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Wilsberg beißt auf Granit

Ich hielt es für keine gute Idee, aber Pia war nicht davon abzubringen. Sie wollte unbedingt und sofort zu Miguel und ihn zur Rede stellen. Dass jemand, der gerade eine geöffnete Gasflasche in einem Auto platziert hatte, sich vor einem unbewaffneten Detektivpaar nicht zu Tode erschrecken würde, ließ sie nicht gelten. Sie vertraute auf ihr Reizgas und vermutlich, obwohl sie es nicht erwähnte, darauf, dass mir im entscheidenden Moment etwas einfallen würde. Ich war da skeptischer. Doch mit dem Argument, dass sie eben allein fahren würde, falls ich nicht mitkäme, entschied Pia die Diskussion für sich und das Risiko.

Ein Taxi brachte uns ins Schanzenviertel. Widerwillig schaute ich aus dem Fenster. Der Regen hatte nachgelassen, aber der Himmel war immer noch grau verhangen. Kein Wetter, um das Schicksal herauszufordern. Einmal Todesangst pro Tag sollte in meinem Alter eigentlich reichen.

»Woran denkst du?«, fragte Pia.

»An die Unvernunft der Frauen.«

»Ich habe mit ihm getanzt. Ich habe ihn vor der Polizei beschützt. Ich will wissen, warum er das getan hat.«

»Verstehe«, sagte ich. »Hoffentlich erklärt er uns das, bevor er sein Messer zieht.«

»Du …«

»Schon gut«, würgte ich sie ab. »Wir haben ja heute unseren Glückstag.«

Der Taxifahrer setzte uns auf der Stresemannstraße ab. Pia führte mich in eine schmale Seitenstraße. »Isabel hat dort drüben gewohnt.«

Sie zeigte auf ein, abgesehen von den Schmierereien am Sockel, grünes Jugendstilhaus. »Miguel muss in einem der Nachbargebäude wohnen.«

Von irgendwo näherte sich Sirenengeheul. Wir passierten eine Toreinfahrt und hörten eine Stimme, die etwas brüllte. Pia und ich blieben gleichzeitig stehen. Die Stimme, die durch den Widerhall des Innenhofes hinter der Einfahrt verstärkt wurde, kannten wir beide nur zu gut.

»Lademann«, sagte ich.

Wir liefen durch den Torbogen, vorbei an Fahrrädern und Graffiti. Der kleine Innenhof diente in erster Linie als Abstellplatz für Müllsäcke, ein einziges, kümmerliches Bäumchen kämpfte dazwischen um Licht und Leben. Wir blickten nach oben. Lademann stand an einem Fenster im zweiten Stock und redete auf einen Mann ein, der außen an der Hauswand klebte.

»Miguel«, erklärte Pia.

Der Mauervorsprung, auf dem Miguel balancierte, bot ausreichend Platz für eine Taube oder eine tollkühne Katze. Für Menschen war er viel zu schmal. Ich spürte, dass meine Fußsohlen kribbelten. Schon vom bloßen Hinsehen bekam ich Höhenangst.

»Scheiße«, murmelte Pia. Und lauter: »Miguel! Bist du verrückt?«

Mit angstverzerrtem Gesicht starrte er zu uns herab. »Pia!«

Ich bemerkte, dass seine Beine zitterten.

»Nicht nach unten gucken!«, rief Pia. »Drück dich gegen die Wand!«

Lademann wedelte mit dem Arm. »Verschwinden Sie da!«

»Wir kommen rauf.« Bevor der Hauptkommissar etwas erwidern konnte, rannte Pia los. Und ich hinterher.

Vor dem Haus stoppten gerade zwei Streifenwagen. Die Haustür war nicht verschlossen. Wir stürzten die Treppe hinauf. Im zweiten Stock mussten wir nicht lange suchen, eine der Wohnungstüren hing nur noch auf dem unteren Zapfen. Wir drückten uns an dem demolierten Türblatt vorbei und kamen in einen schmalen, mit Kisten und anderem Gerümpel vollgestellten Flur. Rechts eine große Küche mit Bergen von schmutzigem Geschirr, links ein Zimmer mit Bett und Schreibtisch. Es roch nach Männer-WG. Das zweite Zimmer auf der rechten Seite schien Miguel zu gehören, Lademann und Petersen standen vor dem einzigen Fenster. Als sie uns hörten, drehte sich Lademann kurz um und zischte seinem Untergebenen einen Befehl zu.

