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Wilsberg verschwindet

Während wir vor dem Gebäude der Northsea Shipping GmbH standen und auf das Taxi warteten, dachte ich darüber nach, wie unsere bisherigen Erkenntnisse zusammenpassten, wer wen aus welchem Grund ermordet hatte. In dem Puzzle fehlten noch eine Menge Teilchen.

»Eines scheint jedenfalls klar«, sagte ich. »Miguel hat Isabel ermordet.«

»Hast du nicht gehört, was Anna gesagt hat?«, meinte Pia. »Sie kann sich genauso wenig wie ich vorstellen, dass Miguel ein Mörder ist.«

»Die Polizei hat Miguels DNS an Isabels Leiche identifiziert. Er muss es gewesen sein.«

Pia guckte mich überrascht an. »Seit wann weißt du das?«

»Seit gestern. Petersen hat es mir erzählt.«

»Und das sagst du erst jetzt?«

»Ich wollte es ja …«

»Aber?«

»Aber dann hast du mich aus deiner Wohnung geworfen. Erinnerst du dich?«

»Das ist wohl ein Witz, Georg?« Sie schnaubte. »Nun mach mal halblang, Pia! Du hast mir einige Informationen bewusst vorenthalten. Ich habe das in dem Trubel schlicht vergessen.«

Sie holte tief Luft.

Ich wartete auf eine neue Attacke.

Stattdessen sagte sie in ruhigem Ton: »Vielleicht wollte ich es die ganze Zeit nicht wahrhaben. Miguel war in Isabel verliebt. Dann erfährt er, dass sie eine Affäre mit Reichweiler hat. Er geht wütend zu ihr. Der Streit eskaliert, Miguel dreht durch und bringt Isabel um. Das erklärt auch, warum das Foto von Isabel und Reichweiler unter dem Bett lag.«

»Die Tat eines enttäuschten Liebhabers«, stimmte ich zu. »Komisch ist nur, dass der Mord exakt zu dem Zeitpunkt passierte, der Reichweiler sehr gelegen kam. Denn nachdem Rosenberg erfahren hatte, dass Isabel lebt, war die Erpressung erst einmal hinfällig. Was sich in dem Moment änderte, in dem Isabel tatsächlich starb.«

»Könnte jemand Miguel einen Tipp gegeben haben?«, schlug Pia vor.

»Du meinst Reichweiler selbst? Das wäre sehr perfide. Lässt die eigene Geliebte vom Nebenbuhler beseitigen, weil ihm das geschäftlich in den Kram passt.«

»Hast du eine bessere Erklärung?«

»Nein. Denn das Gleiche gilt für Monetti und Kemmer. Monetti wusste ja, dass Isabel die Zaubernummer überlebt hatte. Hätte er von der neuen Entwicklung erfahren, wäre er wahrscheinlich zur Polizei gegangen. Also musste Reichweiler dafür sorgen, dass Monetti nichts vom Ableben seiner Schwägerin mitbekam. Und Kemmer hatte durch Monetti Kenntnis darüber, wie die Nummer in der Loge tatsächlich abgelaufen war, er stellte deshalb für Reichweiler ebenfalls eine Gefahr dar – wenn unsere Theorie stimmt, dass Kemmer der Anrufer bei Rosenberg war.«

»Reichweiler steckt also hinter allem«, schloss Pia. »Das Dumme ist nur, dass wir es nicht beweisen können.«

Das Taxi hielt vor unseren Füßen.

 

»Auf Dauer wird es etwas teuer, ständig mit dem Taxi zu fahren«, sagte Pia, während wir die Stufen zu ihrem Büro hinaufschritten.

»Kennst du niemanden, der dir ein Auto leiht?«

»Nein. Aber du kannst Anna Ortega einen Mietwagen in Rechnung stellen.«

»Na ja …«

Pia grinste. »Du bezweifelst, dass sie die Rechnung bezahlt?«

»Ein bisschen schon.«

Cornfeld war allein im Büro. Die Konzentration, mit der er seine Computertastatur bearbeitete und uns ignorierte, wirkte irgendwie verdächtig.

