7

Barrett holte mich nach dem Englischunterricht ab. Den ganzen Morgen hatte ich vor Aufregung auf den Nägeln herumgebissen, doch er strahlte solche Ruhe aus, dass man unmöglich Angst haben konnte.

Wir gingen in einen Übungsraum im dritten Stock. In dem fensterlosen Zimmer standen mehrere Stuhlgruppen, an einer Wand hing eine breite weiße Tafel mit Notenlinien. Die Übungsräume wurden von den Musikern genutzt, dienten aber eigentlich dazu, die geheime Bibliothek hinter der Wand zu verstecken. Ich konnte mich noch gut daran erinnern, wie meine Schuhe auf dem Linoleumboden gequietscht hatten, als ich und Jack nervös den Raum durchschritten.

War das wirklich erst ein paar Monate her? Mir kam es wie eine Ewigkeit vor.

Als Barrett und ich den Raum betraten, war Mr Anderson bereits dort und Mr Fritz ebenfalls.

»Willkommen, Dancia.« Mr Fritz strahlte mich an. »Und Grüezi, Barrett.«

»Morgen, Mr Fritz. Haben Sie uns was von Kant mitgebracht?«

Mr Fritz’ Lächeln wurde immer breiter. »Selbstverständlich! Wie wär’s damit: ›Denken ohne Erfahrung ist leer, Erfahrung ohne Denken ist blind‹.« Er drehte sich um und schrieb das Zitat mit hellblauem Stift an die Tafel.

Barrett strich sich übers Kinn und geriet ins Grübeln. »Interessant.«

Stöhnend ließ ich mich auf einen der Stühle fallen. »Ich dachte, Kant hätte ich jetzt hinter mir gelassen.« Den hatten wir im letzten Halbjahr in Ethik durchgenommen. Kant konnte mir gestohlen bleiben. Ich verstand ohnehin kein Wort.

Mr Anderson trat vor. Er war korpulent, die Khakihose hing weit unter seinem Bauch, und das Holzfällerhemd spannte so, dass man ein weißes Unterhemd darunter aufblitzen sah. Ein brauner Haarkranz um die polierte kahle Platte zierte sein Haupt. »Wir sind ganz bestimmt nicht hier, um Kant zu diskutieren. Lasst uns mit dem richtigen Unterricht beginnen.«

»Moment mal « Barrett hob die Hand und wandte sich an Mr Fritz. »Sie wollen damit sagen, dass Erfahrungen oder Gedanken allein nicht reichen. Man braucht beides, nicht wahr? Bücherwissen allein reicht nicht aus, aber ohne dieses Wissen weiß man nicht, was man tut.«

»Perfekt«, schaltete sich Mr Anderson ein, bevor Mr Fritz noch etwas sagen konnte. »Auf den Punkt. Nun können wir endlich anfangen.«

»Schon gut, schon gut.« Mr Fritz deutete auf einen Kreis von Stühlen, und wir setzten uns.

Ich wühlte in meinem Rucksack nach Schreibzeug.

»Wie du weißt, Dancia, gibt es drei verschiedene Arten von Begabungen. Jemand kann entweder die Erd-, die Lebens- oder die Körperkräfte beeinflussen«, fing Mr Fritz an. »Aber vielleicht weißt du noch nicht, dass deine Gabe auch etwas über deine Persönlichkeit aussagt. Die Menschen mit Begabung für die Lebenskräfte sind in besonderem Maß auf das Leben und alles Lebendige konzentriert. Sie sind sich der Menschen und Tiere, ihrer Stimmungen und der Verbindungen zwischen ihnen äußerst bewusst. Das Hauptaugenmerk derjenigen mit Körperkräfte-Begabung gilt ihrem eigenen Körper. Indem sie diesen verstehen lernen, lernen sie ihm Außergewöhnliches abzuverlangen. Die Erdkräfte-Begabten sind der Natur und ihren Abläufen besonders verbunden. Wahrscheinlich gibt es deshalb nur noch so wenige mit diesen Kräften. Heutzutage sind Kinder der Erde entfremdet. Sie haben kaum noch Zeit, Erfahrungen mit ihr zu sammeln, und können so natürlich keine Begabung dritten Grades ausbilden.«

»In der achten Klasse habe ich Erdwissenschaften belegt, aber gerade mal eine Zwei darin bekommen«, sagte ich. »Ich habe keine Ahnung, was ich mache. Ich mache es einfach.«

