18

Pia Petry isst eine Currywurst

»Das verstehe ich nicht«, sagt Wilsberg, als wir das Polizeipräsidium verlassen. »Wieso hat Reichweiler das gemacht?«

»Keine Ahnung. Vielleicht will er nicht, dass die Geschichte zu hoch gehängt wird. Vielleicht hat er Angst, wir könnten die Polizei rebellisch machen und gegen ihn aufhetzen.«

»Stand eigentlich was Interessantes im Obduktionsbericht?«, fragt er und presst sich den Handballen gegen die rötlich schimmernde Beule auf seiner Stirn.

»Weder konnte ich alles lesen noch habe ich alles verstanden. Aber zwei Sachen sind mir aufgefallen. Zum einen hat Lademann die Wahrheit gesagt: Isabel hat sich tatsächlich gewehrt. Zum anderen …«

Wilsberg sieht mich fragend an.

»… war Isabel schwanger.«

»Was?«

»Im dritten Monat.«

»Von Reichweiler?«

»Weiß ich nicht. Stand nicht drin.«

»Na ja. So ein DNA-Abgleich dauert«, sagt Wilsberg. »Falls Reichweiler überhaupt damit einverstanden ist. Er wird ja offiziell nicht …«

Sein letzter Satz geht im Lärm eines laut aufheulenden Motors unter. Ein dunkelgrüner MG fährt neben uns auf die Bordsteinkante. Die Tür schwingt auf und ein junger Mann mit dunklen Locken steigt aus.

»Hallo, Pia!«

»Florian!«, rufe ich erfreut. »Was machen Sie denn hier?«

Er nimmt mich in den Arm und küsst mich auf beide Wangen. »Ich habe Sie gerettet.«

»Gerettet?«

»Als ich hörte, was passiert ist, habe ich sofort Reichweiler angerufen und ihn gebeten, die Anzeige zurückzunehmen. Ich bin ein Held, finden Sie nicht?«

Wilsberg, der neben uns steht, beobachtet die Szene mit zusammengekniffenen Augen.

»Entschuldigung«, sage ich. »Ich habe Sie noch gar nicht vorgestellt: Das ist mein Kollege Georg Wilsberg. Florian von Sandleben.«

Die beiden Männer reichen sich die Hand. Von Sandleben mit freundlich neugierigem Gesichtsausdruck, Wilsberg mit der Ausstrahlung eines Bullterriers kurz vor dem Angriff.

»Haben Sie schon etwas gegessen?«, wendet sich von Sandleben an mich.

»Nein. Ich habe, ehrlich gesagt, gar keinen Hunger.«

»Ich habe auch keinen Hunger«, sagt Wilsberg knurrig.

Was von Sandleben nicht zu irritieren scheint. »Irgendetwas essen müssen Sie doch. Wie wäre es mit einer Currywurst?«

»Davon bekomme ich immer Sodbrennen«, antwortet Wilsberg und verzieht das Gesicht.

Von Sandleben greift nach meinem Arm und zieht mich zur Seite. »Ich muss mit Ihnen reden. Es ist dringend.«

Unsicher werfe ich einen Blick zu Wilsberg, der uns nicht aus den Augen lässt.

»Aber nur, wenn es schnell geht.«

»Das geht ganz schnell.«

»Ich muss weg«, teile ich daraufhin meinem Kollegen mit. »Ich melde mich morgen bei dir.«

Und schon dirigiert mich von Sandleben zu seinem Auto. Der Mann weiß, was er will.

 

Wenn ich erwartet habe, von Sandleben würde mich zu einem Imbiss schleppen, sehe ich mich getäuscht. Wir fahren in die Innenstadt, stellen den Oldtimer im Parkhaus Große Bleichen ab und gehen in ein Restaurant, das sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite befindet und Edelcurry heißt.

»Das hätte ich mir ja denken können«, sage ich, als wir das Lokal betreten, »dass Sie nicht zur nächsten Frittenbude fahren.«

»Es spricht überhaupt nichts gegen eine Frittenbude. Solange die Currywurst so hervorragend schmeckt wie hier und die Pommes selbst gemacht sind.«

Ich klettere auf einen der Barhocker, die um die hochbeinigen Tische gruppiert sind, und sehe mich in dem Lokal um. Die Frontseite ist fast bodentief verglast, die Wände sind in Dunkelgrün und Rot gehalten, die Tischplatten aus dunklem Holzlaminat. Alles sehr modern. Hinter der Theke befindet sich eine bestimmt drei Meter lange Edelstahl-Bratwand, in deren Pfanne eine Million Pommes frites aufgeschichtet liegen.

