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Am Freitag zogen Esther, Hennie und ich schwer bepackt mit Säcken voll schmutziger Wäsche unsere Koffer über den Parkplatz der Night Academy und fahndeten im Wirrwarr nach vertrauten Autos. Unser Abschied war nicht gerade liebevoll. Esther war schon den ganzen Morgen schlecht gelaunt. Ihr Haar war zu einem straffen Pferdeschwanz zurückgebunden. Schmal und wunderschön wirkte sie mit ihren großen, traurigen Augen. Bevor wir ihr noch Lebewohl sagen konnten, war sie schon in der Menge verschwunden.

Hennie sah Esther besorgt hinterher. »Ich weiß nicht, was sie vorhat, aber irgendwie habe ich ein ganz schlechtes Gefühl. Nach den Ferien müssen wir gut auf sie achtgeben.«

»Und was ist mit dir?« Ich stieß ihr in die Rippen, während wir die Koffer weiter über den unebenen Schotter zerrten. »Was hast du so geplant?«

Natürlich zielte meine Frage auf Yashir ab, der gerade auf uns zusteuerte. Er trug sein einziges Paar Jeans ohne Löcher, vermutlich in der Hoffnung, Hennies Eltern kennenzulernen.

Hennie kniff die Augen zusammen. »Ich weiß nicht.«

»Hast du es ihm schon gestanden?«

»Was? Dass ich meinen Eltern noch nichts von ihm gesagt habe? Natürlich nicht.«

»Meinst du nicht, es kommt raus, wenn sie gleich von all den Dates anfangen, die sie in den Ferien für dich ausgemacht haben?«

Daraufhin gab Hennie einen erstickten Laut von sich. »Das sind ja keine richtigen Dates.«

Ich hob den Wäschesack auf die andere Schulter. »Die wollen deine Hochzeit arrangieren, Hennie. Wie willst du das denn sonst nennen?«

»Ein Essen unter Freunden?«, sagte sie hoffnungsvoll. Als ich vielsagend die Brauen hob, seufzte sie: »Kann ich nicht so tun, als hätte ich ihn nicht gesehen, und wegrennen?«

Mit einem Blick auf ihren Koffer sagte ich: »Du bist nicht gerade eine begnadete Läuferin, und dein Koffer ist ziemlich schwer. Die Chancen stehen schlecht.«

Im nächsten Moment erblickte sie schon ihren Vater und stöhnte laut auf, lächelnd winkte er ihr vom anderen Ende des Parkplatzes zu, neben ihm stand ihre Mutter, die ebenso winzig und schön war wie ihre Tochter. »Dancia, die freuen sich so, mich zu sehen. Was soll ich denen bloß sagen?« Sie zog die Nase kraus. »Oh, nein. Die haben bestimmt den Nachbarssohn im Auge. Ich bin mir ganz sicher. Wetten, dass wir heute mit ihm zu Abend essen!«

»Du musst ihnen reinen Wein einschenken«, sagte ich. Hennies Gabe wurde immer stärker. In der letzten Woche hatte sie, ohne sich groß anzustrengen, quer durchs Zimmer die Gefühle anderer Schüler gelesen und danach wie immer behauptet, sie hätte einfach »gut geraten«.

Hennie umarmte mich. »Ich kann das einfach nicht. Sag Yashir, es tut mir leid. Bitte!« Und damit sprintete sie über den Parkplatz. Besser gesagt, sie stolperte durch die Menge und zerrte dabei den schweren Rollkoffer hinter sich her.

Als ich mich umdrehte, stand Yashir hinter mir und blickte ihr nach.

»Sie hatte Angst, ihre Eltern wären sauer, wenn sie sich nicht beeilt«, sagte ich lahm. »Sie hat mich gebeten, dir Tschüss zu sagen.«

»Sie wird es ihnen nie sagen, oder?«, fragte er. »Ihre Eltern werden sie in den Ferien mit irgendjemandem verkuppeln, und dann ist Schluss mit uns.« Traurig hing die kleine Hantel in seiner Augenbraue herunter.

Unbeholfen täschelte ich ihm die Schulter. »Ihre Eltern haben eben sehr altmodische Ansichten. Sie weiß nicht, wie sie es ihnen sagen soll. Das heißt doch nicht, dass sie mit dir Schluss macht.«

Eine große Frau mit Nasenring und Haaren bis zur Taille rief nach Yashir. »Ist das deine Mom?«, fragte ich.

