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Wilsberg geht die Luft aus

Reichweilers Fratze wurde durch das Glas verzerrt. Er redete, aber ich verstand ihn nicht. Das Glas war zu dick. Und um mich herum Wasser. Ich steckte in einem riesigen Glasgefäß, das bis zum Rand mit Wasser gefüllt war. Die Oberfläche war ganz nah. Zehn Zentimeter, vielleicht zwanzig. Dort würde ich Luft bekommen. Ich wollte mich abstoßen, doch meine Füße klebten am Boden. Schwere eiserne Ketten hielten mich unten. Und meine Hände waren mit einem Seil auf dem Rücken gefesselt. Mal sehen, ob Sie so gut sind wie Houdini, hatte Reichweiler gesagt. Houdini, der große Entfesselungskünstler. Bestimmt beruhten seine Nummern auf Tricks. Meine Fesseln dagegen waren echt. Meine Atemnot war echt. Die Lunge brannte. Wie lange war ich schon unter Wasser? Eine Minute? Zwei Minuten? Wie lange kann ein Mensch ohne Luft überleben? Drei Minuten? Vier Minuten? Reichweilers Konturen verschwammen, ich wurde ohnmächtig. Alles schwarz. Ich öffnete den Mund …

… und schnappte nach Luft. Schnellte hoch und brauchte noch einige Sekunden, bis ich wieder atmen konnte. Saß auf Pias Couch und sog den herrlichen Sauerstoff ein. Dann sank ich auf das Kissen zurück und wischte mir den Schweiß von der Stirn. Atemaussetzer im Schlaf hatten mich schon öfter geweckt. Doch noch nie waren sie von einem derart überzeugenden Albtraum begleitet gewesen.

Draußen wurde es hell. Ein weiterer sonniger Herbsttag kündigte sich an. Mit Temperaturen, die für die Terrasse eines Cafés an der Außenalster oder einen Spaziergang an der Elbe reichten. Im letzten Herbst hatten Pia und ich ganze Wochenenden so verbracht. Als wir noch über Dinge reden konnten, die nichts mit Arbeit, Tod und Verbrechen zu tun hatten. Als es so aussah, als würden wir uns Schritt für Schritt näherkommen.

Ich schlug die Decke zurück und stand auf. Daniela Hansen kam mir in den Sinn. Ich sah sie mit bedrückter Miene in ihrem Wohnzimmer-Empfang sitzen, vor einem gedeckten Frühstückstisch, der schon wieder unberührt bleiben würde. Falls ich noch mal nach Hamburg kommen sollte, musste ich unbedingt in einem großen, anonymen Hotel absteigen. Wo sich niemand Sorgen um mich machte.

Nachdem ich mich angezogen hatte, schlurfte ich in die Küche.

»Was machst du da?« Pia stand im Morgenmantel in der Tür. Ihre schlanken Beine sahen göttlich aus. Ich überlegte, was wohl passieren würde, wenn ich zu ihr ging und den Gürtel öffnete.

»Ich suche den Kaffee.«

»Im Hängeschrank oben links.« Sie gähnte. »Wieso bist du so früh auf?«

»Ich hatte einen Albtraum.«

Ihre Antwort beschränkte sich auf ein Brummen. Ob mitfühlend oder schlecht gelaunt, war nicht auszumachen. Immerhin weckte das Geräusch weitere Erinnerungen. Als eingefleischte Morgenmuffel hatten wir vor und während des Frühstücks selten viel geredet. Damals.

Ich schaufelte Kaffee in den Filter. »Ich hole Brötchen. Einverstanden?«

Sie brummte erneut. »Ich bin unter der Dusche.«

 

Eine halbe Stunde später saßen wir am Frühstückstisch und besprachen unser weiteres Vorgehen. Dass es sich lohne, Frau Reichweiler zu besuchen, um Herrn Reichweilers Geschichte zu überprüfen. Pias lange Haare glänzten feucht. Sie trug ein enges T-Shirt und Jeans. Während wir diskutierten, dachte ich an eine Kanufahrt, die wir mal unternommen hatten. Wie wir unter überhängenden Bäumen auf einem der kleinen Kanäle die Paddel hochgenommen und uns auf den mit Kissen gepolsterten Boden des kleinen Bootes gelegt hatten.

Mein Handy klingelte.

»Was tun Sie, Georg?«, fragte Anna Ortega.

»Ich frühstücke.«

Ich schaute zu Pia, die fragend ihre Augenbrauen hochzog. Mit den Lippen formte ich ein lautloses Anna.

»Eigentlich wollte ich wissen, was Sie machen, um den Mörder meines Mannes zu finden. Und den von Isabel. Wenn Sie gerade nicht frühstücken.«

»Ich habe schon einiges herausgefunden.« Selbst für mich klang der Satz nach schlechtem Gewissen. Ausführlich schilderte ich, wie ich auf die Spur von Reichweiler gekommen war, ebenso detailliert malte ich die Begegnung im Büro des Reeders aus. Um zu kaschieren, dass ich die letzten beiden Tage mehr an Pia als an den Fall gedacht hatte.