Petersen kam uns mit ausgebreiteten Armen entgegen. »Sie dürfen hier …«

»Weg da!«, fauchte Pia ihn an.

Resigniert ließ der junge Kriminalbeamte die Arme sinken. Ich tat ihm den Gefallen und blieb in der Mitte des Raumes stehen. Am Fenster war ohnehin nur Platz für zwei.

Zwischen Pia und Lademann entspann sich ein kurzer Wortwechsel, in dem Pia behauptete, erheblich geeigneter zu sein, Miguel zur Rückkehr in die Wohnung zu bewegen. Lademann schnaubte ein paarmal und gab dann nach: »Meinetwegen. Versuchen Sie es!«

Ich lächelte Petersen an. »Warum haben Sie nicht geklopft, bevor Sie die Tür eingetreten haben?«

»Das haben wir.«

»Aber irgendetwas muss Miguel heftig verschreckt haben.«

»Wahrscheinlich die Aussicht, wegen Mordes angeklagt zu werden.«

»Er war es also?«

»Ich kann …«

»Sie dürfen mir nichts sagen, schon klar.« Ich schaute mich um. Über dem Bett, das an der Seitenwand stand, hingen Fotos. Aufnahmen im Postkartenformat, die mit Heftzwecken an der Tapete befestigt waren.

Petersen registrierte meinen Blick. »Fassen Sie bloß nichts an! Am besten …«

»Petersen!«, knurrte Lademann.

»Ja, Chef?«

»Wo bleibt die verdammte Feuerwehr? Die sollen endlich ein Scheißsprungtuch aufspannen.«

Petersen drehte sich um. »Die müssen jeden Moment hier sein.«

»Wir haben keine Zeit mehr. Der Typ ist am Ende.«

Ich trat näher an die Fotos heran. Sie waren offenbar in Kuba entstanden, im Hintergrund konnte ich ärmliche Häuser mit abblätternden, pastellfarbenen Hausanstrichen oder Palmen erkennen. Im Vordergrund Isabel Ortega, mal allein, mal mit Freundinnen. Auf einem Foto hatte Miguel sie besitzergreifend an sich gezogen und grinste breit in die Kamera.

Petersen zog mich zurück. »Habe ich nicht gesagt …«

Ich zeigte auf die Fotos. »Ist das das Mordmotiv? Eifersucht?«

»Sieht so aus. Vermutlich hat Miguel Lopez von Isabels Affäre mit Reichweiler erfahren. Zwei Haare, die wir an Isabels Leiche gefunden haben, konnten wir eindeutig Lopez zuordnen.«

»Und wie sind Sie auf Miguel gekommen?«

»Wir haben alle Leute aus Isabels Umfeld überprüft, auch ihre Kollegen mussten Speichelproben abgeben. Und das Ergebnis war eindeutig.«

»Petersen!«, brüllte Lademann. »Was treiben Sie da?«

»Nichts«, sagte ich.

»Halten Sie endlich die Klappe!«, fauchte Pia den Hauptkommissar an. Dann beugte sie sich wieder aus dem Fenster. »Nur noch drei Schritte, Miguel. Komm, das schaffst du! Ja, so ist es gut.«

»Lassen Sie mich mal ran!« Lademann schob Pia zur Seite und streckte seinen Arm aus. »Greif nach meiner Hand, Junge! … Okay, ich habe dich.«

Ein Schrei. Lademann wurde nach vorn gerissen und landete mit dem Bauch auf dem Fensterbrett. Dann ein dumpfer Aufprall.

»Scheiße! Scheiße!«, kam es von Lademann.

