Den habe ich weggezaubert. Das mache ich immer so mit unliebsamen Gästen. Schließlich hatte ich den Kerl nicht eingeladen.«

Ich springe hoch. »Ich will jetzt sofort zu …«

»Von dort, wo sich Ihr Freund im Moment aufhält«, sagt von Sandleben, »braucht er ungefähr fünf Minuten, bis er wieder bei uns ist.«

Dann greift er nach meinem Arm, zieht mich auf das Sofa zurück und deutet auf die Bühne. »Schauen Sie.«

Zu meinem Erstaunen tauchen Reichweiler und Isabel in dem klapprigen Holzhaus auf. Als durchsichtig geisterhafte Erscheinungen, die mich an meinen ersten Besuch bei von Sandleben erinnern, als ich mich selbst als Projektion aus der Toilette kommen sah. Die beiden stehen neben von Sandlebens Edelstahlwaschbecken, umschlingen sich, küssen sich. Isabel löst sich aus der Umarmung, entfernt sich ein paar Schritte. Reichweiler folgt ihr, greift nach ihren Schultern, vergräbt sein Gesicht in ihrem dichten langen Haar. Die üblichen neckischen Spiele verliebter Menschen. Dann legt er zärtlich beide Hände auf ihren Bauch und sie legt ihre Hände auf seine. Dieses Bild friert ein. Erneut schießt Nebel hoch, und als er sich verflüchtigt, sind die Gespenster verschwunden.

Ganz langsam drehe ich mich zu von Sandleben. »Wo sind diese Aufnahmen gemacht worden?«

»In meinem Haus.«

Womit immerhin geklärt wäre, wie Isabels Ohrring in von Sandlebens Abfluss geraten ist.

»Hatten Sie nicht gesagt, Isabel wäre nie hier gewesen?«

Von Sandleben zuckt mit den Achseln. »Wie schon gesagt, ich kannte sie unter dem Namen Valentina«, sagt er. »Und eingeladen habe ich die beiden auch nicht.«

»Wie kamen sie dann hier rein?«

»Reichweiler hat einen Schlüssel zu meinem Haus. Offensichtlich hat er in meiner Abwesenheit davon Gebrauch gemacht.«

»Und Ihre Überwachungskameras haben die beiden aufgezeichnet?«

Von Sandleben nickt.

»Das war doch nicht nur eine Affäre«, sage ich. »Die beiden waren ein Paar. Ein Liebespaar. Und Isabel war von Reichweiler schwanger. Was der auch wusste. Denn offensichtlich freute er sich auf das Kind.«

Mein Gegenüber lächelt anerkennend. »Sie sind eine Frau, Sie spüren so etwas.«

Macht er sich über mich lustig oder will er mir damit etwas sagen?

»Wie meinen Sie das?«, frage ich irritiert.

»Nun. Frau Reichweiler hat diese Szene genauso interpretiert wie Sie.«

»Frau Reichweiler? Wann hat sie das denn gesehen?«

»Ich habe die Zaubernummer, die ich Ihnen gerade vorgeführt habe, auch im Club präsentiert, wo wir sie aufgezeichnet haben. Ich war dann so frei, Frau Reichweiler eine DVD zukommen zu lassen.«

So ein Drecksack, denke ich. Der manipuliert nicht nur auf der Bühne, der manipuliert auch im wahren Leben.

»Macht es Ihnen Spaß, Leute gegeneinander auszuspielen?«, fahre ich ihn an. »Verschicken Sie gerne DVDs? Auch von Zaubernummern, die schiefgehen? Bei denen zum Beispiel junge Frauen in Wasserbehältern ertrinken?«

Von Sandleben verzieht das Gesicht. »Valentina, ich meine Isabel, ist nicht ertrunken. Aber das wissen Sie doch längst. Oder etwa nicht? So weit sind doch sogar Ihre Ermittlungen schon gediehen.«

Täusche ich mich oder schwingt da eine große Portion Herablassung mit? Dieser Mann wird mir von Sekunde zu Sekunde unsympathischer. Wo ist das jungenhafte, leicht naive Wesen geblieben, wo sein Charme und seine Unbedarftheit. Alles nur gespielt? Alles nur Show?

Mir fällt auf, dass Wilsberg immer noch nicht da ist. »Wo ist Georg?«, frage ich. »Er müsste doch längst zurück sein!«

Von Sandleben sieht auf die Uhr. »Eine Minute wird er wohl noch brauchen.«

Das dauert mir zu lang. Ich stehe auf und will mich an ihm vorbeidrängen, um selbst nach Wilsberg zu suchen, als ich die Stimme meines Kollegen höre. Laut fluchend kommt er ins Zimmer gestürzt.