Mr Anderson schüttelte den Kopf. »Bei Mr Fritz hört sich alles komplizierter an, als es ist. Wenn ich etwas zum Wachsen bringen möchte, stelle ich mir einfach vor, wie es wächst. Ich stelle mir vor, wie das Gras gedeiht und die Rosen blühen. So einfach ist das. Über mehr brauchst du dir keine Gedanken zu machen, Dancia.«

»Jim, du weißt doch, wir sollen ihnen Theorie und Praxis beibringen«, ermahnte ihn Mr Fritz sanft. Er wandte sich an mich. »Als Maria Salvoretto im frühen 15. Jahrhundert begann, junge Menschen mit außergewöhnlichen Fähigkeiten zu unterrichten, hat sie nicht gewusst, was sie tat. Es hat Hunderte von Jahren gedauert, bis man überhaupt verstand, was es mit den Begabungen auf sich hatte und wie man sie fördern konnte, und dann noch mal weitere Jahrzehnte, bis die Fortschritte niedergeschrieben wurden. Die in Geheimbibliotheken rund um die Welt verteilten Bücher sind von unschätzbarem Wert, geben sie uns doch Einblick darin, wie man eine Begabung zweiten Grades in einen dritten Grad verwandeln kann. Aber wenn du nicht verstehst, wie die Kräfte der Natur wirken, wirst du in deinen Fertigkeiten begrenzt bleiben. Du musst die Gesetze durchdringen, um sie erfolgreich außer Kraft setzen zu können. Nimm Mr Anderson zum Beispiel. Zunächst musste er das Wachstum an sich verstehen, wie die Wurzeln sich ihren Weg durch die Erde bahnen, wie die Blätter die Energie der Sonne umwandeln, bevor er in den Prozess eingreifen konnte. Doch sobald du das Prinzip begriffen hast, brauchst du nicht jedes Mal daran zu denken, wenn du deine Gabe einsetzt. Es geht dir in Fleisch und Blut über.« Er drehte sich zu Mr Anderson um. »Nicht wahr?«

Mr Anderson grunzte. Ein Laut, der sich sowohl als Zustimmung als auch als Widerspruch deuten ließ.

Mr Fritz nahm den Faden wieder auf: »Dancia, deine Kräfte stellen uns bislang vor ein Rätsel. Normalerweise bilden unsere Schüler in der Neunten zunächst Begabungen zweiten Grades aus. Natürlich kommt es hin und wieder vor, dass einer der Schüler Fähigkeiten dritten Grades einsetzt, doch dann eher unbewusst. Erst mit Beginn der Ausbildung entwickeln sie sich allmählich zu einem dritten Grad. Doch du warst bereits ein dritter Grad, als du hierhergekommen bist. Ich vermute, dass du eine besonders starke Verbindung zur Erde hast und intuitiv die Kräfte um dich erfasst.«

Er sah mich an, als erwarte er eine Bestätigung. Ob ich sie ihm geben konnte? Ich versank noch tiefer in meinem Stuhl und vergrub das Kinn im Rollkragen meines Pullovers. »Ähm, ja, das mag sein.«

»Oder hast du vielleicht in jungen Jahren eine besondere Förderung erhalten? Viele unserer Schüler wurden in Camps geschickt oder haben neben der Schule noch andere Förderungen genossen. Das hätte deiner Entwicklung natürlich schon frühzeitig auf die Sprünge geholfen.«

Ich stellte mir Catherine vor, die wahrscheinlich schon direkt im Kreißsaal in die Hände eines Privatlehrers übergeben worden war. Mr Fritz hatte sie nicht mehr alle, wenn er im Ernst glaubte, das sei in Danville ebenfalls üblich. »Nein. Keine Förderung. Jedenfalls nicht, dass ich wüsste.«

»Na, dann ist es so, wie wir vermutet haben. Du bist einfach eine sehr ungewöhnliche junge Frau.«

Die Röte schoss mir in die Wangen, und ich hätte mich am liebsten unterm Tisch versteckt. Rasch wechselte ich das Thema. »Mr Judan hat gesagt, ich könnte die Schwerkraft beeinflussen. Glauben Sie das auch?«

»Was meinst du denn?«, fragte Barrett.

