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Wilsberg erfährt Geheimnisse der Zauberei

»Sie hat heute die Mathearbeit nicht mitgeschrieben, weil sie vor lauter Kopfschmerzen und Übelkeit keinen klaren Gedanken fassen konnte. Ich habe sie erst mal ins Bett gesteckt. Aber wenn sie morgen immer noch völlig daneben ist, werde ich mit ihr zu einem Kinderpsychologen gehen müssen.«

Der vorwurfsvolle Ton meiner Exfrau ließ keinen Zweifel daran, wem sie die Schuld am Gesundheitszustand unserer Tochter gab.

»Sarah wird das schon verkraften«, sagte ich. »Sie ist schließlich kein Kind mehr.«

»Sie tut immer so erwachsen, aber in Wirklichkeit ist sie ein kleines Mädchen, Georg. Du verbringst alle zwei Wochen anderthalb Tage mit ihr. Glaubst du, du verstehst, was in ihr vorgeht?«

»Nein, das habe ich ja nicht mal bei dir verstanden.«

»Spar dir deine blöden Sprüche!«, fuhr mich Imke an. »Ich darf jetzt wieder ausbaden, was du angerichtet hast.«

»Es tut mir ja auch leid, dass sie das miterlebt hat«, sagte ich. »Aber wie, bitte schön, hätte ich es verhindern sollen?«

»Warum musstest du sie überhaupt in dieses idiotische Varieté schleppen?«

»Sarah hat mir die Eintrittskarte zum Geburtstag geschenkt. Ich habe mir diesen Abend weder gewünscht noch jemals erwähnt, dass ich ein Fan von Zaubertricks und Artisten mit Gummikörpern bin.« Mein Vorsatz, nicht die Beherrschung zu verlieren, geriet ins Wanken. »Im Übrigen ist ein Varieté kein gefährlicher Ort. In hunderttausend Vorstellungen kommt es vielleicht einmal zu einem Unfall. Es war einfach Pech, verdammtes Pech.«

»Nur komisch, dass du das Pech anziehst wie ein Scheißhaufen die Fliegen. Wann hast du in deinem Leben das letzte Mal Glück gehabt, Georg Wilsberg?«

Ich starrte den Hörer an. Imke hatte die Gabe, mit traumwandlerischer Sicherheit die Stelle zu treffen, an der es am meisten schmerzte. Ich atmete tief durch. »Kann ich mit ihr sprechen?«

»Mit Sarah? Nein. Sie schläft und ich werde sie nicht aufwecken. Versuch’s heute Abend noch mal.«

Ein Klicken und die Leitung war tot.

Von draußen drang ohrenbetäubender Lärm in mein Büro. Ich ging zum Fenster. Einer meiner Nachbarn schlenderte mit umgehängtem Laubbläser und putzigen roten Ohrschützern durch seinen Garten. Die wenigen Blätter, die er dabei aufwirbelte, hätte er mit einer Harke zehnmal schneller entfernt. Seit der Erfindung des Laubbläsers hege ich den Verdacht, dass Gartenarbeit für manche Männer zum reinen Vorwand geworden ist, den Mitmenschen ungestraft auf die Nerven gehen zu können. Wer auch immer dieses Gerät konstruiert hatte – es musste sich um einen ausgesprochenen Menschenfeind handeln.

Ich schloss das Fenster, gleichzeitig klingelte das Telefon. Mit zwei Schritten war ich am Schreibtisch.

»Wilsberg!«

»Schlechte Laune oder was?«, fragte Hauptkommissar Stürzenbecher.

»Was willst du?«

»Setz dich ins Auto und komm zum Rechtsmedizinischen Institut.«

»Wohin?«

»Zum Rechtsmedizinischen Institut an der Von-Esmarch-Straße«, wiederholte er überdeutlich, als hätte ich ein akustisches Problem.

»Das habe ich verstanden. Aber was soll ich da?«

»Erklär ich dir, wenn du hier bist. Ich erwarte dich in einer Viertelstunde.«

Aufgelegt. Anscheinend hatte nicht nur Imke ihre Freundlichkeit mit den gestrigen Geburtstagsglückwünschen aufgebraucht.

