20

Pia Petry hat ein schlechtes Gewissen

Mir ist übel. Schuld daran ist die Currywurst. Was weniger an ihrer Qualität als an der Tatsache liegt, dass ich so spät abends fettiges Essen nicht sonderlich gut vertrage. Ein wenig hilft der Mojito, an dem ich nippe, während ich das Treiben im Cucaracha beobachte.

Nachdem ich mich von Florian von Sandleben verabschiedet hatte, wollte ich eigentlich nach Hause fahren. Am Fernsehturm habe ich mich dann aber falsch einsortiert, bin, anstatt geradeaus zu fahren, links abgebogen und irgendwie im Schanzenviertel gelandet. Da ich an Vorhersehung und Zeichen glaube, kam mir der Gedanke, dass mir diese Odyssee etwas sagen soll: In der Schanze wartet noch eine Aufgabe auf mich. Und als ich den Wagen in einer Parklücke am Schulterblatt abstelle, fällt mir auch wieder ein, welche das sein könnte.

Im Moment sieht es mit der Realisierung allerdings nicht gut aus. Weit und breit ist keine Juanita zu sehen. Dafür steht Miguel an der gegenüberliegenden Wand und ist völlig in den Anblick seiner Schuhspitzen vertieft.

Mit dem Glas in der Hand schlendere ich auf ihn zu. Als ich nur noch wenige Meter von ihm entfernt bin, hebt er den Kopf. Ich verharre mitten in der Bewegung, dann drehe ich ab, gehe zurück zum Tresen und klettere auf einen der Barhocker. Die Currywurst fängt wieder an, in meinem Magen zu rumoren, und ich kippe den Rest meines Mojitos hinunter. Doch die Wurst war nicht der Grund, warum ich umgedreht bin. Es war diese Bewegung, diese für einen Mann eigentlich viel zu anmutige, fast grazile Art, den Kopf zu heben, die mich irritiert und an etwas erinnert hat. Und zwar an den Gärtner in Reichweilers Rosenbeet. Als er mich am Fenster entdeckt und zu mir hochgesehen hat.

Während ich noch darüber nachgrübele, ob die Tatsache, dass Miguel für Isabels Liebhaber Gartenarbeiten verrichtet, irgendeine Bedeutung für den Fall haben könnte, entdecke ich Juanita, die eilig an mir vorbei Richtung Toilette läuft.

Ich folge ihr und fange sie ab, bevor sie in einer der Kabinen verschwinden kann. »Juanita!«

Sie dreht sich zu mir um. Und ich zucke zusammen. Irgendjemand hat ihr ein Veilchen verpasst. Die Haut um ihr linkes Auge herum ist geschwollen und grünlich verfärbt.

»Was ist denn passiert?«, frage ich erschrocken.

Sie presst die Lippen zusammen.

»Juanita!«

»Nichts«, sagt sie.

»Wer was das?«

»Ein Unfall.«

»Das glaube ich nicht.«

Sie zuckt mit den Schultern und strebt auf eine der Türen zu. Ich halte sie am Arm fest. »Juanita, wer war das?«

»Miguel«, sagt sie.

»Miguel? Der Miguel, der hier arbeitet?«

»Das hättest du nicht gedacht, nicht wahr?« Triumphierend sieht sie mich an. »Der nette, liebe Miguel, der gar nicht so nett und lieb ist, wie jeder meint.« Sie kämpft mit den Tränen. »Ich weiß nicht, was mit ihm los ist. Er hat zwei Gesichter. Wie Dr. Jekyll and Mr Hyde«, schluchzt sie.

»War das immer schon so?«, frage ich und kann nicht ganz glauben, was ich höre.

»Nein.«

»Hast du eine Idee, woran das liegt? Hat er irgendeinen Stress? Gibt es irgendwelche Probleme?«

Sie mustert mich böse, so als wäre ich an ihrer Verletzung schuld, und presst die Lippen wieder fest aufeinander.

