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Wilsberg macht Druck
Von der Angestellten im Zauberkasten erfuhr ich, dass Kemmer um diese Zeit noch beim Frühstück sei, in einem Café am Hansaplatz, nur ein paar hundert Meter vom Laden entfernt.
Abseits der Langen Reihe war Sankt Georg ein schmuckloses Viertel mit hohen Mietshäusern und trostlosen Kneipen, in denen die einheimischen Alkoholiker wohl unter sich blieben. Eine einsame Hure stand auf dem Bürgersteig und fragte, ob ich ein bisschen Zeit habe. Ich bedauerte, ihr gegenüber die fehlende Zeit und in Gedanken die Frau. Wer sich schon am Morgen in Stiefeletten, Lederminirock und Schwarzhaarperücke zwängte, brauchte das Geld vermutlich ziemlich dringend.
Der Hansaplatz erweckte den Eindruck, als hätte er in den letzten Jahren eine städtebauliche Auffrischung erfahren. Der Straßenbelag war neu, ebenso wie die Häuserzeile, in der ich das Café entdeckte, dessen Namen Kemmers Angestellte erwähnt hatte.
Der ehemalige Zauberer saß an einem Tisch am Fenster und las Zeitung.
»Steht was Neues über Isabel Ortega drin?«, fragte ich, als ich ihm gegenüber Platz nahm.
Er ließ die Zeitung sinken und starrte mich mürrisch an.
»Eine seltsame Häufung von Todesfällen, finden Sie nicht?«, redete ich weiter. »Zuerst Stefano Monetti, jetzt seine Schwägerin.«
»Stefan wurde nicht ermordet. Er ist auf der Bühne gestorben – durch einen missglückten Trick.«
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht.« Ich beugte mich vor. »Isabel ist in einem Varieté aufgetreten. Wussten Sie das?«
Kemmer faltete die Zeitung sorgfältig zusammen und legte sie auf den Tisch. »Nein. Ich kannte sie überhaupt nicht. Und es interessiert mich auch nicht, was sie gemacht hat. Möglicherweise habe ich mich vorgestern nicht klar genug ausgedrückt: Ich möchte, dass Sie mich mit Ihren Vermutungen und Theorien verschonen.«
»Ich habe noch gar keine Vermutung geäußert.«
»Aber ich weiß, worauf Sie hinauswollen: dass Stefan und Isabel einer großen Verschwörung zum Opfer gefallen sind.«
»Und? Sind sie?«
Er schlug mit der flachen Hand auf die Zeitung. »Das ist doch Unsinn.«
Eine Kellnerin tauchte an unserem Tisch auf und fragte nach meinen Wünschen.
»Zahlen«, sagte Kemmer.
Ich zuckte entschuldigend mit den Achseln.
Der Ladenbesitzer beglich die Rechnung und stapfte mit wütenden Schritten nach draußen. Vor dem Lokal holte ich ihn ein.
»Was soll das werden?«, fuhr er mich an. »Wie lange wollen Sie mir noch auf den Geist gehen?«
»Bis Sie mir die Wahrheit sagen.«
Seine Hand zitterte, als er mir mit dem Zeigefinger drohte. »Ich werde Sie anzeigen. Wegen Belästigung.«
Ich beschloss, einen Versuchsballon zu starten. »Bis jetzt habe ich Ihren Namen nicht erwähnt. Das muss nicht so bleiben.«
Er lachte höhnisch. »Was wollen Sie denn der Polizei über mich erzählen?«
»Nicht der Polizei. Reichweiler. Ich könnte andeuten, dass Monetti Ihnen gegenüber ausgepackt hat. Und dass Sie jetzt mit den Geschichten hausieren gehen.«
Sein Gesicht lief zuerst rot an und wurde dann kalkweiß. »Wieso Reichweiler?«
»Ich habe ihn gestern besucht. Er war übrigens Isabels Liebhaber.«
Kemmer schnaufte, als stünde er kurz vor einem Herzinfarkt. »Lassen Sie Reichweiler aus dem Spiel!«
»Dann reden Sie endlich!«
»Herrgott noch mal!« Er setzte sich in Bewegung. »Wissen Sie eigentlich, mit wem Sie sich da anlegen? Reichweiler ist einer der mächtigsten Männer Hamburgs.«
»Geld hat mir noch nie Respekt eingeflößt.«
»Sie sind auch nicht von ihm abhängig. So wie ich.«
Es dauerte einen Moment, bis ich die Bedeutung seiner Worte begriff. »Reichweiler ist Ihr Kunde? Einer aus dem Magier-Zirkel?«
»Das Hanse-Theater war mein Kunde. Mein größter Kunde. Wegen einer Lappalie hat Reichweiler unsere Geschäftsbeziehung beendet.«
Kemmer registrierte meine Verwunderung und wurde sauer. »Verdammt, Sie haben nur geblufft. Sie wussten gar nicht, dass Reichweiler das Hanse-Theater gehört.«
Das erklärte einiges. Eine glatte Lüge, dass Reichweiler Monetti nicht gekannt hatte. Der Reeder war das Bindeglied zwischen Monetti und Isabel.