Deprimiert nickte er. »Das war’s dann wohl.«

Ich schüttelte den Kopf. »Gib nicht auf. Ruf sie heute Abend an.«

Er hievte seinen Rucksack auf die Schultern. »Schöne Ferien, Dancia.«

»Wünsch ich dir auch, Yashir.«

Nach den Ferien musste ich zwei schriftliche Hausaufgaben abgeben: eine in Geschichte über die Baukunst in der Renaissance und eine in Englisch über Nathaniel Hawthorne. Schon allein deshalb würde ich nicht einfach zwei Wochen vor dem Fernseher dahinvegetieren können.

Natürlich hätte ich auch während der Ferien die Schulbibliothek benutzen können, doch ich wollte möglichst viel Distanz zur Night Academy. Deshalb fuhr Oma mich am Montag zur Bibliothek in Danville. Dort gab es zwar nicht so viele Bücher, aber man konnte sich alles von anderen Bibliotheken innerhalb weniger Tage bestellen, außerdem hatten sie Computer, um im Internet zu recherchieren.

Oma setzte mich ab und fuhr dann zum Supermarkt. Ich bestellte ein paar Bücher, druckte einige Seiten aus dem Internet aus und checkte dann noch meine Mails. Im Posteingang war eine lange, klägliche Mail von Hennie, in der sie schrieb, wie schlecht sie sich fühle, weil sie Yashir einfach so hatte stehen lassen. Nichts von Esther oder Cam.

Nachdem ich eine Zeitlang auf den Bildschirm gestarrt hatte, gab ich spontan den Namen Ethan Hannigan in die Suchmaschine ein. Tausende von Seiten wurden angezeigt. Offenbar war Ethan Hannigan ein gängiger Name. Deshalb versuchte ich es mit einem neuen Suchbefehl: Ethan Hannigan und Night Academy.

Volltreffer. Auf der ersten Seite erschienen Zeitungsartikel aus dem Danville Chronicle und der Seattle Times. Die Überschriften lauteten: Selbstmord eines Teenagers erschüttert Nachbarschaft und Familie trauert um verlorenen Sohn, doch keiner der Links war mehr aktiv.

Wieder und wieder versuchte ich verschiedene Kombinationen der Worte Ethan, Selbstmord und Night Academy. Keiner der Artikel stand mehr zur Verfügung. Aber selbst ohne den genauen Wortlaut der Berichte war klar, dass vor zehn Jahren ein Junge namens Ethan Hannigan auf die Night Academy gegangen war und sich umgebracht hatte. Ich war zu aufgewühlt, um die Bibliothekarin um Hilfe zu bitten. Natürlich konnte es sein, dass die Artikel einfach alt und deshalb nicht mehr zugänglich waren, aber genauso gut konnte es sein, dass irgendjemand nicht wollte, dass man so etwas im Netz fand. In diesem Fall wollte dieser jemand bestimmt auch nicht, dass jemand anders danach suchte. Ich löschte den Verlauf und startete den Computer neu.

Eine Woche verstrich. Oma und ich hatten in unsere alte Routine zurückgefunden, und ich hatte Schlaf nachgeholt. Ziemlich schnell kamen mir die Night Academy, Begabte und die Irin beinahe unwirklich vor.

Am Freitagabend spülte ich das Geschirr vom Abendessen, als Oma auf einmal den Fernseher ganz laut drehte. Ich legte die Pfanne beiseite und ging ins Wohnzimmer, um zu sehen, was Omas Aufmerksamkeit erregt hatte.

Eine Eilmeldung flackerte über den unteren Bildschirmrand, und eine aufgeregte Reporterin sprach ins Mikrofon: »Hier ist Katie Campbell live aus Washington, wo die Polizei gerade ein Komplott gegen den Präsidenten aufgedeckt hat.«

Die Kamera schwenkte auf einen Pulk von Reportern, die sich vor einem großen Gebäude drängten. Davor standen Polizeiwagen, und Menschen rannten in alle Himmelsrichtungen.