»Sie sind wohl völlig irre geworden!«, geht er auf von Sandleben los. »Ich hätte mir alle Knochen brechen können. Unter dieser Falltür war nichts weiter als ein winziger, völlig verdreckter Strohsack. Meine Hüfte fühlt sich an, als wäre sie in tausend Stücke zersplittert.«

»Das tut mir leid. Ich hatte nicht bedacht, dass Sie doch etwas mehr Gewicht auf die Waage bringen als ich. Das nächste Mal lege ich Ihnen noch einen zweiten Sack dazu.«

Eine Erklärung, die Wilsberg nicht wirklich besänftigt. Schon gar nicht angesichts der Tatsache, dass er von oben bis unten mit Spinnweben, Ruß und undefinierbaren Schmutzresten, die einen unguten Geruch verströmen, bedeckt ist. Während ich ihm mit der flachen Hand die Spinnenweben von der Jacke wische, dröhnt Let’s get loud aus meiner Abendtasche.

Auf dem Display des Telefons leuchtet die Nummer meines Assistenten auf. Nachdem ich den grünen Knopf gedrückt habe, höre ich nichts weiter als ein Ächzen und Stöhnen. Und im Hintergrund seltsame Piepsgeräusche.

»Ich glaube, das ist Cornfeld«, sage ich. »Meldet sich aber nicht. Keine Ahnung, was das soll …«

Verunsichert reiche ich Wilsberg das Telefon. Während er es sich ans Ohr drückt, versuche ich, von der anderen Seite mitzuhören.

»Da ist so ein komisches Vogelgezwitscher im Hintergrund«, stellt Wilsberg fest.

»Ja, aber auch so seltsame Schleifgeräusche …«

»Hallo!«, ruft Wilsberg. »HALLO! Ist da jemand?«

Er bekommt keine Antwort. Von Sandleben, der uns die ganze Zeit beobachtet hat, streckt die Hand nach dem Mobiltelefon aus.

»Darf ich mal?«

Wilsberg zögert. Wir tauschen einen kurzen Blick, dann gibt er von Sandlebens Bitte nach.

Mit ausdrucksloser Miene konzentriert sich unser Gastgeber auf die Geräusche, die immer noch aus dem Handy dringen. Sogar mit Abstand können wir das Gekreische der Vögel hören. Schließlich reicht von Sandleben Wilsberg das Telefon zurück.

»Die Verbindung ist unterbrochen«, blafft mein Kollege ihn an. »Das waren Sie.«

»Nein, das war ich nicht«, antwortet von Sandleben und legt zum ersten Mal am heutigen Abend diese unerträgliche Attitüde aus Überheblichkeit und Arroganz ab. »Ich glaube, ich weiß, wo Ihr Assistent ist.«

Erstaunt sehen wir ihn an.

»Woher wollen Sie das wissen?«, frage ich. »Ist das Gedankenübertragung? Oder eine Form von spiritueller Visualisierung?«

Von Sandleben schüttelt den Kopf. »Nein. Das nicht gerade. Aber die Vögel, die im Hintergrund zu hören waren, sind Keas, neuseeländische Bergpapageien. Eindeutig zu erkennen, weil sie ihren eigenen Namen rufen. Sie sind vom Aussterben bedroht und sehr schwierig zu beschaffen. Soweit mir bekannt ist, hat Frau Reichweiler ein solches Pärchen.«

»Wie sehen die aus?«, frage ich.

»Relativ klein, mit olivgrünem Federkleid und hakenförmigen Schnäbeln.«

»Die Vögel sind nicht bei Frau Reichweiler«, widerspricht Wilsberg. »Die sind in den Räumen Ihres Zauberclubs. Dort haben wir sie nämlich gesehen.«

Von Sandleben räuspert sich und fährt sich verlegen mit der Hand durch die Haare. Mein Blick fällt auf seine Manschettenknöpfe. Es sind die gleichen, wie Reichweiler sie trägt.

»Nein, sie sind da nicht mehr.«

»Wieso?«, fragt Wilsberg und mir dämmert Abscheuliches.