»Was steckt hinter diesem Magier-Zirkel?«, fragte ich.
Der Ladenbesitzer guckte stur geradeaus. »Ich habe keine Ahnung.«
»Monetti hat bestimmt mal aus dem Nähkästchen geplaudert.«
»Stefan hat nur allgemeine Dinge erzählt. Dass die Mitglieder ihren Verein Loge nennen würden, obwohl es sich nicht um eine Freimaurerloge im herkömmlichen Sinn handelt. Allerdings gibt es, ähnlich wie bei Freimaurerlogen, einen Meister vom Stuhl und andere Beamte. Während der Sitzungen reden sich alle mit ihren Logennamen an.«
»Wer ist Cagliostro?«
Kemmer schaute kurz zu mir herüber. »Welchen meinen Sie? Der historische Graf Cagliostro hat im achtzehnten Jahrhundert gelebt. Er hat Lotteriezahlen vorausgesagt, Steine in Diamanten verwandelt und in spiritistischen Sitzungen Kranke geheilt. All diese Sachen, die dazu beitragen, dass Magier bis heute als unseriös gelten. Wenn dem falschen Grafen der Boden zu heiß wurde, ist er weitergezogen. Von London nach Moskau und Paris. In Paris hatte er den größten Erfolg. Bis zur Halsbandaffäre. Selbst Goethe war von Cagliostro fasziniert und …«
»Das reicht!«, unterbrach ich ihn. »Welcher von den Typen in der Loge nennt sich Cagliostro?«
Er schüttelte den Kopf. »Das kann ich wirklich nicht sagen.«
»Kommen Sie! Cagliostro ist der Mann, der Monetti engagiert hat. Wollen Sie mir weismachen, dass Ihr Schüler und Freund nie über ihn geredet hat?«
»Cagliostro …«
»Ja?«
»… ist der Meister vom Stuhl. Derjenige, der die Sitzungen leitet.«
»Ich brauche seinen realen Namen, Herr Kemmer. Sonst platzt unsere Vereinbarung.«
Er wischte sich Schweiß von der Oberlippe. Aus dem selbstbewussten, stolzen Magier unserer ersten Begegnung war ein verängstigter alter Mann geworden. Doch darauf konnte ich keine Rücksicht nehmen.
»Ich bin nicht mal sicher, ob Stefan wusste, mit wem er es zu tun hatte. Die Identität der Logenmitglieder preiszugeben, ist strengstens untersagt.«
»Ist Reichweiler Cagliostro?«
Kemmer schaute sich um. Wir standen in einer schmalen, unbelebten Straße, die in die Lange Reihe mündete. »Sie bringen mich in große Schwierigkeiten.«
»Ich bringe Sie in noch größere Schwierigkeiten, wenn Sie mir etwas verheimlichen.«
»Glauben Sie mir, ich habe keine Ahnung, wer Cagliostro ist.«
Vielleicht sagte er die Wahrheit.
Ich nickte. »Also gut. Dann möchte ich hören, was Monetti Ihnen sonst noch erzählt hat.«
»Stefan hat die Logennamen einiger anderer Mitglieder erwähnt: Chung Ling Soo, Kellar, Dante, Goldin, Houdini, Kalanag.«
»Alles Magier, nehme ich an?«
»Richtig.« Kemmer lebte wieder auf, das war sein Element. »Chung Ling Soo, eigentlich William E. Robinson, starb 1918 in London durch den Kugeltrick. Die Nummer war die größte Attraktion seiner Show. Harry Kellar gilt als der große alte Mann der amerikanischen Zauberkunst. Dante, ein Däne, ging schon vor dem Zweiten Weltkrieg mit sechs Lastwagen und sechzehn Tonnen Requisiten auf Tournee. Horace Goldin, als Hyman Goldstein in Litauen geboren, war der Erfinder der zersägten Jungfrau. Kalanag alias Helmut Schreiber stellte in Deutschland alle anderen in den Schatten. Und Houdini kennen Sie sicher. Er war einer der Größten überhaupt.«
»Und wie passt Cagliostro in diese Reihe?«, fragte ich
»Gar nicht«, sagte Kemmer. »Cagliostro war ein Scharlatan. Seriöse Magier würden niemals behaupten, dass sie übernatürliche Kräfte besitzen. Wir können keine Krankheiten heilen oder defekte Uhren in Gang setzen. Allerdings muss Cagliostro ein unglaubliches Charisma besessen haben. Überall auf der Welt, wo er sich niederließ, konnte er sofort eine Schar Anhänger um sich versammeln. Er gründete Freimaurerlogen nach altägyptischem Ritus, den er natürlich selbst erfunden hatte, und nannte sich Großkophta.«