»Glauben Sie, Reichweiler hat Isabel getötet?«, fragte Anna.

»Er behauptet, ein Alibi zu haben. Aber ich bin davon überzeugt, dass er mehr weiß, als er zugeben will. Wir … ich meine, ich werde an ihm dranbleiben.«

»Wir?« Anna hatte meinen Versprecher bemerkt.

»Eine Kollegin aus Hamburg, die mit mir zusammenarbeitet. Sie kannte Isabel. Isabel war ihre Tanzlehrerin.«

Pia schüttelte den Kopf und begann, den Tisch abzuräumen.

»Ah«, sagte Anna. »Ich habe auch etwas entdeckt. In Stefanos Timer.« Sie sprach es Tiemer aus und ich begriff zunächst nicht, was sie meinte.

»Sein diario.«

»Tagebuch. Und was?«

»Ein Name. Sein Kontaktmann in Hamburg. Offenbar der, der ihn bezahlt hat.«

»Und wie heißt der Mann?«

»Cagliostro.«

»Cagliostro?«

Sie schnaufte wie eine Lehrerin, die es mit einem besonders begriffsstutzigen Schüler zu tun hat. »Das ist bestimmt nicht sein richtiger Name. Finden Sie heraus, wer er ist, Georg. Cagliostro kann Ihnen sagen, was bei Stefanos letztem Auftritt in Hamburg passiert ist. Verstehen Sie?«

»Ja. Da fällt mir ein: Hat Ihnen Isabel mal etwas von einem Nebenjob in der Show-oder Varietébranche erzählt?« Ich berichtete von den Kleidern, die Pia in Isabels Wohnung entdeckt hatte.

Anna dachte nach. »Als Kinder haben wir uns beide für Zauberei interessiert. Isabel war ein richtiger Star, bei Familienfeiern und in der Schule. Leider hat sie nichts aus ihrem Talent gemacht.« Anna seufzte. »Ob sie in Deutschland aufgetreten ist? Ich weiß es nicht. Wie ich schon sagte, Isabel und ich hatten kein gutes Verhältnis. Ihr Leben war ganz anders als meines. Schon auf Kuba.«

»In welcher Beziehung?«

»Sie hat Dinge gemacht, die ich nicht verstanden habe. Und sie hatte Freunde, die ich nicht leiden konnte. Dass sie es geschafft hat, nach Deutschland zu kommen, war ihr großes Glück.«

»Wie hat sie das eigentlich geschafft?«

»Mit einem Ausreisevisum. Dazu braucht man eine Einladung und ein paar Bescheinigungen. Ist das so wichtig, Georg? Isabel ist tot. Kümmern Sie sich um Cagliostro! Und um Reichweiler!«

Anscheinend wollte sie nicht länger über ihre Schwester reden. Wir beendeten das Gespräch mit meinem Versprechen, mich zu melden, sobald ich etwas Neues wisse.

»Wer ist Cagliostro?«, fragte Pia, nachdem ich das Handy in die Tasche gesteckt hatte.

»Ein Deckname. Cagliostro ist der Mann, der wahrscheinlich Monettis Privatauftritte in Hamburg organisiert und ihn dafür bezahlt hat.«

»Bringt uns das weiter?«

»Im Moment nicht. Allerdings ist mir vorhin ein anderer Gedanke gekommen: Wäre es nicht möglich, dass Isabel Monetti bei dem Unterricht assistiert hat?«

Pia verstand, was ich meinte. »Dann gäbe es tatsächlich einen Zusammenhang zwischen beiden Todesfällen.«

Ich nickte. »Richtig.«

»Hast du eigentlich schon deinen Vorschuss bekommen?«, fragte Pia beiläufig.

»Noch nicht.«

Pia sah mich skeptisch an. »Du arbeitest also aus reiner Nächstenliebe?«

»Quatsch. Wir haben eine Bezahlung vereinbart. Ich mache nur meinen Job.«

»Aber bis jetzt hast du kein Geld gesehen«, sagte sie und atmete tief durch. »Kann es sein, dass Anna hübsch ist?«

»Sie sieht ganz apart aus. Das schon. Aber eigentlich ist sie nicht mein Typ. Ich stehe nicht so auf Latinas …«

»Schon gut, Georg, du brauchst dich nicht zu verteidigen.«

Da war es wieder, das Misstrauen, das wie glibberiger Schleim an uns klebte. Für alle Zeiten, wie es schien.

Pia drehte sich um und räumte das schmutzige Frühstücksgeschirr in die Spülmaschine. »Ich glaube, es ist besser, wenn wir getrennt vorgehen.«

»Hört sich vernünftig an«, stimmte ich zu.

»Ich werde mir Frau Reichweiler vornehmen«, teilte sie der Wand über der Spüle mit.

»Dann rede ich noch mal mit Kemmer«, sagte ich ohne Enthusiasmus. »Jetzt habe ich ja einen Namen. Und so leicht wie beim ersten Mal kommt er mir nicht davon.«