»Das darf doch nicht wahr sein!«, rufe ich aus. »Sie haben sie gegessen. Die Keas stehen bei Ihnen und Ihren Zauberfreunden auf dem Speiseplan.«

Von Sandleben mustert mich interessiert. »Ihre Kombinationsgabe ist besser, als ich erwartet habe. Aber dieses spezielle Paar wurde noch nicht verzehrt.«

»Wie, um Gottes willen, kommt man dazu, Tiere zu essen, die vom Aussterben bedroht sind!«, fahre ich ihn an. »Das ist doch unverantwortlich.«

»Wieso?«, fragt von Sandleben gewohnt blasiert. »Sie sterben doch ohnehin aus. Ob wir sie nun essen oder nicht. Und so wird ihnen noch eine ganz besondere Ehre zuteil. Wir verspeisen sie in dem Bewusstsein, dass sie die letzten ihrer Art sind. Ansonsten würden sie von ihren natürlichen Feinden getötet, die dafür nicht das geringste Verständnis haben.«

»Was gibt es denn sonst noch Leckeres bei Ihnen zu essen?«, fragt Wilsberg.

»Ameisen, Heuschrecken, Leguane, Schildkröten, exotische Vögel, Schlangen, Fledermäuse …«

»Oder Komodowarane«, falle ich ihm ins Wort.

»Das ist verboten«, sagt Wilsberg sachlich. »Sie dürfen diese Tiere doch garantiert noch nicht mal einführen.«

»Streng nach dem Gesetz haben Sie wahrscheinlich recht.«

»Und wieso hat Frau Reichweiler die beiden Keas?«, frage ich.

»Sie hat die Vögel gerettet«, antwortet von Sandleben und verdreht die Augen. »Aber an Ihrer Stelle würde ich mich jetzt langsam mal auf den Weg machen.«

Misstrauisch sehe ich ihn an. »Was soll das? Sie wollen uns doch garantiert nur wieder austricksen.«

»Die Vögel«, sagt er, »waren in Panik. Das war deutlich zu hören. Daher fürchte ich, dass Ihr Kollege in ernsthaften Schwierigkeiten stecken könnte.«

Wilsberg und ich wechseln einen Blick und streben gemeinsam dem Ausgang zu.

»Wohin wollen Sie?«, ruft von Sandleben uns nach.

»Zu den Reichweilers!«, antworte ich.

»Zu welcher Adresse?«

»Schöne Aussicht.«

»Falsch«, antwortet er. »Die Vögel befinden sich in ihrem Wochenendhaus an der Schlei. Wenn Sie einen Moment warten, schreibe ich Ihnen die Adresse auf.«

 

Die Frage, wer Auto fährt, habe ich für mich entschieden. Wilsberg ist ein guter und umsichtiger Fahrer. Aber heute Abend sind andere Qualitäten gefragt. Während ich mit hundertvierzig Stundenkilometern durch den Elbtunnel jage, versucht Wilsberg erfolglos, Anna oder Cornfeld zu erreichen. Ich erzähle von der gespenstischen Erscheinung in von Sandlebens Geisterhaus und der sich daraus ergebenden Konsequenz, dass Isabel und Reichweiler ein Liebespaar waren.

Aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass Wilsberg mir nicht richtig zuhört. Er hat sich tief in den Sitz gedrückt und scheint seinen rechten Fuß nicht unter Kontrolle zu haben. Der zuckt ständig nach vorn, als versuche er, ein imaginäres Bremspedal zu bedienen.

»Hast du kein Vertrauen zu mir?«, frage ich.

»Vorsicht!«, ruft er. »Den Fiat hättest du fast gerammt.«

»Ja«, sage ich, »aber nur fast.«

»Könntest du nicht ein bisschen langsamer fahren? Anna und Cornfeld haben überhaupt nichts davon, wenn wir heute Abend an einem Brückenpfeiler enden.«

Ich tue ihm den Gefallen und reduziere die Geschwindigkeit. Aber nur ein bisschen.

»Was genau hat Cornfeld gesagt, als er vorhin anrief?«, fragt Wilsberg, nachdem er sich etwas erholt hat.

»Er hatte Anna gefunden und wollte irgendwo mit ihr hin. Die Verbindung war aber so schlecht, dass ich ihn nicht so genau verstanden habe.«

»Der Anruf kam aus dem Auto?«

»Ja. Ich denke, sie sind mit Gerassimovs Cayenne unterwegs.«

»Das spricht zumindest nicht gegen von Sandlebens Theorie«, sagt Wilsberg. »Da war ein Baustellenschild«, ruft er entsetzt.

