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Wilsberg fährt nach Hamburg

Am Hamburger Hauptbahnhof stieg ich aus dem Intercity. In den Zeiten, in denen ich Pia Petry besucht hatte, war ich noch eine Station weiter, bis zum Bahnhof Dammtor gefahren. Während der Zugfahrt hatte ich überlegt, ob ich sie vor oder erst nach dem Besuch bei Jason Sinclair anrufen sollte. Ein Funkloch hatte mir beim ersten Versuch die Entscheidung abgenommen.

Sinclairs Zauberladen befand sich im Stadtteil Sankt Georg, auf der Ostseite des Hauptbahnhofs. In derselben Straße, der Langen Reihe, hatte ich im Internet ein kleines, nicht allzu teures Hotel entdeckt und ein Zimmer gebucht. Das Hotel hieß wie seine Besitzerin: Daniela Hansen. Frau Hansen hatte sich per E-Mail bei mir gemeldet und mich gebeten, meine genaue Ankunftszeit anzugeben, da die Rezeption nicht ständig besetzt sei.

Mit umgehängter Reisetasche schlenderte ich die Lange Reihe entlang, vorbei an kleinen Cafés und Restaurants, die ebenso bunt und exotisch waren wie die Läden, in denen indischer Nippes oder vergriffene Bücher verkauft wurden. Der Eingang zum Hotel Hansen lag zwischen einem Dessous-Geschäft und einem Zeitschriftenladen. Ich klingelte und las, während ich wartete, die Überschriften der Lokalzeitungen, die im Ständer steckten: Am Vortag war eine Latina ermordet worden und ein Geistesgestörter hatte sich in einer Kindertagesstätte verschanzt. Großstadt eben.

Der Türöffner brummte. Begleitet von klassischer Musik schritt ich die Treppe zum ersten Stock hinauf, wo mich Daniela Hansen in einem Wohnzimmer erwartete, das gleichzeitig als Empfang diente. Trotz daumendicker Brillengläser, die ihre Augen grotesk vergrößerten, blickte sie wie eine Blinde durch mich hindurch. Erst als ich meinen Namen sagte, wich die Unsicherheit einem geschäftsmäßigen Gesichtsausdruck.

»Wir haben Sie früher erwartet.«

»Aber ich habe Ihnen geschrieben, wann ich komme.«

»Zum Glück war ich ja da.« Sie tastete auf einer Ablage nach einem Schlüsselbund. »Ihr Zimmer ist gleich auf der anderen Flurseite. Achten Sie darauf, dass die Haustür verschlossen ist, wenn Sie weggehen!«

Ich versprach, daran zu denken, und nahm den Schlüsselbund aus einer Hand entgegen, die wie manches andere an Daniela Hansen darauf hindeutete, dass sie nicht ihr ganzes Leben lang eine Frau gewesen war.

Mein Zimmer war ähnlich wie der Empfang im Stil der Fünfzigerjahre eingerichtet, mit breitem Bett, Nierentisch, Sofa und Glastürenkleiderschrank. Für anheimelnde Atmosphäre sorgten hellbraune, grobe Holzdielen. Ich stellte die Reisetasche ab, ließ mich auf das Bett fallen und schloss die Augen. Durch die hohen Doppelfenster drang der Straßenlärm in den Raum.

Anna Ortega hatte mir nicht viel mehr über Jason Sinclair erzählen können, nicht einmal seinen bürgerlichen Namen kannte sie. Überhaupt hatte sie kaum noch geredet, nachdem die mehrstündige Vernehmung im münsterschen Polizeipräsidium vorüber gewesen war. Da mich Stürzenbecher gleich nach der Begrüßung wieder hinausgeschickt hatte, bekam ich von ihrer Aussage nichts mit. Während ich auf einer unbequemen Bank vor seinem Büro wartete, vertrieb ich mir die Zeit mit der Frage, in welches Restaurant ich Anna anschließend ausführen sollte. Eine Idee, die sie mit einem müden Lächeln beiseite gewischt hatte. »Ich kann nicht mehr, Georg. Ich bin fertig. Ich muss allein sein.«

Natürlich zeigte ich Verständnis, lächelte freundlich, als ich mich vor ihrem Hotel von ihr verabschiedete, und fuhr anschließend frustriert nach Hause.

