12

Während wir noch alle auf den Ziegelstein starrten, kam ein Mann aus dem Haus gegenüber und rief nach Annas Mutter. Die zischte Cam etwas zu und brachte rasch ihre Klamotten in Ordnung. Dann winkte sie dem Nachbarn und ging zu ihm. Die Sirenen wurden immer lauter, und überall in den Häusern gingen die Lichter an.

Cam trat zu Lucas. Ich folgte ihm mit Trevor.

»Gib ihn mir«, sagte Cam leise und hielt die Hand hin.

Lucas zuckte die Achseln. »Warum sollte ich? Ist ja mein Auto.«

»Komisch, dass du keinen Finger krumm gemacht hast, es zu schützen«, blaffte Trevor.

Lucas wog den Stein in der Hand. »Vielleicht sollten wir ihn der Polizei übergeben.«

»Wir brauchen ihn«, sagte Cam. »Das weißt du genauso gut wie ich.«

»Und was wollen wir der Polizei erzählen?«, fragte Tara. »Dass die Windschutzscheibe ganz plötzlich auseinandergebrochen ist?«

Barrett schnappte sich einen Zierstein aus Annas Vorgarten. Damit drängte er sich an uns vorbei und platzierte den Stein auf dem Vordersitz. Dann nahm er Lucas den Ziegel aus der Hand und übergab ihn Cam. »Kein Grund zu streiten. Cam macht nur seinen Job.«

Cams Augen verengten sich zu Schlitzen, als wüsste er nicht genau, ob Barrett ihn verschaukeln wollte. »Danke«, sagte er und marschierte mit dem Ziegel ins Haus. Gegenüber hielten zwei Polizeiwagen. Rotes und blaues Licht erhellte unsere Gesichter, spiegelte sich in den Scherben auf dem Pflaster.

Kaum war Cam verschwunden, tauchte Anna neben mir auf; ihr herzförmiger Mund war ganz schmal und verkniffen. »Na, hoffentlich bist du jetzt zufrieden.«

Ich schloss die Augen und holte tief Luft, versuchte die Bilder aus dem Kopf zu bekommen. Cam, verletzt und blutig. Der Junge mit dem langen Mantel und der Stachelfrisur. »Du glaubst doch wohl nicht im Ernst, ich hätte was damit zu tun?«

Anna trat näher und beugte sich zu mir, dabei stemmte sie die Hände in die Hüften. »Warum denn nicht? Erst hast du ihnen verraten, wann wir unsere Aufnahmezeremonie haben, und nun hast du ihnen von der Party erzählt. Da braucht man nicht lange überlegen, sondern muss nur eins und eins zusammenzählen.«

Ich richtete mich auf und sah ihr fest in die Augen. »Und was genau sollte ich davon haben, wenn mein Freund verprügelt wird?«

»Du hast einfach nur danebengestanden, während alle anderen kämpften«, versetzte sie. »Du stehst nicht hinter dem Programm und wirst auch nie dahinterstehen.«

Vor Wut und Scham stieg mir die Röte ins Gesicht. »Du hast doch überhaupt keine Ahnung. Ich durfte nicht kämpfen. Barrett hat es mir verboten.«

Sie hatte ja recht. Ich hatte nur tatenlos zugesehen. Dabei hatte ich die ganze Zeit gehofft, Cam würde das schon verstehen. Aber was, wenn nicht?

Anna steckte die Hände in die Taschen ihrer winzigen Hüftjeans, verzog angewidert das Gesicht und wandte sich ab. »Von dem lässt du dir was sagen?«

»Barrett ist mein Lehrer. Natürlich höre ich auf ihn.«

»Ich weiß nicht, was ich schlimmer finde dass du eine Verräterin bist oder eine feige Memme. Wir sind im Programm, um zu kämpfen. Und nicht, um uns hinter unseren Lehrern zu verstecken.«

Ich verschränkte die Arme vor der Brust und ließ mir noch einmal Barretts Warnung durch den Kopf gehen. Er war der Meinung, ich sei noch nicht so weit und könnte jemanden verletzen. Entsprach das nicht auch Trevors Befürchtungen und im Prinzip auch meinen eigenen, dass ich bei einem Einsatz die Kontrolle über meine Kräfte verlieren und jemandem ernstlich schaden könnte? Womöglich noch den falschen Leuten.

»Vielleicht solltest du dich vorher mal mit Trevor einigen«, sagte ich. »Erst werft ihr mir vor, ich sei noch nicht so weit, dem Programm beizutreten. Und nun sagst du mir plötzlich, ich hätte mit meinen Kräften mitmischen sollen.«

»Wenn Freunde in Gefahr sind, kämpft man«, zischte Anna. »Das weiß doch jeder.«

Ich unternahm noch einen weiteren Versuch, vernünftig mit ihr zu reden. »Hör zu, darum geht es doch gar nicht. Ich weiß noch nicht einmal, wer diese Leute sind, wie hätte ich Kontakt zu einer Gang aus Seattle aufnehmen sollen?«

»Nun tu mal nicht so, als würdest du die Irin nicht kennen«, sagte sie verächtlich.

»Was?«, fragte ich. »Wer soll das sein?«

»Die Irin, Dancia«, sagte sie ungeduldig. »Und er ist jetzt einer von ihnen. Hättest ihn bloß anrufen müssen.«

Ich hielt die Luft an. Unweigerlich wanderte mein Blick zu der Stelle, an der ich ihn gesehen hatte. »Wer?«, fragte ich, obwohl ich es natürlich längst wusste.