»Ja und? Es ist immer noch da. Was willst du denn?«

»O mein Gott«, sagt er. »Hoffentlich überlebe ich das!«

»Schisser«, antworte ich und komme wieder auf unser Thema zurück. »Von Sandleben ist unglaublich clever und manipulativ. Wir können nicht ausschließen, dass er uns mit Absicht in die falsche Richtung geschickt hat.«

Wilsberg nickt. »Das Problem ist nur«, sagt er leise, »dass wir das nie herausfinden werden. Weil du uns vorher in der Schlei versenkt hast.«

 

Als wir vor dem Haus der Reichweilers parken, sieht es ganz so aus, als hätte uns von Sandleben tatsächlich in die Irre geführt. Weit und breit ist kein schwarzer Cayenne zu sehen.

»Vielleicht haben sie in einer Seitenstraße geparkt«, sage ich hoffnungsvoll, als wir auf das idyllische Reetdachhaus mit den kleinen weißen Sprossenfenstern zugehen.

Wilsberg zuckt mit den Schultern. »Vielleicht sind sie aber auch nie hier gewesen.«

Wir klingeln.

Tatsächlich öffnet Frau Reichweiler uns die Tür. Was ich ausgesprochen beruhigend finde. Immerhin stimmt die Adresse, die von Sandleben uns genannt hat.

Erstaunt reißt die Reichweiler die Augen auf. »Sind wir verabredet? Habe ich was vergessen?«

»Nein, nein«, sage ich sofort. »Herr Wilsberg und ich sind dabei, den Fall abzuschließen, und wir wollten Ihnen noch ein paar Fragen stellen. Es dauert nicht lange.«

Kurz zögert sie, dann tritt sie zur Seite und lässt uns herein.

»Schön haben Sie es hier«, sage ich und sehe mich in dem Wohnzimmer um. Einem lang gestreckten Raum mit niedriger Decke und einer altmodisch kitschigen Möblierung, die nicht ganz meinem Geschmack entspricht, aber gut zu dem Haus passt. Eine schmale Tür und zwei kleine Fenster gehen auf einen Garten hinaus, dessen Rosenbeete, Büsche und Bäume von im Boden versenkten Strahlern angeleuchtet werden. Soweit ich das in der Dunkelheit sehen kann, endet das Grundstück direkt an der Schlei. All das registriere ich in Sekundenschnelle, genauso wie die Tatsache, dass auf den alten Pitchpinedielen vor der Tür frische Erdkrümel liegen. Was ich nirgends sehe und auch nicht höre, sind Vögel.

»Woher wussten Sie, dass ich hier bin?«, fragt Frau Reichweiler verunsichert.

»Der Garten ist ja traumhaft«, erwidert Wilsberg und geht zum Fenster.

Ich pflichte ihm bei. »Herrlich. Und dass er bis an die Schlei reicht – einfach toll.«

Frau Reichweiler lächelt geschmeichelt. »Ja, das stimmt schon. Nur leider riecht es bei Niedrigwasser im Sommer manchmal nicht so gut.«

»Sie meinen bei Ebbe?«, fragt Wilsberg erstaunt.

Frau Reichweiler wirkt amüsiert. »Mit Niedrigwasser meine ich die Trockenperioden, unter denen wir immer wieder zu leiden haben. Aber Ebbe und Flut spüren wir auch ein bisschen, mit einem Tidenhub von immerhin bis zu zwanzig Zentimetern. Schließlich ist die Schlei kein gewöhnlicher Fluss, sondern ein Meeresarm der Ostsee und Schleswig-Holsteins längste Förde …«

Während sie Wilsberg eine Einführung in die geografische Ausdehnung und Topografie des Schlei-Trave-Flussgebiets gibt, lasse ich meinen Blick durch den Garten schweifen. In der Hoffnung, irgendetwas zu entdecken, das Aufschluss über den Verbleib von Cornfeld und Anna geben könnte. War da nicht ein verdächtiger Schatten? Und was befindet sich dort auf der Wiese? Ist das ein Kleidungsstück oder sind das nur Blätter, die der Wind von den Obstbäumen auf den Rasen geweht hat? Immerhin fällt mir auf, dass draußen vor der Tür die Fußmatte verschoben ist und dass eine rostige Gartenforke schräg daneben am Boden liegt.

Frau Reichweiler, die ihren Exkurs beendet hat, deutet auf ein Biedermeiersofa, das unter einer Flut bestickter Kissen zu verschwinden droht. »Wollen Sie sich nicht setzen? Darf ich Ihnen einen Tee anbieten?«

»Nein danke.«

Es fällt schwer, lockeren Smalltalk zu machen, wenn die Nerven blank liegen und sich der Magen in einen harten Klumpen verwandelt hat.