»Ja, irgendwie schon.« Ich hielt inne, um meine Worte abzuwägen. »Wenn ich mich umschaue, dann sehe ich ein Netz aus Linien oder Fäden, die alles miteinander verbinden. Ich kann an diesen Fäden ziehen und damit das Gleichgewicht stören. Aber die Energiebahnen kann ich auch erst seit ein paar Monaten sehen. Früher habe ich es einfach getan, ohne nachzudenken. Ich wusste nicht einmal, dass ich überhaupt Kontrolle über meine Kräfte habe, bis « Ich brach ab.

»Bis was?«, wollte Barrett wissen.

Mist! Warum konnte ich nicht einfach mal die Klappe halten? Durch Jack war ich darauf gekommen, dass ich meine Gabe kontrollieren konnte, doch über Jack wollte ich nun wirklich nicht reden.

»Bis vor Kurzem, bis ich mir wirklich einmal Gedanken darüber gemacht habe.« Ich lächelte matt. »Wahrscheinlich haben sich die Erdwissenschaften am Ende doch noch bezahlt gemacht.«

»Das kann gut sein«, sagte Mr Fritz. »Interessant, dass du deine Gabe erst kontrollieren konntest, nachdem du die Kräfte der Natur durchschaut hattest. Genauso gut ist es aber auch möglich, dass du die Fähigkeit zur Kontrolle schon immer besessen hast und es einfach eine Frage der Zeit war.«

In der Hoffnung, damit weitere Fragen zu unterbinden, nickte ich. »Bestimmt war ich vorher einfach noch nicht reif dafür.«

»Klingt überzeugend«, dröhnte Mr Anderson. Er schob den Stuhl zurück und erhob sich. »Jetzt aber genug geredet. Womit fangen wir an, Fritz?«

Barrett grinste. »Mr Anderson bekommt nicht oft die Gelegenheit, Schüler auszubilden.«

»Wir haben heute eine Menge zu bereden, Jim«, wandte Mr Fritz ein. »Das wird etwas Zeit in Anspruch nehmen. Aber vielleicht sollten wir eine kleine Übung einschieben. Theorie und Praxis, stimmt’s, Barrett?« Barrett nickte, und Mr Fritz gab uns einen Wink, aufzustehen. Ich erhob mich ganz langsam, mein Blick flog zwischen den dreien hin und her. Ganz automatisch sammelte ich Energie aus meiner Umgebung, um für das Folgende gewappnet zu sein.

»Du hast ja erst vor Kurzem erfahren, dass diese Musikzimmer unsere Bibliothek schützen. Wir haben sie mit einer Titanhülle versehen. Weißt du, was Titan für Eigenschaften hat, Dancia?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Es beeinflusst gewisse Kräfte, unter anderem die Schwerkraft.«

»Was?« Erstaunt riss ich die Augen auf. »Die Schwerkraft funktioniert in diesem Zimmer wie überall. Hier!« Ich ließ meinen Stift fallen, und er rollte unter meinen Stuhl. »Haben Sie gesehen?«

»Jetzt glaubst du also, du weißt, wie alles läuft, nicht wahr?«, fragte Mr Fritz sanft. Als ich nicht antwortete, fuhr er fort: »Ich behaupte lediglich, dass deine Kräfte in diesem Raum nicht wirken. Titan verändert nicht die Kräfte der Natur, wohl aber die Fähigkeiten eines dritten Grades, sich dieser Kräfte zu bedienen. Auf die Fähigkeiten der Lebens- und Körperkräfte-Begabten hat es ebenfalls Einfluss. Wir haben die Räume gebaut, damit wir unterrichten können, ohne dass wir uns Sorgen machen müssen, dass sich die Schüler gegenseitig beeinflussen oder irgendetwas in die Luft fliegt. Hier ist man sicher.«

Ich kaufte es ihm immer noch nicht ab. Resigniert hob er die Hände. »Versuch es einfach.«

»Ernsthaft?«

»Ganz ernsthaft. Bewege deinen Stift.«

Ich sah die drei der Reihe nach an. Mr Anderson machte ein finsteres Gesicht, und in Mr Fritz’ Augen lag ein gefährliches Funkeln, das mir überhaupt nicht behagte. Barrett lehnte an der Wand und starrte auf seine ausgelatschten Ledersandalen. Er vermied meinen Blick.

»Also schön.«

Sobald ich mich gesammelt hatte, sah ich die Kräfte, die ich vorhin beschrieben hatte. Ein Netz von Linien und Fäden unterschiedlicher Dicke zog sich durch das Zimmer und noch über die Grenzen der Wände hinaus. Von allen Seiten zerrten dicke Fäden an meinem Stift, das breiteste und dunkelste Band kam direkt aus dem Boden.