»Ist der Laden neu?«, frage ich und greife nach der Speisekarte.

Von Sandleben nickt. »Die haben erst kürzlich aufgemacht.«

»Essen scheint Ihnen wichtig zu sein«, sage ich. »Wenn ich mich an das opulente Dinner bei Ihnen erinnere.«

Er strahlt mich an. »Das stimmt. Ich liebe gutes Essen. Je ausgefallener, desto lieber. Im Sommer war ich bei Ferran Adrià in Spanien. Ich weiß nicht, ob Sie ihn kennen. Es ist Koch und durch seine experimentelle Lebensmittelverarbeitung weltberühmt geworden.«

»Ich habe von ihm gelesen«, sage ich. »Man muss ein Jahr im Voraus einen Tisch bestellen. Und bezahlt fast zweihundert Euro für ein Menü.«

»Aber es lohnt sich«, sagt von Sandleben. »Adrià ist ein Vertreter der sogenannten Molekularküche, er kreiert Speisen, die es eigentlich gar nicht gibt. Zum Beispiel befüllt er Salzstreuer mit duftendem Kunstnebel, würzt Gemüse-Gelatine-Streifen mit Holzkohlenöl, kreiert heißes Eis, formt Olivenöl zu Bonbons, füllt Tintenfisch mit einer Mischung aus Ingwer und Kokosnuss, serviert eine Mousse aus Muschelfleisch in einem Mantel von hauchdünnem Schweinefett und injiziert Eiern vor dem Kochen Kaviarpaste. «

»Ich weiß nicht«, sage ich. »Ist das nicht ein bisschen dekadent?«

»Das finde ich überhaupt nicht. Essen hat ganz viel mit Gewohnheiten und Bräuchen zu tun. So gibt es ja bekanntlich Volksgruppen, die würden nie im Leben Schweinefleisch essen. Und wir haben überhaupt kein Problem damit. Dafür mögen die meisten Deutschen kein Pferdefleisch. Obwohl das doch sehr schöne Tiere sind.«

»Vielleicht mögen sie es aus genau diesem Grund nicht«, sage ich und studiere jetzt doch lieber die angebotenen Wurstvariationen. Dann lege ich die Speisekarte beiseite und sehe von Sandleben direkt an. »Was ist denn jetzt so wichtig, dass Sie mich um elf Uhr abends unbedingt hierher schleppen mussten?«

Seine kindliche Begeisterung weicht einem ernsten, eher geschäftsmäßigen Gesichtsausdruck. »Warum haben Sie mich belogen?«

»Hab ich das?«

»Sie sind gar keine Journalistin. Sie sind Privatdetektivin.«

»Wissen Sie das von Reichweiler?«, frage ich.

Von Sandleben zuckt mit den Schultern. »Das ist doch jetzt egal. Also, warum haben Sie mich belogen?«

»Das gehört zum Geschäft.«

»So einfach ist das für Sie?«

»Klar. Wenn ich immer die Wahrheit sagen würde, könnte ich meine Aufträge nicht erfüllen.«

»Und um welchen Auftrag handelt es sich?«, fragt er.

»Ich recherchiere im Fall Isabel Ortega.«

»Wer ist Ihr Auftraggeber?«

»Über meine Kunden rede ich generell nicht.«

Mit erwartungsvoller Miene baut sich eine Kellnerin in weißer Bluse, Jeans und langer schwarzer Schürze vor uns auf.

Ich bestelle eine Apfelsaftschorle und eine Currywurst fruchtig, mit einer normalen Portion Pommes und Mayo. Von Sandleben nimmt eine Weinschorle und die klassische Currywurst mit Brot.

Danach schenkt er mir wieder seine volle Aufmerksamkeit. »Haben Sie denn schon etwas herausgefunden?«

»Wieso interessiert Sie das?«, frage ich.

»Weil es Sie interessiert. Weil es Sie beschäftigt. Und weil ich Ihnen nahe sein möchte.«

»Und das ist der einzige Grund?«

Die Bedienung bringt unsere Getränke und stellt die beiden Gläser vor uns ab.

»Flirten Sie eigentlich nie?«, fragt er.

Einen Moment bringt er mich aus der Fassung.

»Ich bin nicht besonders gut im Flirten«, gebe ich zu.