»Wo ist Anna?«, fragte ich.

»Weg.«

»Wie weg?«

»Weg wie fort. Nicht mehr anwesend. An einem anderen Ort.«

»Und Sie sind immer noch hier?«, erkundigte sich Pia süffisant. »Warum haben Sie sich nicht auf die Suche gemacht?«

Cornfeld wurde rot. »Das ist nicht witzig, Pia. Und nein, ich werde sie vorläufig nicht suchen.«

»Entschuldigung«, sagte sie mit unaufrichtigem Augenaufschlag. »Ich wollte nicht in einer offenen Wunde stochern.«

»Wieso ist sie verschwunden?«, lenkte ich die beiden von ihrem Geplänkel ab.

»Weiß ich nicht«, antwortete Cornfeld patzig. »Als ich auf der Toilette nachschaute, war sie auf einmal weg.«

»Kommt mir irgendwie bekannt vor«, sagte Pia. »Nennt man das nicht Déjà-vu?« Sie schaute Cornfeld über die Schulter. »Was machen Sie da eigentlich?«

»Ich bin an dieser WLAN-Geschichte dran. Wegen des Warans.«

»Was für ein Waran?«, fragte ich.

»Cornfeld hat den Tierknochen analysieren lassen, den wir im Zauberclub gefunden haben. Es handelt sich um die Überreste eines Komodowarans«, antwortete Pia und reichte mir einen Ausdruck, den ich schnell überflog.

»Klingt ja nicht gerade nach einem Schmusetier.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Und apropos vertrauensvolle Zusammenarbeit: Seit wann weißt du das?«, fragte ich und deutete auf das Blatt Papier, das ich immer noch in der Hand hielt.

Das Klingeln des Telefons ersparte ihr die Antwort. Cornfeld nahm das Gespräch an und reichte den Hörer an Pia weiter: »Herr von Sandleben.«

Der Glanz in Pias Augen gefiel mir nicht. Auch nicht das Gurren in ihrer Stimme, als sie die üblichen Begrüßungsfloskeln austauschte. Dann wurde sie ernst: »Heute? Ich weiß nicht …« Und etwas später: »In der Post? Ich bin in den letzten Tagen nicht dazu gekommen.« Schließlich: »Ich melde mich bei Ihnen.«

Nachdem sie das Gespräch beendet hatte, fixierte sie Cornfeld mit einem bohrenden Blick.

»Kann sein, dass da ein Brief gekommen ist. Liegt alles auf Ihrem Schreibtisch«, gab der Assistent zu.

»Das hätten Sie mir auch schon früher sagen können.«

»Wann denn? Sie sind doch kaum noch im Büro.«

»Jetzt übertreiben Sie nicht so maßlos. Es hätte genügend Gelegenheiten gegeben, mir von diesem Brief zu erzählen.«

Pia verließ den Raum und kehrte nach kurzer Zeit mit einem Umschlag zurück, aus dem sie eine schwarze Karte zog. »Von Sandleben lädt mich zu einer privaten Zaubervorstellung ein. In seinem Haus.«

»Heute?«, fragte ich.

»Sie wollen doch nicht etwa hingehen?«, erkundigte sich Cornfeld.

»Warum nicht?«, gab Pia zurück.

»Weil der Typ nicht sauber ist.«

»Woher wollen Sie das wissen, Sie kennen ihn doch gar nicht.«

»Erstens gehört er, nach allem, was Sie erzählt haben, zur Zauberloge und zweitens habe ich ihn schon mal gesehen, in einem anderen Zusammenhang.«

»Wo?«

»Bei Gerassimov. Mit einer ganzen Horde von Anzugträgern. Und da ging es um handfeste Geschäfte. Da war die Rede von Aktien und von sehr, sehr viel Geld. Und die Typen sind ziemlich sauer geworden, als sie merkten, dass ich noch im Zimmer war.«

Pia öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Dann murmelte sie: »Dieser kleine Scheißer! Er hat mich schon wieder belogen. Von wegen keinerlei persönliches Interesse an Geschäften.« Sie straffte den Rücken. »Gerade deshalb sollte ich hingehen.«

»Haben Sie vergessen, was beinahe mit Anna im Hanse-Theater passiert wäre?«, protestierte Cornfeld. »Allein bei einer Zaubervorstellung aufzukreuzen …«

»Wieso allein?«, schnitt ihm Pia das Wort ab. »Georg wird mich bestimmt gern begleiten.«

»Ach so.« Cornfelds Mundwinkel sackten nach unten.