Offensichtlich werde ich auf diese Frage keine Antwort erhalten. Ich versuche es mit einer anderen. »Seid ihr ein Liebespaar?«

»Waren! Wir waren ein Liebespaar. Aber auf die Machonummer habe ich keinen Bock. So lasse ich mich nicht behandeln. Von niemandem. Und außerdem …« Sie blinzelt gegen ihre Tränen an. »Außerdem ging es ihm anscheinend die ganze Zeit nur um Isabel.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Isabel«, schnappt sie, »war eine Nutte. Die hat auf Kuba angeschafft. Sie ist nur von dort weg, weil ihr Zuhälter sie ständig verprügelt hat. Ich würde mich nicht wundern, wenn sie auch hier auf den Strich gegangen wäre. Und in so eine Schlampe verliebt er sich. Seit sie tot ist, tut Miguel, als wäre sie die tollste Frau der Welt gewesen. Da ist von ihrer Vergangenheit auf einmal keine Rede mehr … «

»Die Geschichte mit der Prostitution«, frage ich, »ist das eine Vermutung oder eine Tatsache?«

»Das hat Miguel mir selbst erzählt.«

»Hat er dich deshalb geschlagen? Weil du über Isabel anderer Meinung bist?«

Sie schüttelt den Kopf. »Nein. Das ist gestern Nacht passiert. Da fing er mich vor der Haustür ab und wollte im Flur …«

Sie bricht ab und kämpft schon wieder mit den Tränen. »So war er noch nie«, sagt sie leise. »So habe ich ihn noch nie erlebt.«

»Ging es um Sex?«, frage ich vorsichtig.

Die Tränen laufen jetzt hemmungslos über ihre Wangen. Ich greife nach ihrem Arm, will sie trösten. Aber sie schüttelt mich ab, dreht sich um und verschwindet in einer der Kabinen.

Unschlüssig bleibe ich zurück. Überlege, ob ich hinter ihr her und sie weiter unter Druck setzen soll. Doch dann höre ich sie so herzzerreißend schluchzen, dass ich es nicht über mich bringe, sie noch mehr zu bedrängen.

 

Als ich nach Hause komme, brummt mein Schädel. Die laute Musik und das Stimmengewirr im Club hallen wie eine nicht enden wollende Kakophonie in meinem Kopf nach. Hinzu kommt die Currywurst, die sich immer noch in regelmäßigen Abständen meldet.

Kein Wunder, dass ich nicht einschlafen kann und sämtliche Eindrücke und Gesprächsfetzen des Abends wiederkäue. Grauenhaft.

Ich mache das Licht noch einmal an und lese ein bisschen. Nach wenigen Buchseiten fallen mir die Augen zu. Doch kaum habe ich das Licht gelöscht, fährt mein Hirn wieder hoch und spult das gleiche Programm von vorn ab. Als ich endlich einschlafe, ist es vier Uhr morgens. Als der Wecker klingelt, ist es acht. Entsprechend schlecht gelaunt beginne ich den Tag.

 

Im Büro wartet eine Überraschung auf mich. Cornfeld ist schon da. Allerdings schläft er. Sein Kopf ist auf den Schreibtisch gesunken, sein Haar hängt ihm wirr ins Gesicht, sein Mund steht offen. Den Fremdenführer für russische Milliardärsgattinnen zu spielen, scheint ganz schön anstrengend zu sein.

Gerührt über so viel Arbeitseifer, betrachte ich sein Gesicht, das so jung und unschuldig wirkt, dass ich ihn am liebsten wach küssen würde. Doch verkneife ich mir das lieber und streiche ihm stattdessen eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

Er zuckt zusammen und fährt in die Höhe. »Was? Michaela!«

»Michaela!«, rufe ich aus und meine Laune sinkt in den Keller. Seine Müdigkeit ist also kein Beleg für seinen Arbeitseifer, sondern die Folge einer vergnüglichen Nacht. Mit einer jener unzähligen jungen, zumeist sehr hübschen Frauen, die in seinem Leben genauso schnell auftauchen, wie sie wieder verschwinden.

»Michaela heißt sie also«, sage ich.

Cornfeld nickt und strahlt mich mit dem dümmlichen Gesichtsausdruck verliebter Männer an. Deutliches Zeichen einer fortgeschrittenen Hormonvergiftung.

»Und?«, frage ich. »Die große Liebe?«

»Mindestens.«

Es passiert, was ich kaum für möglich gehalten habe, er schafft es, noch drei Nuancen dämlicher auszusehen.

»Sie müssen ja echt Kondition haben. Den ganzen Tag Frau Gerassimov durch die Stadt kutschieren und nachts noch genügend Energie aufbringen, um die gute Michaela zu beglücken.«

Er grinst breit. »Aber jetzt bin ich echt hundemüde. Man wird ja auch nicht jünger.«

Kopfschüttelnd stehe ich vor ihm und frage mich, wie lange es diesmal wohl dauern wird. Eine Woche, zwei Wochen, drei Wochen? Wenn ich mich recht entsinne, liegt sein Rekord bei drei Monaten. Das ist aber auch nur ein Mal vorgekommen und war die absolute Ausnahme.