»Miguel!« Pia zwängte sich neben den Kripomann. »Miguel!«

Noch ein Schrei. Ein Schmerzensschrei diesmal, der in ein Stakkato von Schmerzlauten überging. Miguel lebte.

»Einen Krankenwagen!« Lademann gewann seine Form zurück. »Muss ich mich denn um alles selber kümmern, Petersen?«

»Ist angefordert, Chef.«

Ich ging zu Pia und legte ihr einen Arm um die Schulter.

»Er ist Gott sei Dank auf die Müllsäcke gefallen«, flüsterte Pia.

»Schaffen Sie diese Leute raus!« Lademann winkte den beiden uniformierten Polizisten, die in der Zimmertür standen. »Die haben hier nichts verloren.«

Ich wandte mich zu ihm um. »Sie haben nicht zufällig seine Hand losgelassen? Um das Problem aus der Welt zu schaffen?«

»Lecken Sie mich, Wilsberg! Sie sind längst nicht aus dem Schneider. Für den Mord an Kemmer habe ich Anna Ortega zur Fahndung ausgeschrieben. Und Sie kommen immer noch als Komplize infrage.«

 

Während der Taxifahrt schwiegen wir beide. Daraus, dass sie dem Taxifahrer als Ziel ihre Wohnungsadresse genannt hatte, schloss ich, dass Pias Bedarf an Aufregung vorläufig gedeckt war. Mir kam das sehr entgegen. Für den Rest des Nachmittags und den Abend hatte ich keine weiteren Pläne, als auf Pias Sofa zu sitzen und vielleicht das eine oder andere Glas Rotwein zu leeren. Nach der Nacht in Polizeigewahrsam und den Ereignissen des bisherigen Tages fühlte ich mich so schlapp wie ein Fahrradschlauch, der Bekanntschaft mit einem Haufen Glasscherben gemacht hat. Und Pia erging es offenbar nicht anders.

»Ich verstehe das nicht«, sagte sie leise. »Dieser Typ soll mir eine Gasflasche ins Auto gelegt haben? Hast du seine Augen gesehen? Wie er mich angeguckt hat? Das passt doch nicht zusammen.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Er hatte Angst um sein Leben. Wahrscheinlich wollte er sich nicht umbringen, sondern flüchten, als die Polizei an die Tür geklopft hat. Ist kopflos aus dem Fenster geklettert und merkte plötzlich, dass es kein Vor und Zurück gab. In solchen Situationen werden auch Mörder zu hilflosen, mitleiderregenden Wesen.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass er mich töten wollte.«

»Aber er hat es versucht. Zumindest ist Miguel derjenige, den ich heute Morgen neben deinem Auto gesehen habe.«

Das Taxi hielt auf der Husumer Straße und wir stiegen die Treppe zu Pias Wohnung hinauf. Sie nahm den Schlüssel aus der Tasche und wollte ihn ins Türschloss stecken, als sie plötzlich verharrte.

»Was ist?«, fragte ich.

Sie legte den Zeigefinger vor den Mund. »Sie könnten noch drin sein.«

Jetzt sah ich es auch. Die Kratzer neben dem Schloss deuteten darauf hin, dass es aufgebrochen worden war. Pia stieß mit der Fingerspitze gegen das Holz, die Tür schwang widerstandslos ein paar Zentimeter nach innen.

»Wir sollten die Polizei anrufen«, flüsterte ich.

Pia lauschte. »Ich höre nichts.«

»Aber …«

»Die können mich mal.« Sie schlug so fest gegen die Tür, dass diese gegen die Wand krachte. »Die Polizei ist unterwegs.« Selbst im letzten Winkel der Wohnung musste ihre Stimme zu vernehmen sein. »Wer auch immer hier ist, sollte lieber keinen Gedanken daran verschwenden, seinen Arsch zu retten.«

Niemand antwortete.

Der oder die Einbrecher waren längst verschwunden. Und sie hatten gefunden, was sie gesucht hatten: Die DVD mit den Aufnahmen aus dem Zauberclub war ebenso weg wie die Computerfestplatte, auf der Pia das Standfoto gespeichert hatte. Alles andere hatten die Eindringlinge gründlich durchsucht. Die Fußböden sämtlicher Räume waren übersät mit dem Inhalt von Schubladen und Regalen. Einiges war mutwillig zerstört worden. Das reinste Chaos.