 

Eine aufreibende Parkplatzsuche und zwanzig Minuten später stand ich vor dem unscheinbaren Neubau im Klinikviertel. Das Rechtsmedizinische Institut war für alle unklaren Todesfälle in der näheren und weiteren Umgebung Münsters zuständig. Wobei die unklaren Todesfälle, wie die Rechtsmediziner in einer empirischen Untersuchung festgestellt hatten, mit der Entfernung von Münster stetig abnahmen. Das mochte daran liegen, dass im Landkreis Borken oder in Ostwestfalen weniger gemordet wurde. Möglich war aber auch, dass die dortigen Kriminalbeamten keine Lust auf Dienstreisen nach Münster hatten und den Ärzten im Zweifelsfall nahelegten, eine natürliche Todesursache zu attestieren.

Ich klingelte und der Pförtner ließ mich in den verschlossenen Vorraum. Nachdem ich meinen Namen und mein Anliegen genannt hatte, hängte er sich ans Telefon.

Es dauerte nicht lange, bis Stürzenbechers massige Gestalt hinter der inneren Glastür auftauchte.

Als ich ihm die Hand schüttelte, glaubte ich, einen leichten Geruch von Verwesung und Desinfektionsmittel wahrzunehmen. Aber das konnte auch die Ahnung dessen sein, was mich erwartete.

»Komm mit runter!«, sagte der Leiter des KK 11. Sein Kommissariat im münsterschen Polizeipräsidium wurde tätig, wenn es um Gewaltverbrechen ging. Hauptsächlich deshalb waren wir uns in den letzten Jahren häufig über den Weg gelaufen. Und trotz aller Probleme, die das mit sich brachte, hatte sich zwischen uns eine Art Freundschaft entwickelt.

»Wer ist eigentlich tot?«, fragte ich, als wir die Treppe hinabstiegen.

»Stefan Hubertus.«

»Wer?«

»Bist du heute schwerhörig?«

»Nein. Aber ich kenne keinen Stefan Hubertus. Nie von ihm gehört.«

»Auf der Bühne nannte er sich Stefano Monetti.«

»Der Magier?«

»Korrekt.« Stürzenbecher schob mich durch eine Schwingtür. »Als wir gestern Nacht seine Assistentin im Krankenhaus aufsuchten, hielt sie deine Visitenkarte in der Hand. So etwas macht mich stutzig. Das verstehst du doch.«

»Das bedeutet gar nichts.« Automatisch fiel ich in eine Verteidigungshaltung. »Ich war gestern im Varieté, mit meiner Tochter. Anna, also die Assistentin, hat mich auf die Bühne geholt, damit ich die Pistolenkugel in Augenschein nehme. Mehr war da nicht.«

»Und bei der Gelegenheit hast du ihr deine Visitenkarte zugesteckt?«

»Nein, das war hinterher, als Monetti oder Hubertus schon umgekippt war. Da habe ich nachgesehen, was mit ihm passiert ist, weil meine Tochter völlig verstört war. Anna tat mir leid, sie stand unter Schock. Ich dachte, es hilft ihr, wenn sie mit jemandem reden kann.«

»Klar«, grunzte Stürzenbecher, »du wolltest nur mit ihr reden.«

»Das ist die Wahrheit.«

»Außerdem sieht sie sensationell gut aus, findest du nicht?«

»Ja«, gab ich zu.

Der Hauptkommissar öffnete eine weitere Tür und wir kamen in den weiß gekachelten, von einer starken Klimaanlage gekühlten Raum, in dem Patienten nicht mehr gepflegt, sondern in Schubfächern aufbewahrt werden und die behandelnden Ärzte mit Instrumenten hantieren, die denen von Schlachtern nicht unähnlich sind.

Stefan Hubertus alias Stefano Monetti lag auf einem Metalltisch in der Mitte. Zumindest das meiste von ihm. Der Rest befand sich in Metallschüsseln auf einer fahrbaren Ablage und hatte ihm vermutlich mal als Herz, Leber oder Niere gedient. Einer der beiden Rechtsmediziner, die sich über den Leichnam beugten, griff gerade mit der behandschuhten Hand in den geöffneten Oberkörper. Ich wandte mich ab und betrachtete die Kacheln an der Wand. Zum Glück hatte ich heute Morgen nur eine Schüssel Müsli gefrühstückt.

»Ist was?«, fragte Stürzenbecher spöttisch.

»Nein, alles in Ordnung«, log ich.

»Herr Professor!«, rief der Hauptkommissar. »Könnten Sie einen Moment zu uns kommen!«

Ich holte Luft und stellte mich der Aufgabe. Der größere der beiden Mediziner streifte die blutbeschmierten Handschuhe ab und zog den Mundschutz nach unten, als er zu uns trat. Seine freundlichen Augen musterten mich fragend, während er die Hand ausstreckte.