»Wie lange müssen Sie eigentlich noch das Kindermädchen für diese Ivana spielen?«

»Noch eine Woche. Dann kommt die Jacht wieder aus dem Dock.«

»Prima«, erwidere ich und krame den in ein Tempotaschentuch eingewickelten Tierknochen aus meiner Tasche. Ich wickle ihn vorsichtig aus und halte ihn Cornfeld auf der flachen Hand hin.

»Ich wüsste gern, von welchem Tier der stammt.«

»Warum?«, fragt Cornfeld und starrt mit angeekelter Miene auf die tierischen Überreste.

In aller Kürze berichte ich ihm von Wilsbergs und meinem Besuch im Zauberclub.

»Diese Magier scheinen bei ihren Tricks mit Tieren zu arbeiten, die die Vorführungen nicht überleben«, sage ich. »Wir haben ein Papageienpärchen dort gesehen, eine Menge leerer Käfige und einen Abfalleimer, in dem unter anderem dieser Knochen lag. Falls diese Typen für ihr dämliches Hobby Dutzende von Tieren umbringen, ist das eine Riesensauerei.«

»Mal sehen. Ich habe einen Freund, der Biologie studiert. Vielleicht kann der uns weiterhelfen«, antwortet Cornfeld und nimmt mir vorsichtig das Taschentuch mit dem Knochen aus der Hand. »Hinweise darauf, dass Frau Reichweiler einen schwungvollen Mädchenhandel betreibt, haben Sie aber nicht gefunden?«

»Nein. Nicht den geringsten. Und wie ist es bei Ihnen? Konnten Sie schon etwas in Erfahrung bringen?«

Er schüttelt den Kopf. »In den Foren hat noch nie jemand etwas von einem solchen Club gehört. Und die beiden Taxifahrer, mit denen ich gesprochen habe, konnten mir auch nicht weiterhelfen. Aber ich bleibe dran. Vielleicht kann mir ja der ein oder andere Wirt etwas erzählen.«

»Noch was«, sage ich. »Wenn sich mein Verdacht, dass die Magier bei ihren Zaubernummern Tiere töten, bestätigt, müssen wir diesen Idioten das Handwerk legen. Ich weiß aber noch nicht, wie …«

Cornfeld mustert mich nachdenklich. »Sie haben doch erzählt, dass es in diesem Club eine Kamera gibt.«

Ich nicke.

»Mit oder ohne Kabel?«

»Ohne.«

Er schnalzt mit der Zunge. »Also arbeiten die mit WLAN. Mit Funk.«

»Das klingt so, als hätten Sie eine Idee.«

Er grinst breit. »Richtig. Aber ich verrate sie Ihnen erst, wenn ich weiß, ob es auch klappt.«

»Geben Sie mir einen Tipp. Einen Hinweis. Irgendetwas«, bettele ich.

Doch er bleibt stur. Und da ich ihn kenne und weiß, dass er sich in solchen Situationen nicht erweichen lässt, gebe ich auf. Vorerst.

»Okay«, sage ich und gehe zur Tür. »Möchten Sie einen Kaffee?«

Cornfeld bejaht und ich mache mich auf den Weg in die Küche, als es klingelt.

»Kundschaft!«, rufe ich erfreut, laufe in den Flur und öffne die Tür.

Am liebsten würde ich sie gleich wieder zuschlagen. Wilsberg steht vor mir. Mit einer Frau im Schlepptau, die für meinen Geschmack viel zu hübsch ist. Die gute Nachricht ist: Ihr Outfit wirkt ein bisschen billig. Der Rock ist zu kurz, der Pulli zu eng, die Schuhe zu hoch. Die schlechte Nachricht ist: Sie kann es sich leisten. Sie hat eine super Figur, ein hübsches Gesicht und dichtes, leicht welliges dunkles Haar. Sogar ihre langen, im French Style lackierten Fingernägel sind perfekt. Doch meinem Laserblick entgeht nichts. Innerhalb von Sekunden habe ich ihre Schwachstelle entdeckt: Sie hat hässliche kleine Knubbelohren. Mitleidig sehe ich sie an und signalisiere ihr mit einem Blick: Du bist keine Konkurrenz. Nicht für mich.

Sie signalisiert zurück: Wenn du dich da mal nicht täuschst.

Das fängt ja gut an.