»So wie unser Cagliostro die Loge in Hamburg gegründet hat«, stellte ich fest. »Vielleicht ist der Name doch nicht so falsch gewählt. Was passiert eigentlich, wenn sich diese ganzen Zaubergenies treffen?«
»Sie betreiben Magie aus Passion. Das reicht von guter Hobby-Zauberei bis zu professionellen Fertigkeiten. Reihum ist jeder für eine Show verantwortlich und darf sich dabei von einem Profi wie Stefan unterstützen lassen. Natürlich versuchen sie sich gegenseitig zu übertrumpfen und die neuesten und aufregendsten Tricks zu präsentieren.«
»Das ist alles?« Ich war enttäuscht. »Eine Gruppe von reichen Männern, die sich gegenseitig Zaubertricks vorführen? Wozu die Geheimniskrämerei?«
»Ist das so schwer zu verstehen, Herr Wilsberg? Das sind nicht irgendwelche reichen Leute, in der Loge treffen sich einige der einflussreichsten Unternehmer und Politiker Hamburgs. In die Loge aufgenommen zu werden, ist wie ein Ritterschlag. Und nun stellen Sie sich mal vor, darüber würde öffentlich geredet und geschrieben. Senator X zaubert für den Chef der Y-Bank. Tolle Schlagzeile, was? Glauben Sie, diese Leute wollen sich lächerlich machen?«
»Was ist mit Frauen?«, fragte ich. »Gibt es in der Loge auch Frauen?«
»Nur die Assistentinnen bei den Vorführungen.«
Etwas an der Art, wie er den Satz aussprach, ließ mich stutzen. »Heißt das, die Frauen müssen mehr machen, als den Zauberern zur Hand zu gehen? Ihnen vielleicht auch in anderer Hinsicht zu Diensten sein?«
Der Ladenbesitzer grunzte. »Kann sein. Auf jeden Fall ist ihr Job nicht ungefährlich. Neue Tricks auszuprobieren, birgt immer ein gewisses Risiko. Zumal wenn sie von Leuten ausgeführt werden, die nicht ständig trainieren. Hinzu kommt der Ehrgeiz, den Thrill zu steigern.«
»Sie meinen so etwas wie den Kugeltrick?«
»Unter anderem. In der Magie ist manches komplizierter, als es aussieht. Ein falscher Handgriff und jemand kann sich schwer verletzen.«
Ich erinnerte mich an Annas Vermutung, dass bei Monettis letztem Auftritt in Hamburg etwas schiefgegangen sei. »Mal angenommen, Monetti und Isabel waren an einer Logensitzung beteiligt, die vollkommen aus dem Ruder lief …«
»Ich habe Ihnen schon viel zu viel gesagt. Was Sie daraus schließen, ist Ihre Sache.«
Wir bogen in die Lange Reihe ein. Der Zauberkasten war nur noch wenige Schritte entfernt.
»Wann haben Sie eigentlich aufgehört?«, fragte ich.
Kemmer blieb stehen. »Womit?«
»Mit der Zauberei.«
»Vor zwei Jahren. Als Jason Sinclair habe ich große Häuser gefüllt. Ganz allein, nicht wie die heutigen Magier, die zusammen mit ukrainischen Trapezkünstlern durch die Lande tingeln. Und sogar das wird immer schwieriger, weil ein Varieté nach dem anderen schließt. Vor zwanzig, dreißig Jahren galt Zauberei noch als Kunst, da musstest du nicht eine millionenschwere Bühnenshow hinlegen und schmutzige Witze reißen wie dieser David Copperfield. Da reichte es, wenn du eine gute Geschichte um deine Tricks gesponnen hast.«
»Aber Sie könnten es noch?«
»Manches verlernt man nicht. Wie Fahrradfahren. Doch eines Morgens bin ich aufgewacht und habe beschlossen, es ist vorbei. Aus den großen Häusern waren Hinterzimmer in Kneipen, Hotellobbys und Kinderfeste geworden. Bei Betriebsfeiern warteten die Leute auf die Erotikshow, für die ich das Vorprogramm machte. Das musst du dir nicht mehr antun, sagte ich mir. Ich habe noch die vereinbarten Termine absolviert – und das war’s dann. Zum Glück hatte ich ein bisschen was zur Seite gelegt. Genug, um diesen Laden hier zu eröffnen.« Er wandte sich ab. »Allerdings weiß ich nicht, wie ich ohne die Aufträge des Hanse-Theaters über die Runden kommen soll. Tun Sie mir einen Gefallen, Herr Wilsberg! Erwähnen Sie gegenüber Reichweiler bitte mit keiner Silbe, dass Ihre Informationen von mir stammen. Ich habe schon Probleme genug.«