»Genauere Einzelheiten kommen erst nach und nach ans Licht«, fuhr die Reporterin fort. »Bislang wissen wir nur, dass die Polizei vor vier Stunden in diesem Lagerhaus, nur wenige Kilometer vom Kapitol entfernt« damit deutete sie hinter sich »drei Leichen, ein geheimes Waffen- und Munitionslager und einen detaillierten Lageplan des Weißen Hauses gefunden hat.«

Und während die Reporterin fröhlich weiterplapperte, sank ich aufs Sofa. Viel wussten sie noch nicht. Anwohner hatten Explosionen in der Nähe gemeldet, und die Polizei hatte daraufhin angefangen, die Umgebung abzusuchen. Die Beamten fanden jedoch weder Zerstörungen noch den Ort, an dem eine Explosion stattgefunden haben konnte. Dann erhielten sie einen anonymen Hinweis, im Lagerhaus nachzusehen, wo sie die Leichen und Unterlagen über die Verschwörung fanden.

Bislang gab es nur wilde Spekulationen, wer den Anschlag verhindert und die potenziellen Angreifer des Präsidenten ausgeschaltet haben könnte. Waren es barmherzigen Samariter gewesen? Oder ein abtrünniger Komplize? Niemand wusste Näheres, und aus Polizeikreisen hieß es, für derlei Mutmaßungen sei es noch zu früh.

Ich war wie vor den Kopf geschlagen.

Ich wusste, wer dahintersteckte. Aber hoffentlich hatte Cam nicht den Finger am Abzug gehabt.

In der kommenden Woche wurde in den Abendnachrichten täglich über die Ermordeten und die seltsamen Vorkommnisse im Washingtoner Lagerhaus berichtet. Die Toten waren arbeitslose Mittzwanziger mit Uniabschlüssen. Einer von ihnen hatte einen Master in Mathematik von der Universität Georgetown gehabt. Ein anderer hatte in Harvard studiert. Und der Dritte, Charlie Scholz, hatte seinen Abschluss in Seattle an der University of Washington gemacht. Seit ein paar Jahren hatten die drei zusammen in Washington gewohnt.

Die Journalisten machten Leute ausfindig, die mit den drei jungen Männern bekannt gewesen waren. Eine Nachbarin erzählte den Fernsehleuten, die drei seien recht ruhig gewesen und hätten ihren Rasen gemäht, wenn sie auf Reisen gewesen war. Sie könnte sich nicht vorstellen, dass die Jungs etwas ausgefressen hätten. Charlie Scholz’ Onkel sagte jedoch, er hätte seinem Neffen noch nie über den Weg getraut. Schon als kleiner Junge hätte der sich im Keller versteckt und heimlich was angestellt.

Die meisten der gefundenen Waffen waren gestohlen. Die Männer waren vermutlich überrascht worden und hatten sich kaum gewehrt. Viel mehr fand die Polizei nicht heraus, und niemand konnte sagen, woher die Explosionsgeräusche gekommen waren. Im Lagerhaus befand sich auch noch ein Büro, aber außer den Unterlagen über das Weiße Haus wurde dort nichts gefunden. Mich überraschte das nicht weiter. Der Hohe Rat hatte bestimmt alle interessanten Dokumente einkassiert.

Ich versuchte, Cams Rolle vor mir selbst herunterzuspielen. Schließlich war er ja noch kein richtiger Wächter. Wahrscheinlich hatten sie ihn als Spurenleser eingesetzt, nicht als Killer.

Jeden Tag schaute ich in meine E-Mails, bekam aber keine Nachricht von ihm. Er war sicher beschäftigt. Immerhin hatten sie gerade eine nationale Katastrophe vereitelt. Trotzdem hätte ich gern mit ihm gesprochen, um zu erfahren, was wirklich vorgefallen war. Aufgrund des großen Waffenarsenals, der vielen Wagen rund ums Lagerhaus und unzähliger Fingerabdrücke ging die Polizei davon aus, dass noch mehr Leute in den Fall verstrickt waren. Ich wünschte mir, genauer zu wissen, was die Männer vorgehabt hatten und wie sie gestorben waren.

Sonntagabend warf ich meine sauberen Klamotten in den Wäschebeutel und packte meine Schulsachen zusammen. Oma hatte es sich gerade für eine einstündige Sondersendung vor dem Fernseher gemütlich gemacht, als mein Handy klingelte.

Voller Entsetzen starrte ich auf das Display: Ethan Hannigan.

Von ihrem Sessel aus gab mir Oma gereizte Handzeichen. »Willst du wohl mal rangehen? Ich verstehe hier kein Wort.«

Ich war wie gelähmt. Erneut klingelte es.

»Sonst gehe ich ran«, rief Oma warnend.

Ich riss den Hörer ans Ohr und drückte auf den Kopf. »Hallo?«, flüsterte ich.