 

Ich habe ihnen die Tür natürlich nicht einfach vor der Nase zugeschlagen, sondern sie hereingebeten, ihnen einen Platz in meinem Büro angeboten und Cornfeld dazugerufen. Wie sich herausstellte, heißt Wilsbergs Begleiterin Anna Ortega, ist seine Auftraggeberin und Isabels Schwester. Cornfeld, dem Annas hässliche Ohren entweder nicht aufzufallen oder den sie nicht zu stören scheinen, ist von ihr derart hingerissen, dass ich ihn zwei Mal bitten muss, Kaffee für unsere Gäste zu holen, bevor er endlich das Büro Richtung Küche verlässt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Michaelas Marktwert gerade eine rasante Talfahrt erlebt. Wenn sich das Thema mit dem Auftauchen von Anna nicht ohnehin schon erledigt hat. Was mich aber noch mehr ärgert, ist, dass Wilsberg einen genauso verblödeten Eindruck macht. Wenn er Anna ansieht, strahlt er wie ein Honigkuchenpferd, seine Stimme klingt, als hätte er drei Nächte durchgesoffen, und seine Körpersprache signalisiert eine merkwürdige Mischung aus Aufgedrehtheit und Verlegenheit.

Und dann kommt’s. Anna öffnet den Mund. »Wir haben eine Leiche gefunden«, sagt sie und blickt verstört.

Wie niedlich – sie hat einen spanischen Akzent … Was hat sie da gerade gesagt? Sie haben eine Leiche gefunden?

»Was habt ihr gefunden?«, frage ich.

»Kemmer«, erklärt Wilsberg. »Den Besitzer des Zauberladens. Er lag in seinem eigenen Geschäft in einem Holzkasten, der für den Trick mit der zersägten Jungfrau vorgesehen war …«

»Nein!«, sage ich entsetzt.

»Doch«, sagt Wilsberg. »Sie haben ihn in der Mitte durchgesägt.«

»Das ist ja grässlich«, höre ich Cornfelds Stimme, der gerade mit zwei Kaffeebechern in der Hand den Raum betritt. »Wer macht denn so was?«

»Ein Schwein macht so was«, sagt Anna mit Nachdruck. »Ich gehe da hin!«

Cornfeld und Wilsberg nicken in kollektiver Begeisterung. Doch dann scheinen ein paar von Wilsbergs Ganglien aus dem Liebeskoma zu erwachen.

»Nein! Sie gehen da nicht hin«, ruft er aus. Und an uns gewandt: »Sie will sich allen Ernstes für den Job von Isabel bewerben.«

»Sonst kommen wir nicht weiter. Ich gehe auf jeden Fall da hin und werde es herausfinden.«

»Nein!«, rufen jetzt beide Männer. Vereint in ihrem Beschützerinstinkt. Oder aus Angst, das Objekt der Begierde könne vor dem Vollzug erotischer Abenteuer das Zeitliche segnen.

»Ich finde das gar keine so schlechte Idee«, sage ich langsam. »Von Sandleben hat mir erzählt, dass Reichweiler die Assistentinnen einstellt und dass diese Jobs nicht per Zeitungsinserat ausgeschrieben, sondern über Mundpropaganda besetzt werden. Das heißt, wir müssten für Anna einen Termin bei Reichweiler vereinbaren und sie könnte sich dann unter Bezugnahme auf Isabels Tod um den Job be…«

»Kommt ja überhaupt nicht infrage«, fällt mir Wilsberg ins Wort. »Was, wenn Reichweiler tatsächlich ein Mädchenhändler ist und Anna auf Nimmerwiedersehen in irgendeinem Puff verschwindet?«

»Wir können uns absichern«, rede ich ungerührt weiter. »Wir könnten die entsprechende Abhörtechnik besorgen, Anna verkabeln und Cornfeld zu ihrem Schutz mitschicken. Als ihren Agenten. Dann ist sie vor Ort nicht allein. Und wir beide«, ich zeige auf Wilsberg und mich, »sitzen im Auto, hören alles mit an und können im Notfall eingreifen.«

»Ich bin dagegen«, sagt Wilsberg. »Der Plan birgt viel zu viele Risiken.«

»Tut er nicht«, antworte ich. »Denn wenn Anna den Job bekommt, kann sie sich wahrscheinlich frei in dem Club bewegen und hat gute Chancen, an wichtige Informationen zu kommen.«

Anna nickt mir zu. »Exactamente!«

Wir lächeln uns an. Getragen von einer Art Frauensolidarität.

Doch es gibt ein Haar in der Suppe. Ich kämpfe mal wieder mit meinem schlechten Gewissen. Denn ich bin mir nicht sicher, ob ich bei einer weniger attraktiven, bei den Männern weniger beliebten Frau nicht doch größere Skrupel haben würde. Den Gedanken schiebe ich ganz schnell zur Seite.

»Wir kriegen das schon hin«, sage ich und nicke Anna aufmunternd zu.