»Celenius. Kennen wir uns nicht?«

»Wilsberg.« Ich ergriff seine Hand. »Die alten Damen in St. Mauritz, die wegen medizinischer Versuche sterben mussten. Ich habe Sie damals um Unterstützung gebeten.«

»Richtig.« Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Ein interessanter Fall. Ein wirklich sehr interessanter Fall. Dagegen ist unser Magier reine Routine.« Er schaute zu Stürzenbecher. »Darf ich?«

»Reden Sie ruhig!«, sagte der Hauptkommissar.

»Frontaler Kopfschuss drei Zentimeter oberhalb der Augen. Die Kugel hat lebenswichtige Bereiche seines Gehirns zerstört.« Celenius’ hanseatischer Akzent wurde stärker. »Der Mann war praktisch tot, als er auf dem Boden aufschlug. Merkwürdig ist nur, dass das Projektil nicht wieder ausgetreten ist. Ich nehme an, dass die Wucht des Schusses durch etwas Gläsernes abgeschwächt wurde. Wir haben winzige Glassplitter in der Wunde gefunden.«

»Er stand hinter einer Glasscheibe«, bestätigte ich.

»Und vermutlich war das Ganze etwas anders gedacht«, sagte Celenius. »Sonst kann man einen solchen Trick immer nur einmal vorführen.«

»Hubertus hat den Kugeltrick schon Dutzende Male praktiziert«, schaltete sich Stürzenbecher ein. »Normalerweise verschwindet die Metallkugel, die vor den Augen des Publikums in den Lauf eingeführt wird, in einem Geheimfach innerhalb der Pistole. Abgefeuert wird ein hauptsächlich aus Wachs bestehendes Geschoss, das schon vorher im Lauf steckt. Die Wachskugel hat genug Kraft, um die Glasscheibe zu durchschlagen, kann den dahinter stehenden Mann jedoch nicht mehr verletzen.«

»Und was ist schiefgegangen?«, fragte Celenius.

»Das wissen wir noch nicht. Jedenfalls blieb die Metallmunition im Lauf und wurde zusammen mit dem Wachs abgefeuert.«

»Dumm«, nickte der Professor. »Passiert so was häufiger?«

»Selten, aber es kommt vor.«

»Da würde ich doch lieber dabeibleiben, Kaninchen aus einem Hut zu zaubern.«

»Ja«, sagte Stürzenbecher. »Aber wo Herr Wilsberg schon mal da ist, würde ich ihn gern einen Blick auf das Projektil werfen lassen, das sich in Hubertus’ Kopf befand. Er hatte nämlich bei der Vorstellung die Aufgabe, das Beweisstück zu prüfen.«

Celenius schaute mich auffordernd an. »Dann kommen Sie mal mit!«

»Danke.« Ich schluckte. »Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich lieber hier stehen bleiben.«

»Ach so, natürlich.« Der Professor machte ein paar Schritte zur Ablage und fischte etwas Metallenes aus einer Schale.

Das leicht deformierte Ding, das nun in meine Hand kullerte, besaß keine Kerbe auf seinem Mantel. »Das ist nicht die Kugel, die ich auf der Bühne gesehen habe«, stellte ich fest.

»Darf auch nicht«, sagte Stürzenbecher. »Der Trick sieht vor, dass Hubertus das Geschoss mit den Zähnen auffängt. Scheinbar jedenfalls. Also muss die Metallkugel vor den Augen des Publikums mit einer anderen vertauscht werden. Hubertus steckt sich die markierte Kugel in den Mund und schiebt sie, sobald der Schuss fällt, rasch zwischen die Zähne. Deine Aufgabe wäre es gewesen, die Markierung wiederzuerkennen und die Echtheit zu bestätigen.«

»Dann müsste er mein Projektil ja noch im Mund gehabt haben«, sagte ich.

»Richtig«, sagte Stürzenbecher.

Wir drehten uns zum Metalltisch um.

»Herr Reich-Ranitz«, rief Celenius.

»Ja?« Der zweite Mediziner schaute auf.

»Haben Sie den Rachenraum des Toten nicht untersucht?«

»Natürlich. Da war …«

»Dann machen Sie es bitte noch mal! Und zwar gründlich!«

»Aber …«

»Tun Sie es einfach!«

Reich-Ranitz murmelte etwas Unverständliches und leuchtete dann mit einer kleinen Taschenlampe in den geöffneten Mund des Magiers. Schließlich nahm er eine Pinzette zu Hilfe.