Doch der Abend hatte noch ein positives Ende genommen. Sarah war wach gewesen und in der Lage zu telefonieren. Hinter der geschlossenen Tür ihres Kinderzimmers gestand sie, dass nicht der Tod Monettis, sondern mangelnde Vorbereitung den Kopfschmerz-und Übelkeitsanfall vor der Mathearbeit ausgelöst hatte. Davon dürfe Mama aber nichts erfahren. Mama glaube mir sowieso kein Wort, versicherte ich, schon gar nicht, wenn ich versehentlich die Wahrheit sagte.

Und jetzt war ich also in Hamburg, auf der Suche nach einem Mörder, den es vermutlich gar nicht gab, weil es sich bei dem Mord um einen Unfall gehandelt hatte. Im Auftrag einer Frau, der bald aufgehen würde, dass sich mit ihrem Geld Sinnvolleres anstellen ließe, als einen Privatdetektiv zu bezahlen.

Da daran im Moment nichts zu ändern war, konnte ich genauso gut meinen Job erledigen. Ich stand auf, schlüpfte in meine Schuhe, verließ das Zimmer, ging umweht von klassischer Musik die Treppe hinunter und achtete darauf, dass die Haustür hinter mir ins Schloss fiel.

Der Zauberkasten, Jason Sinclairs Laden, befand sich weniger als hundert Meter vom Hotel entfernt. Ich musste ein paar Stufen ins Souterrain hinabsteigen und gelangte in einen relativ kleinen, mit allem möglichen Krimskram vollgestellten Verkaufsraum. Neben Partyartikeln wie Gummimasken, blutigen Fingerverbänden mit Stahlnägeln und aufklebbaren Stichwunden gab es kitschige Andenken in Form von Schneekugeln oder Melodien leiernden Karussells. Mit Zauberei hatte das Ganze wenig zu tun, was die Gruppe japanischer Teenager, die sich gerade mit klimperndem Holzspielzeug eindeckte, nicht zu stören schien.

Ich wartete, bis die Japaner bezahlt hatten, und wandte mich dann an die junge Frau, die hinter der Holztheke auf einem Hocker saß und die Kasse bewachte.

»Ich suche Jason Sinclair. Ist er da?«

»Jason Sinclair?« Ihre Augenbrauen formten ein irritiertes Dreieck. »Wer soll das sein?«

»Der Besitzer. Sinclair ist sein Künstlername.«

»Herrn Kemmer meinen Sie?«

»Schon möglich. Falls er früher als Magier aufgetreten ist.«

»Ich arbeite hier nur als Aushilfe. Woher soll ich wissen, was Herr Kemmer früher gemacht hat.« Sie griff zu einem Telefon und drückte eine Taste. »Herr Kemmer! Hier ist jemand, der Sie sprechen möchte.«

»Gehen Sie da entlang!« Ihre ausgestreckte Hand wies auf einen schmalen Gang. »Er wird gleich kommen.«

Der Gang mündete in einen größeren Raum, der erheblich nüchterner gestaltet war als der erste. An einer der Längsseiten standen Regale, die ausschließlich Bücher über Zauberei enthielten, das übrige Inventar verbarg sich in großen Schränken, auf denen mit Hand beschriftete Karten klebten, die Kartentricks, Close-up und Mentalmagie verhießen.

Aus einem weiteren Gang, der in den nächsten Raum führte, kam mir ein etwa siebzigjähriger Mann entgegen. Kemmer alias Sinclair war eine eindrucksvolle Erscheinung, groß gewachsen, mit breiten Schultern, auf denen ein kugelförmiger Kopf saß, der von einem weißen Seemannsbart umrahmt wurde. Weitaus mehr als der Vorstellung von einem Magier entsprach Kemmer dem Klischee eines raubeinigen Seebären.