»Ich mag Sie«, sagt er. »Finden Sie das schlimm?«

»Haben Sie einen Mutterkomplex?«, rutscht es mir raus. »Ich bin über vierzig.«

»Na und. Ich bin neunundzwanzig. Und ich finde, wir sollten uns nicht gegenseitig diskriminieren.«

»Bei einem solchen Altersunterschied kapituliere ich normalerweise«, erwidere ich und muss an Cornfeld denken, den ich mir genau aus diesem Grund schon seit Ewigkeiten vom Leib halte.

»Eine Differenz von bis zu zehn Jahren finde ich völlig okay«, sagt von Sandleben. »Schließlich leben Frauen sieben Jahre länger als Männer. So kann ich noch drei Jahre nach Ihrem Ableben auf den Putz zu hauen.«

»Das können Sie nicht«, erwidere ich. »Wenn Sie mit mir alt werden, haben Sie nach meinem Tod keine drei Jahre mehr. Da ist Ihr Akku längst leer.«

Von Sandleben lacht und fährt sich mit der Hand durch sein dichtes dunkles Haar. »Auch das schreckt mich nicht.«

Gott sei Dank unterbricht uns die Kellnerin, bevor er mich noch weiter in Verlegenheit bringen kann, und stellt zwei Teller mit herrlich duftenden Currywürsten vor uns ab.

Ich lege mir die Serviette auf die Beine und greife nach dem Besteck. »Es gibt noch ein Problem«, sage ich. »Ich muss manchmal lügen. Diese Ausrede haben Sie nicht.«

Das Lächeln auf seinem Gesicht erstirbt. »Wie meinen Sie das?«

Ich lege das Besteck beiseite, krame das fotokopierte Bild von Isabel und Reichweiler aus meiner Tasche und lege es neben seinen Teller.

»Noch einmal von vorne. Kennen Sie diese Frau?«

Er schüttelt den Kopf.

»Noch nie gesehen?«, hake ich nach.

»Nein. Mein Ehrenwort.«

»Wie kommt es dann, dass ich den Ohrring dieser Frau«, dabei klopfe ich mit dem Zeigefinger auf das Bild, »in Ihrem Haus gefunden habe?«

»In meinem Haus?«

»Im Abfluss des Waschbeckens auf der Damentoilette.«

»Warum erzählen Sie mir das erst jetzt?«

»Seien Sie froh, dass ich es Ihnen überhaupt erzähle.«

»Das verstehe ich nicht«, erwidert er und wirkt tatsächlich verunsichert. »Das verstehe ich wirklich nicht. Ich habe diese Frau noch nie gesehen.«

»Und wie kommt dann ihr Ohrring in Ihren Waschraum?«

Von Sandleben starrt vor sich auf den Tisch und schüttelt den Kopf. »Keine Ahnung.«

»Wer hat noch Zutritt zu Ihrem Haus?«

»Meine Haushälterin, mein Gärtner …«

»Freunde?«, frage ich. »Laden Sie oft Gäste ein?«

»Hin und wieder.«

»Was ist mit diesen Zauberfreunden, von denen Sie mir erzählt haben?«

Er greift erneut nach der Fotokopie. »Wir treffen uns nicht bei mir. Das haben wir noch nie getan.«

»Haben Sie irgendeine Idee, wie …«

»Ja«, sagt er, »vielleicht. Es gibt jemanden, der einen Schlüssel hat.«

In dem Moment fällt bei mir der Groschen. »Das ist Reichweiler, nicht wahr?«

»Ja. Wir sind nicht nur im selben Club, sondern schon lange sehr eng befreundet. Und da ich häufiger unterwegs bin, habe ich ihm meinen Hausschlüssel gegeben. Falls mal ein Wasserrohr bricht oder irgendetwas anderes passiert.«

»Kann es sein, dass Isabel Ortega im Hanse-Theater gearbeitet hat? Vielleicht sogar als Assistentin für die Mitglieder der Zauberloge?«, will ich wissen.

Er legt die Stirn in Falten. »Also das weiß ich nicht. Die Frauen, die da beschäftigt werden, treten unter einem Künstlernamen auf, sind meistens stark geschminkt und einige tragen auch Perücken. Ich kenne nicht alle …«

Er zieht einen Kugelschreiber aus seiner Jackeninnentasche. »Darf ich?«, fragt er, und bevor ich reagieren kann, beginnt er, Isabel auf dem Foto eine neue Frisur zu verpassen. Er malt ihr lange schwarze Haare.