»Na endlich, wird ja auch mal Zeit, dass du rangehst.«

»Hey, Esther«, sagte ich, um Oma zu beruhigen. »Was gibt’s?«

Oma wandte sich wieder ihrer Kiste zu. Ich wollte erst in mein Zimmer gehen, überlegte es mir aber anders und verzog mich ins Bad. Nachdem ich die Tür hinter mir geschlossen hatte, zischte ich: »Du kannst mich doch nicht einfach anrufen.«

Jack lachte. »Das letzte Mal hast du mich angerufen. Warum darf ich dich nicht zurückrufen?«

Ich hängte die verschossenen blau-weißen Handtücher gerade in eine Reihe, fein säuberlich geordnet nach den bestickten Rändern. »Das war ein Fehler. Es ist gefährlich für uns beide. Besonders im Moment.«

Jack wurde mit einem Schlag ernst. »Die haben drei Leute getötet, Danny, die sich nicht mehr haben zuschulden kommen lassen, als sich der Kontrolle des Hohen Rats zu entziehen.«

»Die wollten doch den Präsidenten umbringen!«

Jack schnalzte verächtlich. »Das glaubst du doch nicht im Ernst, oder?«

Ich hockte mich auf den Badewannenrand. »Aber die Polizei hat doch Unterlagen gefunden. Karten. Lagepläne. Wozu sollten die denn sonst dienen?«

»Das war doch eine abgekartete Sache. Irgendjemand hat uns die Papiere untergejubelt, um davon abzulenken, dass eure Wächter unsere Leute ermordet haben. Den Präsidenten anzugreifen wäre doch idiotisch. Dann hätten wir Hunderte von Polizisten am Hals und würden bestimmt etliche unserer Leute verlieren. Und was sollte uns das bringen? Überleg doch mal.«

Wie leicht Jack den Begriff »unsere Leute« verwendete! Auch wenn ich wusste, dass er jetzt zu den Irin gehörte, lief es mir bei diesen Worten kalt den Rücken hinunter. »Schön und gut«, sagte ich, »und wofür braucht ihr all die Waffen?«

»Um uns zu verteidigen.«

»Das ist Wahnsinn. Gegen wen müsst ihr euch verteidigen?«

»Gegen deinen Freund zum Beispiel.«

Vor Schreck richtete ich mich kerzengerade auf. Hatte Jack Cam etwa gesehen? War Jack auch in Washington? »Wenn ihr sie in Ruhe lasst, lassen sie euch auch in Ruhe«, sagte ich möglichst gefasst. »Sobald ihr Maschinengewehre hortet, werden sie natürlich aufmerksam. Und was soll das überhaupt mit Cam? Der geht doch noch zur Schule. Cam ist noch kein richtiger Wächter.«

»Jetzt schon.«

Ich schloss die Augen und fuhr mir mit den Fingern durch die Locken. »Wir müssen aufhören. Ich komme in Teufels Küche, wenn rauskommt, dass ich mit dir Kontakt habe.«

»Hast du sie nach Ethan gefragt?«

»Nein. Er hat sich das Leben genommen. Mehr gibt’s darüber nicht zu sagen.« Ich lief die zwei Schritte von der Tür zum Waschbecken hin und her.

»Du weißt, dass das nicht stimmt. Wann gibst du endlich zu, dass die Wächter gefährlich sind?«

»Wann gibst du endlich zu, dass du auf der falschen Seite stehst?« Ich zog fest an einer Locke und riss mir einen Knoten aus dem Haar. Sagte Jack die Wahrheit? Wusste Cam, dass die Unterlagen gefälscht waren?

»Deine richtige Seite hat offenbar keine Probleme, Leute umzubringen.«

»Wir versuchen, die Welt sicherer zu machen«, sagte ich und dachte an Mr Judans Worte. »Du bist nicht lange genug dabei gewesen, um wirklich zu wissen, worum es im Programm geht. Es dreht sich nicht alles nur um die Wächter. Es gibt Ärzte, Wissenschaftler und Diplomaten, die alle nur das Beste wollen.«

»Wenn das euer Ziel ist, macht ihr euren Job aber nicht besonders gut«, antwortete Jack. »Die Wächter haben gerade drei Leute mit Verbindungen zu höchsten Kreisen gekillt was die Leute da oben nicht gerade froh stimmt. Ab jetzt wird alles nur noch schlimmer.«