»Um wie viel Uhr?«, fragte ich.

»Um acht. Holst du mich um sieben zu Hause ab – mit einem Auto?«

 

Pia sah schick aus in ihrem weinroten Hosenanzug, über dem sie einen leichten Mantel trug. Für meinen Geschmack ein wenig zu elegant, wenn man bedachte, dass sie sich nicht für mich, sondern für Herrn von Sandleben aufgebrezelt hatte.

»Hast du nichts Besseres auftreiben können?«, fragte sie mit einem hörbaren Naserümpfen, als ich vor dem Mietwagen stehen blieb.

»Er fährt, er hat zwei Sitze und er war das Preisgünstigste, was die Firma im Angebot hatte.«

»Smart an sich ist ja okay«, sagte Pia, während ich aus der Parklücke ausfädelte. »Aber musste es ein orangefarbener sein?«

»Wir wollen doch niemanden verfolgen. Er soll uns lediglich zu dem kleinen Landhaus deines Millionärs bringen.«

»Mein Millionär?«

»Er baggert dich an. Ist dir das noch nicht aufgefallen?«

»Manche jungen Männer flirten eben gern mit älteren Frauen.«

»Und manche ältere Frauen lassen sich das gern gefallen.«

»So alt bin ich nun auch wieder nicht«, reagierte sie prompt eingeschnappt. »Soll ich dir was verraten, Georg? Männer, die so gut aussehen wie von Sandleben und die über ein Vermögen verfügen, das sie wahrscheinlich nur mithilfe ihres Finanzberaters überblicken können, üben auf fast jede Frau eine gewisse Attraktion aus.«

»Touché«, sagte ich. »Da kann ich natürlich nicht mithalten.«

»Dafür hast du andere Qualitäten.«

Ich blinzelte zu ihr hinüber. »Im Ernst?«

Sie lachte. »Nein. Übrigens hättest du gerade rechts abbiegen müssen.«

»Und woher sollte ich das wissen? Ein Navigationsgerät hätte zehn Euro mehr pro Tag gekostet.«

Da Pias Orientierungssinn eher unterdurchschnittlich ausgeprägt war, verbrachten wir eine gewisse Weile damit, einen Weg zur Autobahn zu finden. Als wir die A 7 endlich erreicht hatten, bekam Pia einen Anruf von Cornfeld. Ihrem Gesprächsanteil entnahm ich, dass die Verbindung sehr schlecht war, sie aber immerhin so viel verstand, dass Cornfeld Anna gefunden hatte und sie irgendwohin unterwegs waren.

Dann nahm der Feierabendverkehr meine Aufmerksamkeit in Anspruch, sodass wir schon auf der Landstraße fuhren, die uns nach Pias Auffassung zu Sandlebens Haus führen sollte, als ich das Gespräch wieder auf unseren Gastgeber brachte.

»Wie privat ist die Vorstellung eigentlich, zu der von Sandleben dich eingeladen hat?«

»Das werden wir ja gleich sehen«, sagte Pia. »Wir sind da.«

Im Dämmerlicht des zu Ende gehenden Tages tauchte auf der rechten Seite ein reetgedecktes Fachwerkhaus auf.

Ich ließ den Wagen auf der schmalen Auffahrt ausrollen. Weit und breit standen keine anderen Autos herum. Offenbar hatte von Sandleben an eine sehr private Show gedacht.

Noch bevor wir auf den Klingelknopf drücken konnten, wurde die Tür von einer ebenholzfarbigen Schönheit geöffnet, die uns wortlos begrüßte und dann mit einem federnden Gang vor uns herschritt, in der sicheren Annahme, dass wir es nicht wagen würden, vom vorgegebenen Pfad abzuweichen.