»Wer besorgt diese Assistentinnen?«

»Reichweiler.«

»Und wie macht er das? Gibt er eine Anzeige im Hamburger Abendblatt auf?«

»Nein. Das geht über Mundpropaganda.«

»Dann wäre es doch gut möglich, dass er Isabel engagiert hat. Schließlich waren die beiden liiert.«

»Waren sie das?«, fragt er.

»Vielleicht waren Sie ja auch mit Isabel liiert?«, erwidere ich.

Von Sandleben lächelt kühl. »Da muss ich Sie enttäuschen. Ich kannte die Frau ja noch nicht einmal.« Prüfend hält er das Bild von sich weg und betrachtet sein Werk mit zusammengezogenen Augenbrauen.

»Geht es bei diesen Treffen wirklich nur ums Zaubern?«, frage ich. »Oder spielen auch sexuelle Interessen eine Rolle? Erst wird gezaubert und dann – na, Sie wissen schon.«

Von Sandleben schüttelt langsam den Kopf. »Also, bei uns geht es wirklich nur um die Magie. Ich kann natürlich nicht ausschließen, dass auch mal Telefonnummern getauscht werden und das eine oder andere Mitglied unseres Clubs eine der jungen Damen privat trifft. Aber das wäre dann eher die Ausnahme.« Er tippt auf das übermalte Bild. »Es kann sein, dass sie in unserem Club gearbeitet hat. Das würde ich nicht mehr ausschließen. Aber sicher bin ich mir nicht.«

»Wissen Sie etwas über women’s help?«, frage ich unvermittelt.

»Die Hilfsorganisation von Frau Reichweiler?«

Ich nicke.

»Nicht viel. Außer, dass sie junge Prostituierte unterstützt und ihnen beim Ausstieg hilft.«

»Sind je Frauen, die durch diesen Verein nach Deutschland gekommen sind, als Assistentinnen in Ihrem Zauberclub eingestellt worden?«

»Das kann ich mir nicht vorstellen«, sagt er. »Wie kommen Sie darauf?«

»War nur so eine Idee«, wiegele ich ab. »Wussten Sie«, sage ich und nehme ihm die Aufnahme aus der Hand, »dass Isabel schwanger war?«

»Nein.«

Sein Gesichtsausdruck bleibt unverändert. Die Information scheint keinerlei Gefühlsregung in ihm auszulösen.

»Nehmen wir mal an, Isabel hatte vielleicht nicht nur mit Reichweiler, sondern auch noch mit einem der anderen Zauberlehrlinge ein Verhältnis, mit jemandem, der verheiratet ist und eine Menge zu verlieren hat. So jemandem käme Isabels Tod doch sehr gelegen.«

»Keiner unserer Clubmitglieder würde so etwas tun. Da bin ich mir ganz sicher«, antwortet von Sandleben mit einer Schärfe in der Stimme, die ich nicht von ihm gewohnt bin. Anscheinend habe ich am Zauberer-Ehrenkodex gekratzt.

»Okay«, sage ich. »Dann verraten Sie mir wenigstens, wer diese Clubmitglieder sind. Wie heißen sie?«

»Houdini, Kellar, Dante, Goldin, Chung Ling Soo, Kalanag …«

»Ich wüsste gern die richtigen Namen.«

»Das geht nicht. Die sind geheim.«

Mit besorgter Miene kommt die Kellnerin an unseren Tisch. »Schmeckt es Ihnen nicht?«, fragt sie und deutet auf die unberührten Speisen.

»Doch, doch«, sage ich. »Vor lauter Reden haben wir ganz das Essen vergessen.«

Ich greife erneut nach Messer und Gabel und säbele ein Stück von der abgekühlten Wurst ab. »Dann wissen Sie wahrscheinlich auch nicht, wie der ominöse Cagliostro im wahren Leben heißt?«

»Keine Ahnung«, sagt von Sandleben und beobachtet mich, wie ich ein Stück Wurst zum Mund führe und anfange zu kauen.

»Schmeckt es Ihnen?«

»Lecker!«

»Wissen Sie eigentlich, was ein Metzger so alles in eine Currywurst hineintut?«

»Nein«, sage ich. »Ich will es auch gar nicht wissen.«

Doch das hält von Sandleben nicht davon ab, ins Detail zu gehen. Und es dauert nicht lange und ich schiebe den Teller von mir.