»Verdammte Scheiße!« Pia wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. »Ich habe keinen Bock mehr.«

»Die sind uns immer einen Schritt voraus«, stimmte ich zu. »Es war einfach zu blöd von uns, die Sachen hierzulassen. Wir hätten sie in ein Schließfach bringen sollen.«

»Tolle Idee, Georg.« Sie ließ sich auf das Sofa fallen. »Warum bist du nicht früher darauf gekommen?«

»Polizei! Drehen Sie sich um! Ganz langsam!«

Ich drehte mich um.

In der Tür standen zwei uniformierte Polizisten, die ihre Pistolen auf uns richteten.

»Was machen Sie hier?«, fragte der Wortführer der Dunkelblauen.

»Ich wohne hier«, antwortete Pia. »Obwohl es im Moment nicht so aussieht.«

»Können Sie sich ausweisen?«

»Natürlich kann ich das.« Pia stand auf und griff zu ihrer Handtasche.

»Nicht so schnell!«, fuhr der Polizist sie an.

»Aber das ist doch Frau Petry.« Ein schwabbeliger Endfünfziger mit rudimentärem Haarwuchs, der seinen Körper in einem Ballonseidenanzug ausführte, schob sich zwischen den Polizisten hindurch. »Tut mir leid wegen der Unannehmlichkeiten, Frau Petry. Ich habe die aufgebrochene Tür gesehen und die Polizei alarmiert. Das war doch in Ihrem Sinne, oder?«

»Das war sehr umsichtig von Ihnen, Herr Rebbelmeier«, sagte Pia mit eiskaltem Lächeln.

Ein wenig enttäuscht über die entgangene Festnahme, steckten die Polizisten ihre Pistolen in die Holster zurück. »Ich nehme an, Sie wollen Anzeige erstatten?«, erkundigte sich der Wortführer geschäftsmäßig.

»Nein, das möchte ich nicht. Vielen Dank für Ihre Bemühungen.«

Auf der Stirn des Polizisten kräuselte sich ein Fragezeichen. »Und die Verwüstung? Kennen Sie etwa denjenigen, der das getan hat?«

»Wenn Sie jetzt bitte gehen würden!« Pias Nerven lagen blank.

Rebbelmeier verfolgte den Abgang der Polizisten mit einem jovialen Grinsen, das noch anhielt, als er sich Pia zuwandte. »Falls Sie Hilfe brauchen …« Er rieb seine fleischigen Hände. »Beim Aufräumen, meine ich.«

»Sie auch!«

»Was?«

»Gehen! Machen Sie die Tür von außen zu! Soweit das möglich ist.«

Der Ballonseidenträger schloss sich der Karawane der Beleidigten und Gekränkten an.

Als wir unter uns waren, sagte ich: »Dieser Rebbelmeier …«

»Die größte Nervensäge weit und breit.«

»… stand vor ein paar Tagen im Hauseingang auf der anderen Straßenseite. Als ich dich angerufen habe, weil ich dachte, er sei einer von Reichweilers Leuten.«

»Richtig, Georg. Hat dir die Nacht auf meiner Couch nicht gefallen?«

Ich steckte die Spitze weg. »Ernsthaft, Pia: Ich sollte hierbleiben. Die könnten noch mal zurückkommen. Und die Tür lässt sich nicht verriegeln.«

»Ich werde einen Schrank vor die Tür schieben.«

»Der lässt sich doch ganz einfach zur Seite drücken«, widersprach ich.

Ihre Stimme bekam einen hysterischen Unterton. »Hast du es immer noch nicht begriffen? ICH WILL ALLEIN SEIN. VERDAMMT NOCH MAL!«

Meine Lebenserfahrung sagte mir, dass jede weitere Diskussion zwecklos war.

Pia riss sich zusammen, bis ich die Wohnungstür erreichte. Dann hörte ich ihr Schluchzen.