Im Geist drückte ich gegen das Band, versuchte es wie sonst auch allein mit Gedanken aus dem Weg zu schieben. Wenn ich das Gleichgewicht der Kräfte nur für einen Moment stören konnte, würde der Stift durch die Gegend fliegen.

Ich stieß gegen das dunkle Band. Nichts geschah.

Nun stieß ich heftiger. Immer noch nichts.

Ich zerrte und zog.

Nichts.

Inzwischen war mir schon ganz heiß geworden. Nach ein paar weiteren sinnlosen Versuchen funkelte ich Mr Fritz an. »Okay, ich gebe mich geschlagen. Das mit dem Titan funktioniert.«

Mr Anderson schüttelte den Kopf. »Das war ein gemeiner Trick, Fritz.«

»Praxis und Theorie, Dancia«, flüsterte Barrett.

Ich fuhr zu ihm herum. »Was soll das heißen?«

»Mr Fritz hat dir kurz zuvor erklärt, welche Rolle der Geist bei der Entwicklung der persönlichen Gabe spielt. Das hat er dir am konkreten Beispiel soeben vorgeführt«, sagte Barrett.

Sprachlos stand ich da. Mr Anderson zog den Bund seiner Hose hoch und sah auf seine Armbanduhr, als würde er sich mit mir schämen.

»Es gibt hier gar kein Titan, oder?«, fragte ich tonlos.

»Nein«, sagte Mr Fritz.

Ich ließ mich zurück auf meinen Stuhl fallen. »Hören Sie irgendwann auch einmal auf, uns an der Nase herumzuführen?«

»Ich habe dich nicht an der Nase herumgeführt«, sagte Mr Fritz. »Ich habe gesagt, Titan hat einen Einfluss auf Begabungen dritten Grades, und das stimmt auch. Wenn man es glaubt.«

»Wir wollten uns nicht auf deine Kosten lustig machen«, sagte Barrett. »Im Grunde war das eine sehr wichtige Lektion. Es zeigt, wie mächtig der Geist ist. Du musst an deine Fähigkeiten glauben, sonst wirken sie nicht. Genau wie beim Sport. Treibst du Sport?«

»Geländelauf und Fußball.«

»Ist dir schon mal aufgefallen, dass man oft ein Spiel verliert, nur weil ein Spieler rausmusste? Oder wie du dich von einem verschossenen Tor nicht wieder erholst?«

Widerstrebend nickte ich.

»Das spielt sich alles nur im Kopf ab. Und genau so ist es hier.« Seine lässige Art war verschwunden, und er musterte mich ernsthaft. »Verstanden?«

»Klar, alles ein Kopfding. Hab ich kapiert.« Ich beugte mich vor, um meinen Stift aufzusammeln, dabei vermied ich es tunlichst, Barrett anzusehen.

»Barrett hat recht, aber es gab noch einen zweiten wichtigen Grund für diese Übung«, sagte Mr Fritz.

»Und der wäre?«, fragte ich misstrauisch.

»Wir haben dabei erfahren, dass auch deine Kräfte ihre Grenzen haben. Grenzen, die es vielleicht nur in deinem Kopf gibt, aber dennoch Grenzen.«

Überrascht zog ich die Augenbrauen hoch. »Natürlich sind meine Kräfte begrenzt.«

Er zuckte die Achseln. »Wir waren uns da nicht so sicher.«

Zum Glück beließen sie es bei der einen peinlichen Darbietung. Danach ging es noch um die Geschichte des Hohen Rats, um das Programm und darum, dass sie mich fördern wollten, indem sie mir mehr Kontrolle über meine Kräfte beibrachten.

Mir kam es so vor, als wollte man die Uhr zurückdrehen. Mr Fritz erklärte, dass es in den ersten Stunden normalerweise darum ging, das Selbstvertrauen der Schüler zu stärken. Offenbar glaubten die meisten nicht, dass sie mit Tieren reden, die Gestalt wandeln oder andere verrückte Dinge tun konnten. Als Erstes mussten sie also lernen, ihren Fähigkeiten zu vertrauen. Ich hingegen hatte nie daran gezweifelt, dass ich Unmögliches vollbringen konnte, schließlich hatte ich es von Kindesbeinen an getan.