Pia flüsterte mir zu, dass es sich um Sandlebens Haushälterin handelte, aber ich konnte mir das Wesen vor uns beim besten Willen nicht mit einem Putzlappen oder an einem Herd vorstellen. Allenfalls war sie als Aufseherin eines Heeres von Putz-und Kochsklaven denkbar – in irgendeinem mittelalterlichen arabischen Palast.

Nachdem wir einen Fußmarsch quer durch das Haupthaus zurückgelegt hatten, blieb unsere Führerin neben einer geöffneten Tür stehen. Mit einer dezenten Verbeugung deutete sie an, dass wir das Ziel erreicht hatten. Wir betraten einen mit viel Geld und Geschmack umgebauten Stall, der eine lichte Höhe von mindestens zehn Metern bis zum hölzernen Dachfirst aufwies. Und etwa in der Mitte des riesigen Saales, vor einem merkwürdigen Gebilde, das einer überdimensionalen Kuckucksuhr nicht unähnlich sah, stand der Maestro höchstselbst. Sein Strahlen wirkte etwas angestrengt, als er bemerkte, dass Pia nicht allein erschienen war, sondern einen Bodyguard mitgebracht hatte, doch darüber hinaus ließ er sich seine Enttäuschung nicht anmerken.

»Pia! Ich freue mich. Und der Herr Wilsberg ist auch gekommen.« Er küsste Pia auf die Wangen und schüttelte meine Hand ein wenig länger, als nötig gewesen wäre.

»Pia hat mich gebeten, sie zu begleiten«, sagte ich. »Sie haben doch hoffentlich nichts dagegen.«

»Nicht das Geringste. Zauberei ist die Kunst der Improvisation.«

»Und was steht auf dem Programm?«, fragte Pia munter.

»Wollen wir nicht erst einen Drink nehmen?« Von Sandleben machte eine Handbewegung.

Ohne dass ich ihr Kommen bemerkt hätte, stand die sogenannte Haushälterin hinter uns. Auf den gespreizten Fingern ihrer rechten Hand balancierte sie ein silbernes Tablett mit drei Martini-Gläsern, in denen eine rosafarbene Flüssigkeit schimmerte, garniert mit aufgespießten Kirschen.

»Was ist das?«, fragte ich die Frau.

Entgegen meiner Erwartung, dass sie entweder taubstumm oder des Deutschen nicht mächtig sei, antwortete sie vollkommen akzentfrei: »Unser Hausaperitif.«

»Und woraus besteht der?«

»Ein bisschen aus diesem und ein wenig aus jenem.«

Ich wartete, bis von Sandleben den ersten Schluck genommen hatte. Wer Kröten aß, trank ja vielleicht auch Tollkirschensaft.

Er bemerkte mein Zögern und lächelte herablassend. »Die Zutaten sind in jedem gut sortierten Supermarkt erhältlich.«

Das Getränk schmeckte fruchtig, mit einem Hauch Alkohol und einem leicht bitteren Abgang, wie ein Date mit einer Angebeteten, bei dem sich herausstellt, dass sie einen anderen liebt.

»Haben Sie das extra für uns gebaut?«, fragte Pia mit Blick auf die etwa drei Meter hohe Konstruktion, die auf einer Plattform ruhte. Die Seitenwände bestanden, soweit ich das erkennen konnte, aus braun gemaserten Holzimitaten, die ein etwa drei mal drei Meter großes Podest umgaben. Auf der Vorderseite befand sich eine Tür und direkt daneben, in Kopfhöhe, ein kleines, mit einem pergamentähnlichen Material verkleidetes Sprossenfenster, hinter dem es in allen Farben des Spektrums abwechselnd leuchtete. Der Hit des Hexenhäuschens war allerdings das windschiefe, spitz zulaufende Dach, auf dem eine mechanische Eule thronte, die ihren Kopf in verschiedene Richtungen drehte und dabei mit den Augen blinzelte.

»Gefällt es Ihnen?«, fragte von Sandleben.

»Es ist amüsant«, antwortete Pia ausweichend.

»Auf dem Jahrmarkt könnten Sie damit bestimmt kleine Kinder erschrecken«, sagte ich.