»Frau Reichweiler …«, beginnt Wilsberg.

»Wussten Sie, dass Isabel schwanger war?«, platze ich dazwischen.

Ihre Miene gerinnt zu einer ausdruckslosen Maske. »Nein.«

»Hat Ihr Mann je davon gesprochen, sich wegen Isabel von Ihnen scheiden zu lassen?«

Sie schüttelt heftig den Kopf. »Nie im Leben. Wegen eines solchen … Verhältnisses hätte er mich nicht verlassen.«

»Das war nicht nur ein Verhältnis«, sagt Wilsberg. »Das war eine Liebesbeziehung.«

»Haben Sie Vögel?«, frage ich unvermittelt.

»Vögel?«, echot Frau Reichweiler.

»Haben Sie nicht?«, fragt Wilsberg nach.

»NEIN. Ich habe keine Vögel. Mein Mann wollte mich nicht verlassen. Isabel war nicht von ihm schwanger. Mir reicht es jetzt. Ich bin ein freundlicher und höflicher Mensch. Immer darauf bedacht, andere fair zu behandeln und zu helfen, wo ich kann. Aber alles hat seine Grenzen. Sie gehen! Und zwar sofort!«

Ostenativ hält sie die Wohnzimmertür auf. »Auf Wiedersehen. Beziehungsweise adieu. Weil wiedersehen möchte ich Sie ganz bestimmt nicht.«

 

»Von Sandleben hat uns gelinkt«, schimpfe ich, kaum dass wir das Haus verlassen haben. »Die hat überhaupt keine Vögel …«

»Ist dir die Erde vor der Tür zum Garten aufgefallen?«, fragt Wilsberg.

Ich nicke. »Aber das hilft uns auch nicht weiter. Es gibt keinerlei Indizien dafür, dass Cornfeld und Anna im Haus gewesen sind. Außerdem kann ich dieses verdammte Auto nirgends sehen.«

»Vielleicht hat die Reichweiler es irgendwo versteckt.«

Ich sehe mich suchend um. »Ja. Aber wo?«

Wir einigen uns darauf, einen letzten Versuch zu starten und sämtliche Seitenstraßen der näheren Umgebung abzufahren. Diesmal besteht Wilsberg allerdings darauf, dass er sich ans Steuer setzt. Als wir nach zehn Minuten immer noch nicht fündig geworden sind, ist seine Geduld am Ende.

»Es reicht«, sagt er entnervt. »Von Sandleben …«

»Stopp«, schreie ich und Wilsberg legt eine Vollbremsung hin, sodass ich fast mit dem Kopf gegen die Windschutzscheibe knalle. »Da ist er. Hinter dem VW-Bus.«

Ich reiße die Tür auf, springe aus dem Auto und laufe zu dem Bus, der in der breiten, dunklen Einfahrt eines Mehrfamilienhauses geparkt ist. Und dann stehe ich vor dem Cayenne. In seiner ganzen Pracht und Herrlichkeit. Irgendjemand hat ihn passgenau hinter dem alten Bus geparkt, sodass er von der Straße aus kaum auffällt. Eins ist sicher, Cornfeld hat ihn hier garantiert nicht abgestellt.

Diesmal nähern wir uns Reichweilers Wochenenddomizil zu Fuß. Immer den Schutz von Hecken, Büschen und Bäumen nutzend. Ungesehen schaffen wir es bis zum Haus und drücken uns an der langen Seite der Außenmauer Richtung Garten entlang, bücken uns unter den Fenstern hinweg und hoffen, nicht von irgendwelchen Nachbarn entdeckt zu werden, die die Polizei rufen, weil sie uns für Einbrecher halten. Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, an der Rückfassade hoch in den ersten Stock zu gelangen, überlege ich. Oder wir finden einen Zugang zum Keller. Irgendwo müssen Cornfeld und Anna doch sein.

Wir kommen nicht weit. Vor uns taucht jemand auf. Im Gegenlicht der Gartenbeleuchtung zeichnet sich eine schwarze Silhouette ab. Irritiert blinzele ich und versuche, das Gesicht des Mannes zu erkennen, der sich da bedrohlich vor uns aufgebaut hat.

Als sich meine Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnt haben, kann ich nicht glauben, was ich sehe: Da steht Miguel. Der Miguel, der eigentlich mit schwersten inneren Verletzungen auf der Intensivstation des UKE liegen müsste.