Eine große Pranke quetschte meine Hand. »Kemmer. Was kann ich für Sie tun?«

»Ich suche Zauberei-Equipment.«

»An was haben Sie gedacht?« Er machte eine Bewegung zu den Schränken. »Hier habe ich kleinere Sachen, geeignet für Tischmagie und Gruppen bis zu fünfzig Personen. Oder soll es die Bühnenshow sein?«

»Warum nicht?«

Seine Augen blitzten spöttisch. »Hauptsache, Sie sind zahlungsfähig.«

»Kein Problem.«

»Wie Sie meinen. Hier lang!«

Der dritte Raum, hinter einem Vorhang verborgen, war noch größer als der zweite. Mit schwarzen Wänden und in allen Regenbogenfarben schillerndem Licht, dessen Quellen hinter seitlichen Blenden versteckt waren. Leise Gitarrenmusik sickerte von der Decke herab.

»Mein Showroom«, sagte Kemmer. »Ohne Bühnenatmosphäre funktioniert keine Großillusion.«

Auf einem fahrbaren Tisch in der Mitte des Raums stand eine Holzkiste, ähnlich der, die Monetti bei seiner Vorstellung in Münster verwendet hatte, um Anna zu halbieren. Auch Stühle wie die, über denen die Kubanerin geschwebt hatte, waren in einer Ecke zu sehen.

»Was kostet so etwas?« Ich zeigte auf die Kiste.

»Die zersägte Jungfrau? Das Grundmodell um die zweitausend. Ich arbeite mit einem Schreiner zusammen, der mehrere Varianten fertigt. Seine Frau ist eine talentierte Malerin, die die Außenseite nach Ihren speziellen Vorstellungen gestaltet. Eine einfache Levitation …«, er nickte zu den Stühlen, »… habe ich ab tausendeinhundert Euro im Angebot.«

Ich machte einen Schritt in den Raum hinein.

»Stopp!« Der alte Mann hielt mich fest. »Ich verkaufe Zaubertricks, ich verrate keine. Die Kiste dürfen Sie sich erst angucken, nachdem Sie einen Vertrag unterschrieben haben.«

»Eigentlich interessiere ich mich mehr für den Kugeltrick. Sie wissen schon, bei dem man eine Kugel scheinbar mit den Zähnen auffängt. Was können Sie mir da empfehlen?«

Sein Gesicht wurde finster. »Solche Pistolen führe ich nicht.«

»Warum nicht?«

»Weil sie zu gefährlich sind«, stieß Kemmer schroff hervor. »Außerdem braucht man dafür einen Waffenschein. Haben Sie einen?«

»Nein«, gab ich zu. »Ich dachte, das Projektil, das abgefeuert wird und die Glasscheibe durchschlägt, ist aus Wachs.«

»Natürlich. Aber man kann mit so einer Pistole auch echte Munition verschießen. Was schon mehr als einmal passiert ist.«

»Wie neulich in Münster«, nickte ich. »Da ist doch ein Magier gestorben. Wie hieß er noch gleich?«

»Stefano Monetti«, sagte Kemmer und schaute über mich hinweg zur Wand.

»Kannten Sie ihn?«

»Flüchtig.«

»Komisch. Ich habe gehört, dass er bei Ihnen sein Handwerk gelernt hat.«

Trotz der schummrigen Beleuchtung sah ich, dass sein Gesicht bleich wurde. »Wer sagt das?«

»Seine Partnerin. Anna Ortega.«

Die Kiefer des alten Mannes mahlten. »Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir?«

»Frau Ortega glaubt, dass ihr Mann ermordet worden ist.«

»Unsinn«, sagte er ärgerlich. »Ich habe nie etwas von dem Kugeltrick gehalten und Stefan davon abgeraten. Nur um des Effektes willen sollte man kein unnötiges Risiko eingehen. Aber Mord? Wer sollte Stefan ermorden? Und weshalb?«