»Warten Sie ab! Vielleicht gelingt es mir, sogar Sie zu verblüffen.« Von Sandleben zeigte zwei Reihen blendend weißer Zähne. »Doch zuvor möchte ich Ihre Aufmerksamkeit schärfen.«

Während wir zu einem Tisch gingen, der neben einem riesigen weißen Sofa stand, veränderte sich das Deckenlicht fast unmerklich. Hatte zuvor das Häuschen am hellsten geleuchtet, so war es jetzt der Tisch, der von oben angestrahlt wurde. Obwohl ich außer dem Hausherrn und seiner sonderbaren Haushälterin niemanden bemerkt hatte, nahm ich an, dass es hinter den Kulissen weitere hilfreiche Geister gab, die den Meister bei seiner Arbeit unterstützten. Ein Aspekt, der nicht zu unterschätzen war, wenn es zu Schwierigkeiten kommen sollte.

Von Sandleben zog ein Kartenspiel, das auf dem Tisch lag, aus seiner Verpackung und ließ die Karten von einer Hand in die andere gleiten.

»Haben Sie vom Tod des Wirtschaftssenators gehört?«, fragte Pia.

»Ja, ein tragischer Unfall.«

»Falls es einer war. Rosenberg hätte Ihrem Freund Reichweiler eine Menge Ärger machen können.«

»Inwiefern?«

»Indem er über eine Zaubernummer geredet hätte, bei der scheinbar jemand zu Tode kam. Jene Isabel Ortega, an die Sie sich nicht erinnern konnten. Dabei war die Nummer mit dem Wasserbassin doch ziemlich eindrucksvoll.«

»Ach, das war Frau Ortega. Tut mir leid, aber das wusste ich nicht. Im Club hieß sie Valentina.«

»Ist Erpressung nicht ein Verstoß gegen die Regeln Ihrer Zauberloge?«, fragte ich.

Von Sandlebens Gesicht blieb unbewegt. »Von einer Erpressung ist mir nichts bekannt.«

»Und das sollen wir Ihnen glauben?«, fragte Pia.

»Ich sagte Ihnen doch bereits, um solche Dinge kümmere ich mich nicht.«

»Es sei denn, es geht um Kungeleien mit russischen Oligarchen«, warf ich ein.

Der Magier lachte. »Gerassimov und ich kennen uns seit Ewigkeiten. Aber unsere gemeinsamen Interessen beschränken sich auf Boote und Frauen.« Er zeigte uns die Vorderseite der Karten, es handelte sich um ein ganz normales Kartenset. Dann mischte er die Karten erneut und warf sie einzeln auf den Tisch, ein Ass nach dem anderen. »Allerdings kann es nicht schaden, das eine oder andere Ass im Ärmel zu haben.«

»Wie haben Sie das gemacht?«, fragte Pia.

»Ein uralter Trick«, sagte er leichthin. »Der Schauspieler und Regisseur Orson Welles, selbst ein Amateurzauberer, zählte die Zauberei zu den Theaterkünsten. Wenn zehn Leute den gleichen Trick zeigen, sieht es aus wie zehn verschiedene Tricks. Worauf es ankommt, ist die Persönlichkeit, der Stil, die Ausführung.« Er legte die Karten auf eine dreiteilige Unterlage, klappte diese zusammen und wieder auf, eine aus Spielkarten bestehende Miniaturausgabe des Hexenhäuschens erhob sich auf der Unterlage.

»Faszinierend«, sagte Pia. »Ist das Haus Ihre eigene Kreation?«

»Es gibt Vorbilder«, wich von Sandleben aus. »Nennen wir es Geisterhaus. Ein Haus, das Wünsche möglich macht. Einen Wunsch sehe ich Ihnen geradezu an.« Er schaute ihr in die Augen. »Sie möchten mich fesseln, stimmt’s?«

»Aber Sie werden sich befreien, habe ich recht?«

»Möglich.« Er schnipste mit den Fingern und die Haushälterin, durch ein Glitzerkostüm zur Showassistentin mutiert, brachte ein weißes Kleidungsstück herein, das sich beim Auseinanderfalten als Zwangsjacke entpuppte. Sie half dem Meister, die Jacke anzulegen, dann bat er Pia und mich, seine an den Hüften angelegten Hände auf dem Rücken mit Schnüren zu verknoten. Wir taten ihm den Gefallen, wobei ich den Knoten extra fest zusammenzog, sodass die Schnüre an den Handgelenken schmerzen mussten.

