21
Wilsberg hat einen Anruf frei
Der Gedanke, Anna in die Höhle des Löwen zu schicken, behagte mir überhaupt nicht. Dass Cornfeld sich bereit erklärt hatte, ihre Leibwache zu spielen, war keine große Beruhigung. Was konnte Pias smarter Assistent schon ausrichten, wenn es wirklich ernst wurde? Doch Anna und Pia hatten sich durchgesetzt und meine Bedenken beiseite gewischt. Falls es brenzlig werden würde, konnten wir allerdings immer noch die Polizei rufen. Zumindest in diesem Punkt waren wir halbwegs auf der sicheren Seite. Denn die Davidwache befand sich, wie ich ja mittlerweile aus eigener Erfahrung wusste, nicht weit vom Hanse-Theater entfernt.
Nach unserer Besprechung und einem schnellen Mittagessen war ich in mein Hotel zurückgekehrt, um das Schlafdefizit der letzten Nacht auszugleichen und am Abend fit zu sein. Es blieb beim Versuch. Sobald ich im Bett lag und die Augen schloss, drehten sich meine Gedanken im Kreis und produzierten ein Horrorszenario nach dem anderen. Das, was mit Kemmer passiert war, hatte mir einen ziemlichen Schrecken eingejagt. Wer so etwas machte, würde nicht zögern, einen weiteren Mord zu begehen. Und Anna vertraute vielleicht zu sehr auf das Funkgerät, das sie am Leib trug.
Der Klingelton meines Handys beendete den Gedankengang.
»Hast du eine Ahnung, wo sich Anna Ortega aufhält?«, fragte Hauptkommissar Stürzenbecher.
»Warum willst du das wissen?«
»Ich habe noch ein paar Fragen an sie.«
»Das heißt, ihr habt die Ermittlungen nicht eingestellt?«
»Scharf kombiniert, Wilsberg. Einige Künstler und Bühnenarbeiter des Varietés haben ausgesagt, dass Stefan Hubertus am Abend vor seinem Auftritt ungewöhnlich nervös und fahrig war. Fast so, als habe er Angst gehabt. Außerdem hatte Hubertus seinen Agenten angewiesen, das nächste Engagement abzusagen, er sei ausgebrannt und brauche dringend einen Urlaub.« Stürzenbecher machte eine erwartungsvolle Pause, doch ich verzichtete darauf, ihm eine Erklärung anzubieten.
»Was ist mit der Pistole?«, fragte ich.
»Irgendein Depp vom LKA hat beim Auseinandernehmen einen Fehler gemacht und sie können das Teil nicht mehr zusammenbauen. Jetzt müssen sie einen Mitarbeiter der Herstellerfirma kommen lassen. Das dauert also noch eine Weile.« Stürzenbecher hustete. »Ehrlich gesagt, Wilsberg, tendiere ich dazu, die Unfallthese fallen zu lassen. Du weißt, was das bedeutet.«
»Ich würde dir ja gerne helfen, aber ich habe Anna Ortega seit längerer Zeit nicht mehr gesehen.«
»Das habe ich befürchtet«, sagte Stürzenbecher und beendete das Gespräch.
Da an Schlaf nun erst recht nicht mehr zu denken war, quälte ich mich aus dem Bett und schleppte mich ins Badezimmer. Eine kalte Dusche wirkte manchmal Wunder.
In dem Moment, in dem ich den Regler aufdrehte, klopfte es an der Zimmertür. Wahrscheinlich Daniela Hansen, die mich wegen der verschmähten Frühstücke zur Rede stellen wollte. Oder wegen meiner ungewöhnlichen Schlafzeiten. Vielleicht wollte sie auch einfach nur mal wieder mit mir plaudern.
Mit umgebundenem Handtuch stapfte ich durchs Zimmer. Es klopfte erneut, diesmal heftiger.
»Komme ja schon.« Ich riss die Tür auf.
Lademann und Petersen, ein paar Meter dahinter, mit vorwurfsvoller Miene, Daniela Hansen.
Lademann machte einen Schritt nach vorn, damit ich die Tür nicht zuschlagen konnte. »Wir dürfen doch reinkommen?«
»Sie sind schon drin«, sagte ich und drehte mich um. »Hat sich Reichweiler die Sache noch mal überlegt und einen Rückzieher vom Rückzieher gemacht?«
»Es geht nicht um Reichweiler.«
»Nein? Weswegen sind Sie dann hier?«
»Wegen Herbert Kemmer.«
Ich ließ mir nichts anmerken. »Wer ist das?«
»Der Besitzer des Zauberkastens, gleich hier um die Ecke. Sie haben ihn besucht, Herr Wilsberg, erinnern Sie sich?«
»Ach der!« Ich bemühte mich immer noch, möglichst gleichmütig zu klingen. »Ich kannte ihn als Jason Sinclair. Er war der Lehrer von Stefan Hubertus alias Stefano Monetti, Sie wissen schon, der Magier, der in Münster ums Leben kam. Was ist mit Kemmer?«
»Er ist ermordet worden. Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?«, fragte Lademann.
»Gestern. Gestern Morgen. Er hat in einem Café am Hansaplatz gefrühstückt und wir sind zusammen zu seinem Laden gegangen.«
»Danach nicht mehr?«
»Nein«, sagte ich und schüttelte nachdrücklich den Kopf.