»Wie ich bereits sagte … Nein, warten Sie! Na so was! Unter der Zunge.«

»Assistenten«, knurrte Celenius.

Reich-Ranitz zog die Pinzette aus dem Mund des Toten und schwenkte sie in unsere Richtung. »Ein Metallprojektil. Unversehrt.« Er betrachtete seinen Fund genauer. »Bis auf eine kleine Einkerbung im Mantel.«

»Ich glaube, ich brauche frische Luft«, sagte ich.

Der Hauptkommissar musterte mich kritisch und griff nach meinem Arm. »Ich begleite dich.«

 

Vor dem Institut steckte ich mir einen Zigarillo an. Der Rauch schmeckte scheußlich, aber wenigstens verdrängte er den Leichengestank.

»Die Qualmerei wird dich noch umbringen«, sagte Stürzenbecher.

»Was denkst du?«, fragte ich. »War es ein Unfall?«

»Die Assistentin war letzte Nacht ziemlich durch den Wind. Ich habe nicht viel aus ihr herausbekommen. Sie redete dauernd davon, dass jemand vergessen habe, die Garderobentür abzuschließen. Theoretisch wäre es natürlich möglich, dass an der Pistole manipuliert wurde.«

»Und warum nicht praktisch?«

»Weil man dafür ein Insider sein muss. Solche Spezialpistolen werden nicht in hoher Stückzahl hergestellt. Um sicherzugehen, habe ich die Experten vom Landeskriminalamt gebeten, die Waffe zu untersuchen.«

Anna selbst wusste vermutlich, wie die Pistole funktionierte. Dachte ich, sagte es aber nicht.

»Sie heißt Anna Ortega und stammt aus Kuba«, redete der Hauptkommissar unaufgefordert weiter. »Seit fünf Jahren ist sie mit Hubertus zusammen.«

»Die beiden waren ein Paar?«

»Auf der Bühne und im Bett.« Er grinste anzüglich. »Die schönen Frauen sind immer vergeben. Hast du das noch nicht gemerkt?«

»Davon habe ich gehört. Aber warum sollte mich das interessieren?«

»Mach mir nichts vor, Wilsberg. Ich weiß genau, was du denkst.«

»Und das wäre?«

»Dass sie ihren Typen womöglich selbst erledigt hat. Und ich bin lange genug im Geschäft, um das Gleiche anzunehmen. Allerdings gibt es exakt drei Punkte, die für sie sprechen.«

Ich schaute ihn erwartungsvoll an.

»Erstens: Falls sie eine Mörderin ist, ist sie auch eine verdammt gute Schauspielerin. Zweitens: Mit Hubertus beerdigt sie ihre eigene Lebensgrundlage. Und drittens …«

»… gibt es keine Lebensversicherung zu ihren Gunsten«, vermutete ich.

»Doch, es gibt eine. Bloß mit einem netten kleinen Passus, der ihr nicht unbekannt sein dürfte: Die Versicherung hat sich geweigert, den Kugeltrick zu versichern. Wegen zu großem Risiko. Anna Ortega hätte ihren Stefano auf alle möglichen Weisen vom Leben zum Tod befördern dürfen, nur eben nicht mit der Pistole auf der Bühne.«

Stürzenbecher registrierte meine Erleichterung mit einem kleinen Lachen. »Scheint dich zu freuen?«

»Ich hatte noch nie was für schöne Mörderinnen übrig.«

»Ehrlich gesagt, verhafte auch ich lieber stinkende, brutale Scheißkerle.« Er wurde ernst. »Dummerweise spricht ein Punkt gegen sie.«

Hinterhältiger Sack, dachte ich.

»Anna Ortego ist heute Morgen aus dem Krankenhaus verschwunden, ohne Wissen und Erlaubnis der Ärzte. In ihrem Hotel ist sie jedoch nicht mehr aufgetaucht. Wenn du sie siehst, sag ihr bitte, dass sie sich bei uns melden soll. Sonst muss ich sie zur Fahndung ausschreiben.«

»Ich habe keine Ahnung, wo sie sich aufhält.«

»Habe ich auch nicht behauptet.« Stürzenbecher klopfte mir auf die Schulter. »Aber es könnte ja passieren, dass sich eure Wege kreuzen.«