Von Sandleben bewahrte die Contenance und lächelte. »Es macht Ihnen Spaß, wie ich merke.«

»Leicht kann jeder«, sagte ich.

»Werfen Sie ruhig einen Blick hinein!« Zwangsverschnürt schritt er zum Geisterhaus.

Die namenlose Assistentin öffnete die Tür. Bis auf einen Stuhl, auf dem der Magier Platz nahm, war das Innere leer.

»Vielleicht möchten Sie einmal um das Haus herumgehen?«

Da ich kein Spielverderber sein wollte, schlenderte ich einmal um die Konstruktion herum. Weit und breit keine Helfer oder verdächtige Utensilien.

Inzwischen hatte die Assistentin das weiße Sofa so in Positur geschoben, dass Pia und ich das Schauspiel frontal verfolgen konnten. Orchestermusik setzte ein, kitschige Streicherklänge füllten den Raum. Dann, nach ein paar kräftigen Beckenschlägen, zu denen dichte Theaternebelschwaden aus der Plattform strömten, sprang das Fensterchen im Geisterhaus mit einem lauten Knall auf. Keine Sekunde später flogen, wie von einem Katapult abgefeuert, rote und weiße Rosen durch das Loch – direkt vor Pias Füße. Die Assistentin öffnete die Tür, von Sandleben saß, als hätte er sich keinen Millimeter bewegt, verschnürt auf dem Stuhl. Wir spendeten pflichtschuldig Beifall.

Der Magier neigte den Kopf. »Dürfte ich um Ihr Jackett bitten, Herr Wilsberg?«

»Wenn es sein muss.« Ich nahm Handy und Schlüssel aus den Taschen und reichte die Jacke der Assistentin, die sie auf den Fensterrahmen legte.

Was jetzt kam, war voraussehbar. Beim nächsten Öffnen der Tür trug von Sandleben meine Jacke, beim übernächsten wieder nicht mehr. Und die ganze Zeit war er, wie er uns demonstrierte, in der Zwangsjacke gefesselt.

Allmählich fragte ich mich, worauf der Abend hinauslaufen sollte. Hatte von Sandleben nichts Schlimmeres vorgehabt, als Pia mit ein paar lauwarmen Kunststücken für sich zu begeistern? Und wann war der Zeitpunkt gekommen, den Spieß umzudrehen und dem Meister unsere Show aufzuzwingen? Schließlich hatten wir den weiten Weg ins Alte Land unternommen, um ein paar Antworten auf unsere Fragen zu bekommen.

»Ich habe das Gefühl, Sie sind immer noch skeptisch, Herr Wilsberg«, wandte sich von Sandleben an mich. »Vielleicht möchten Sie mir bei der folgenden Nummer aus der Nähe zusehen?«

»Nein, danke«, gab ich zurück. »Hier auf dem Sofa ist es gemütlicher.«

»Haben Sie etwa Angst? Soll Frau Petry Ihren Part übernehmen?«

Ich seufzte und stand auf.

»Na also!«, lachte von Sandleben. »Es geht doch.«

Ich kletterte in das Geisterhaus und schaute mich um.

»Suchen Sie nach geheimen Öffnungen?« Er grinste. »Wissen Sie, als Magier muss man immer einen Plan B haben. Für den Fall, dass etwas schiefgeht.«

»Und was war Plan A?«

»Mein Plan A sah vor, dass ich einen netten Abend zu zweit verbringe. Mit Frau Petry. Aber dann kamen Sie. Deshalb sehe ich mich gezwungen, eine kleine Korrektur vorzunehmen.«

Er machte eine Bewegung mit dem rechten Bein. Unter mir öffnete sich der Boden. Kunstnebel schoss hoch. Und dann fiel ich.