»Nicht vielleicht heute Morgen? In der Frühe?«
Mein Nacken wurde steif und ich fröstelte. Die eisblauen Augen des Hauptkommissars spießten mich auf.
»Da habe ich geschlafen«, sagte ich. »Tief und fest.«
»Sind Sie sich sicher?«
Für sein überlegenes Grinsen konnte es nur einen Grund geben: Jemand hatte mich vor oder im Zauberkasten gesehen. Weiter zu leugnen, war also sinnlos.
»Na schön, ich war in Kemmers Laden.«
»Aha. Und weiter?«
»Nichts weiter. Er ist nicht erschienen und ich bin wieder gegangen.«
»Sie haben sich nicht ein bisschen umgesehen, zum Beispiel im Hinterraum des Ladens, dort, wo Kemmer seine Bühnenrequisiten aufgebaut hat?«
»Nein.«
Lademann zog ein Foto aus der Innentasche seiner Jacke. Es zeigte die zersägte Jungfrau mit Säge und Blutlache. Aber ohne Leiche.
Ich setzte ein Pokerface auf, um meine Verwirrung zu verbergen. »Mehr haben Sie nicht?«
Der Hauptkommissar rieb seine Nase. »Was haben Sie erwartet?«
»Eine Leiche. Haben Sie nicht von Mord gesprochen. Das hier«, ich tippte auf das Foto, »könnte auch Theaterblut sein.«
»Ist es aber nicht. Blut und Gewebereste, sowohl an der Säge wie auf dem Boden, stammen zweifelsfrei von Kemmer, wie unsere Laboruntersuchung ergeben hat. Kemmer kann das unmöglich überlebt haben. Woraus ich schließe, dass der Mörder die Leiche beseitigt hat.«
»Hmm.« Ich setzte mich auf mein Bett. »Da stehen Sie vor einem Problem. Oder hat jemand beobachtet, wie ich diesen Zwei-Zentner-Mann aus dem Laden getragen habe?«
Petersen gab einen empörten Laut von sich.
»Noch mal von vorne.« Lademann baute sich vor mir auf. »Wieso sind Sie zu dem Laden gegangen?«
»Kemmer und ich waren verabredet«, sagte ich. »Er wollte sich umhören. Wegen der Zaubererloge.«
»Und das wurde ihm zum Verhängnis?« Blanke Ironie.
»Sieht so aus.«
»Hören Sie auf, die Unschuld vom Land zu spielen, Wilsberg! Für die Rolle haben Sie ein zu langes Vorstrafenregister.«
»Das liegt so weit zurück, dass ich selbst mich nicht mehr daran erinnern kann.«
»Ich habe mit Münster geredet. Mit einem Kollegen namens Stürzenbecher. Scheint einen Narren an Ihnen gefressen zu haben.« Lademann schaute mich kurz an, als erwartete er einen Kommentar. »Stürzenbecher hat sich klar geäußert. Im Fall Hubertus ist nur eine Person als Täterin verdächtig. Hubertus’ Partnerin auf der Bühne, Anna Ortega. Wer, sagten Sie, ist Ihr Auftraggeber?«
»Ich sagte gar nichts.«
»Anna Ortega hat die gleiche Hautfarbe wie ihre Schwester, nehme ich an.«
Langsam wurde mir klar, worauf er hinauswollte. Der Zeuge, der sich an die Polizei gewandt hatte, hatte nicht nur mich, sondern auch Anna beschrieben.
»Spielt Hautfarbe für Sie eine besondere Rolle, Herr Hauptkommissar?«
Lademanns Augen verengten sich. »Wo befindet sich Anna Ortega im Moment?«
»Keine Ahnung. Fragen Sie sie doch selbst!«
»Das würden wir ja gerne. Aber sie ist ohne Angabe eines Ziels aus Münster abgereist.«
Ich zuckte mit den Schultern.
Lademanns Gesicht blieb ausdruckslos. »Ziehen Sie sich etwas an!«
»Und dann?«
»Fahren wir zum Präsidium.«
»Haben Sie einen Haftbefehl?«
»Den brauche ich nicht.«
Das fehlte mir gerade noch, dass mich Lademann einkassierte. Und Pia, Anna und Cornfeld die Sache womöglich allein durchzogen. Ich musste die drei stoppen, und zwar sofort.
»Muss mal telefonieren«, sagte ich und griff zu dem Handy, das auf dem Nachttisch lag.
»Mit wem?«
»Mit meiner Anwältin.«
»Das können Sie später, im Präsidium.«
»Verdammt noch mal!«, fuhr ich ihn an. »Sie haben kein Recht …«
»Geschenkt.« Lademann streckte seine Hand aus. »Geben Sie mir das Gerät!«
Ich drückte auf die Taste mit dem roten Telefon, bis sich das Display verabschiedete. Ohne PIN-Code würde er nicht so schnell an die gespeicherten Telefonnummern herankommen.
Der Hauptkommissar steckte das Handy in seine Jackentasche. »Und jetzt sollten Sie sich anziehen. Sonst nehmen wir Sie im Handtuch mit.«