Nun hätte man denken können, dass ich dadurch einen Vorsprung hatte, aber auf der Night Academy hielt man es offenbar für ratsam, mir zunächst Grenzen zu setzen; nicht nur, um zu verhindern, dass ich etwas Gefährliches anstellte, sondern auch, um mir das Gefühl zu vermitteln, meine Kräfte im Griff zu haben.

Beim Abendessen sah ich Cam. Als ich kam, ging er gerade.

»Ich habe noch jede Menge Hausaufgaben«, sagte er. »Wollen wir uns in der Bibliothek treffen?«

Ich grinste. »Dann bis später im Magazin.«

Unser Treffpunkt war ein Raum, der zur Geheimbibliothek führte. Dort war es still und abgeschieden. Nach dem Essen rannte ich nur kurz hoch ins Zimmer, um die entsprechenden Bücher in den Rucksack zu stopfen. Entschuldigend zuckte ich die Schultern, als Esther kam und mich fragte, ob wir zusammen lernen wollten. »Ich treffe mich mit Cam«, sagte ich. »Sorry.«

Sie sah mich düster an. »Du hast mir noch nicht mal von deiner ersten Stunde im Schwerpunktfach erzählt. Wie lief es denn?«

»Ganz okay. Ein bisschen wie Ethik, nur dass wir gleichzeitig auch noch über Wissenschaft gesprochen haben.«

»Kannst du nachher noch mitkommen?« Ich muss Trevor was zu unseren Hausaufgaben fragen, aber allein traue ich mich nicht.«

Ich zierte mich. Trevor entsprach nun nicht gerade meiner Vorstellung von Freizeitgestaltung. »Ich weiß noch nicht, wann ich zurück bin. Kann Hennie nicht mit dir gehen?«

Esther zog die Nase kraus. »Hennie? Die hat eine Heidenangst vor Trevor. Außerdem ist sie mit Yashir unterwegs.«

Ungeduldig trat ich von einem Fuß auf den anderen und hielt mich nur mühsam davon ab, auf die Uhr zu sehen. »Gibt es nicht noch jemand anderen, der mitkommen kann?«

»Klar! Allie oder eines der anderen Mädchen kann mitkommen. Aber morgen musst du mir ein Stündchen reservieren, ich will doch wissen, was bei dir so läuft.« Sie lachte, als würde es ihr nichts ausmachen, doch ich spürte, dass sie verletzt war.

Ich räusperte mich. »Auf jeden Fall, morgen reden wir über alles. Aber jetzt muss ich los, das verstehst du doch, oder?«

Mit theatralischer Verbeugung sagte sie: »Wie könnte ich wahrer Liebe im Weg stehen?«

Ich hatte schreckliche Schuldgefühle, als ich endlich durch den Gang davonstürzte. Esther war meine allererste Freundin auf der Night Academy gewesen; sie und Hennie waren im letzten Halbjahr meine Rettungsanker. Bestimmt war sie enttäuscht, dass nichts aus ihr und Chris geworden war, für den sie so geschwärmt hatte, während Hennie und ich jetzt beide einen Freund hatten.

Ich eilte die Stufen hinab und raste zum Hauptgebäude. Der Eingang zur Bibliothek befand sich im ersten Stock, die altmodischen Holzflügeltüren erinnerten mich immer an ein englisches Schloss. In den Klassenräumen war überall Linoleum verlegt, doch hier in der Bibliothek lagen dicke Perserteppiche. Außerdem war sie mit richtigen Lampen bestückt, lange Tische wechselten sich mit Einzelkabinen ab, in denen man ungestört lernen konnte.

Ich schlängelte mich durch die Regale, bis ich am Ende der Bibliothek in einen winzigen Raum gelangte. Das Magazin sollte absichtlich wenig einladend wirken, hier befanden sich nur eine Handvoll Einzelkabinen und alte, verstaubte Wälzer. Cam erschien kurz nach mir, den Rucksack trug er über den Schultern, die in dem dunkelblauen Hemd noch breiter schienen als sonst.

»Wie war deine erste Stunde?«, fragte Cam. Er nahm den Rucksack ab und glitt neben mir auf einen Stuhl. »Hat es dir Spaß gemacht?«

»Spaß ist zu viel gesagt.« Ich erzählte ihm, was Mr Fritz mit mir veranstaltet hatte. Erst da begriff ich, wie enttäuscht ich eigentlich von mir selbst war. Mir kam es vor, als hätte nicht Mr Fritz, sondern mein eigener Verstand mir einen Streich gespielt.