»Das frage ich Sie. Was hat Monetti hier in Hamburg gemacht? Wem hat er hier Privatunterricht gegeben?«

Der Magier blinzelte. »Keine Ahnung«, log er wenig überzeugend. »Ich weiß nichts von irgendwelchen Zauberseminaren.«

»Kommen Sie! Er soll seinem alten Lehrer nichts davon erzählt haben? Bestimmt ist er bei Ihnen aufgekreuzt, wenn er in Hamburg war.«

»Und wenn schon! Was geht Sie das an?«

»Anna möchte, dass ich Monettis Tod untersuche. Sie wird keine Ruhe geben, bis sie erfahren hat, was hier vorgefallen ist.«

»Anna?« Kemmer verzog verächtlich den Mund. »Sind Sie scharf auf sie? Können Sie es nicht mal abwarten, bis ihr Mann unter der Erde ist?«

»Ich bin Privatdetektiv. Anna meint, Monetti hätte Ihnen am Herzen gelegen. Aber vielleicht irrt sie sich auch und sein Tod ist Ihnen egal?«

Der alte Mann wandte sich ab und ging in den zweiten Raum zurück. Als ich schon dachte, er würde mich einfach stehen lassen, begann er zu reden: »Stefan durfte nicht darüber sprechen. Er hatte unterschrieben, gegenüber Dritten Stillschweigen zu wahren. Und daran hat er sich gehalten.«

Fast die gleichen Worte, die Anna gewählt hatte. Nur dass ich Kemmer weniger Glauben schenkte als ihr. »Sie sind Insider«, sagte ich, während ich ihm folgte. »Eine Gruppe reicher Leute, die regelmäßig einen Magier engagiert, dürfte Ihnen nicht verborgen bleiben. Ich schätze, einige von Monettis Schülern sind auch Ihre Kunden.«

Er blieb abrupt stehen und starrte mich an. »Selbst wenn ich eine Ahnung hätte, wer diese Leute sind, würde ich Ihnen keine Namen nennen.«

»Wovor haben Sie Angst?«

»Im Moment habe ich davor Angst, dass Sie mir weiter auf die Nerven gehen.«

»War Stefan nach seinem letzten Auftritt bei Ihnen?«, fragte ich.

»Ja.«

»Und wie wirkte er?«

»So wie immer.«

»Kein Wort darüber, dass er Probleme hatte?«

»Nein. Wirklich nicht. Bestellen Sie Anna mein Beileid! Nein, lassen Sie es! Ich werde sie selbst anrufen. Und gehen Sie endlich!«

 

Ich ging. Quer über die Straße in ein Café. Um darüber nachzudenken, was ich Anna vorschlagen sollte: weitermachen und versuchen, den mysteriösen Auftraggeber Monettis zu finden, oder abbrechen und ruhmlos nach Münster zurückkehren.

Als ich mich an einen Tisch setzte und mich umblickte, merkte ich, dass ich kein ganz gewöhnliches Café gewählt hatte. Zwischen lauter Schwulen-und Lesbenpaaren sowie Magazine lesenden Männern, die mir interessierte Blicke zuwarfen, kam ich mir als Heterosexueller ein wenig verloren vor. Verunsichert schnappte ich, nachdem ich bei einem freundlichen Kellner einen Milchkaffee bestellt hatte, nach einer Zeitung, die ich als Deckung benutzen konnte. Es war ein Boulevardblatt, das den Tod der schönen Salsa-Tänzerin in Buchstaben verkündete, die auch Daniela Hansen hätte lesen können. Beim Anblick des dazugehörigen Fotos stockte mir der Atem. Isabel Ortega, das Mordopfer, trug nicht nur denselben Nachnamen wie Anna, sondern hatte auch eine gewisse Ähnlichkeit mit ihr.