»Ich konnte nicht einmal einen Stift bewegen, nur weil Mr Fritz mir diesen Blödsinn erzählt hat.«

Cam lachte. »Mr Fritz hat schon so viele Schüler hinters Licht geführt, darin hat er viel Erfahrung. Auch wenn du deine Gabe schon seit Jahren verwendest, hast du immer noch eine Menge zu lernen. Dafür ist die Ausbildung ja da.«

Zweifelnd schüttelte ich den Kopf. »Vielleicht. Aber ich fühle mich trotzdem mies.«

»Falls dir das hilft: Mit mir hat er es auch gemacht. In einem Moment habe ich noch die Begabungen aller Anwesenden gespürt und im nächsten nichts mehr, als wäre die Luft um mich herum tot. Und alles hat sich nur in meinem Kopf abgespielt.«

»Das hört sich ja fast noch schlimmer an als bei mir.« Ich legte den Kopf schief. »Wann ist dir eigentlich bewusst geworden, dass du Begabungen erkennen kannst?«

Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »In der vierten Klasse fing ich an, Farben und Muster um bestimmte Leute herum zu sehen. Als ich meinem Vater davon erzählte, sagte er, nur Kranke sähen solche Sachen. Ich habe mir dann einzureden versucht, die Farben und Muster wären gar nicht da, aber sie verschwanden nicht. Doch ich habe mich nicht mehr getraut, mit meinem Vater darüber zu sprechen, aus Angst, er würde mich ins Krankenhaus stecken.«

»Das ist aber eine ziemliche Last für ein Kind«, sagte ich leise.

»Na ja, schön war das nicht. Ich habe alles getan, damit mich mein Vater für normal hält. Habe mit Sport angefangen und richtig hart trainiert, habe viele Freundschaften geschlossen und bin allen möglichen Vereinen beigetreten. Ich war wohl das durchschnittlichste, angepassteste Kind überhaupt. Und es hat funktioniert. Irgendwann hat mein Vater die Sache dann vergessen.«

»Wie ist die Night Academy auf dich aufmerksam geworden?«

»Die Night Academy sieht sich ständig in Schulen um. Dabei richten sie ihr Augenmerk nicht nur auf Kinder, die besonders aus der Reihe fallen, sondern auch auf die, die möglichst unauffällig bleiben wollen. Mitunter mischen sie sich auch einfach als Vertretungslehrer, Eltern oder Verwandte unter die Schüler. Der Anwerber in meiner Schule konnte sich unsichtbar machen. Er ging einfach ins Sekretariat, sah sich alle Unterlagen an und beobachtete tagelang die Schüler. Obwohl er unsichtbar war, pulsierte das Muster, das ich bei ihm sah, wie ein Neonschild über seinem Kopf. Schließlich fiel ihm auf, dass ich ihn mit den Augen verfolgte, und da hat er es dann gewusst. Er rief Mr Judan an, und dem habe ich alles gestanden.«

Damals, als Cam und Mr Judan zu mir nach Hause gekommen waren, hatte ich viel zu viel Angst gehabt, meine Fähigkeiten einzugestehen. »Hat er dich ähm überredet?«

Cam schüttelte den Kopf. »Das brauchte er gar nicht. Nach all den Jahren war ich froh, es endlich jemandem erzählen zu können, der mich nicht gleich für verrückt erklärte. Mr Judan sagte, ich hätte eine besondere Gabe, und er würde mir gern helfen, sie zu nutzen. Dazu bedurfte es keiner Überredungskünste. Dann hat Mr Judan meinem Vater ein Stipendium für mich angeboten, mit dem ich schon früher als üblich auf der Highschool anfangen konnte. Noch im selben Sommer bin ich auf die Night Academy gewechselt, und im Herbst habe ich mit dem Unterricht angefangen.«

»Das wusste ich alles gar nicht.«

Er beugte sich vor und sah mir tief in die Augen. »Deshalb wusste ich ja auch, wie du dich bei unserer ersten Begegnung gefühlt hast, Dancia. Ich wusste, dass du schon einiges durchgemacht hattest. Und ich wollte dir unbedingt zu verstehen geben, dass es so nicht sein muss. Dass du nicht allein sein musst.«

Ich nahm seine Hand. »Ich bin ja nicht allein. Jetzt nicht mehr.«