»Jack.« Mit ihrem Blick durchbohrte sie mich. »Du hängst immer noch an ihm. Du hilfst ihm. Und sobald ich Beweise habe, werden es alle erfahren.«

Die Polizisten befragten uns der Reihe nach und notierten unsere Aussagen in ihren kleinen Notizheften. Kurz darauf traf auch der Krankenwagen ein; die Sanitäter untersuchten Trevor, Cam und die Mädchen. Trevors Wunde über der Augenbraue musste eventuell genäht werden, da die Blutung nicht zu stoppen war, Cam hatte ein paar geprellte Rippen, würde aber nicht ins Krankenhaus müssen. Genevas Arm sollte aber auf jeden Fall geröntgt werden, und die Sanitäter erboten sich, sie ins Krankenhaus zu fahren. Geneva wollte aber lieber auf ihre Mutter warten.

Sobald die Polizei gegangen war, löste sich auch die Party auf. Anhand unserer Beschreibungen hatte die Polizei eine Gang aus Seattle im Verdacht, die in letzter Zeit für viel Ärger gesorgt hatte. Allerdings war ihnen unklar, was die Bande von uns gewollt hatte und was sie in einem Vorort dreißig Meilen von Seattle entfernt zu suchen hatte. Wir einigten uns darauf, unseren Eltern zu erzählen, dass wir zufällig Opfer einer Gang geworden waren. Dass ihr Anführer aus zwölf Metern Entfernung eine Autoscheibe eingeworfen und einer der Kämpfer fünf Meter hoch in der Luft gefochten hatte, wollten wir für uns behalten.

Nachdem wir wieder unter uns waren, musste Trevor sich auf den Bordstein setzen, und David drückte seine Finger auf den Schnitt in der Augenbraue. Die Haut schloss sich, und es blieb nur noch eine helle rosafarbene Stelle. Danach presste David seine Hände auf Genevas Ellenbogen. Geneva wurde kreidebleich und stöhnte leise, doch hinterher bewegte sie lächelnd ihren Arm, als wäre nichts geschehen. Dann kümmerte sich David um Karis Bauch. Sobald seine Hände auf ihr lagen, atmete sie erleichtert auf.

Also war David tatsächlich ein Heiler. Zwar konnte er keine Toten erwecken, aber durch Handauflegen kleine Wunden und Knochenbrüche heilen. Nach der Heilung waren er selbst und auch die Verletzten erst einmal erschöpft, denn David verband seine eigene Energie beim Heilen mit der des Kranken. Gemeinsam mit Trevor, Kari und Geneva ging er ins Haus, um sich hinzulegen. Außerdem bereitete Annas Mutter ihnen noch ein Energiegetränk zu, damit sie wieder zu Kräften kamen.

Verängstigte Eltern fuhren vor, während ich auf dem Gehweg saß und meinen Blick starr auf das Gebüsch gegenüber gerichtet hielt. Cam bot mir seine Hand, doch ich schüttelte den Kopf. Ich wollte ihm nicht noch mehr Schmerzen bereiten, deshalb stand ich allein auf und folgte ihm ins Haus, wo Anna und ihre Mutter die anderen verabschiedeten und die besorgten Eltern beruhigten. Cam sank auf Annas Ledersofa mit der hohen Rückenlehne. Obwohl er den Sanitätern gesagt hatte, dass er kaum verletzt sei, hatte er offenbar Schmerzen. Sein Atem ging flach, und bei jeder schnellen Bewegung zuckte er zusammen.

»Du solltest David bitten, dir zu helfen«, sagte ich.

»David ist zu müde. Das geht schon.«

Cam fielen die Augen zu. Sein T-Shirt war zerissen und voller Blutflecken. Ich musste an Annas Worte denken und fragte mich, was ich nun tun sollte. Cam hatte sich mir gegenüber nicht anders verhalten als vor der Prügelei, allerdings hatte er mich auch nicht gerade mit Küssen überhäuft.

Mit den Fingern fuhr ich über die Polsterung. »Tut mir leid, dass ich nicht geholfen habe.«

Er schlug die Augen auf. »Wovon redest du überhaupt?«

»Ich fühle mich mies. Denn ich habe nichts getan. Ich hätte euch beistehen sollen.«

»Niemand hat das von dir erwartet. Du fängst doch gerade erst an, und ohne dich beleidigen zu wollen: Im Nahkampf bist du echt nicht zu gebrauchen.« Er lächelte mich an, und wir verschränkten unsere Finger. »Du hast ganz richtig gehandelt.«

»Aber ich hätte « Auch ohne dass ich den Satz beendete, wusste Cam, was ich sagen wollte.

»Spinnst du? Wenn jemand sieht, wie Geneva zehn Meter durch die Luft fliegt, dann ist das noch okay. Anschließend können sich die Leute einreden, sie hätten sich das nur eingebildet. Aber einen Krater kann sich niemand einbilden.« Er schenkte mir ein müdes Lächeln, dann fielen ihm die Augen wieder zu. »Kämpfen ist mein Job, nicht deiner. Fürs Erste jedenfalls. In einem Jahr kannst du sie dann für mich vermöbeln.«

»Bestimmt nicht«, sagte ich. »Du warst unglaublich. Wenn du es nicht gerade mit Attila dem Hunnenkönig hättest aufnehmen müssen, hättest du deinen Gegner plattgemacht.«

Cam zuckte die Achseln und verzog das Gesicht. »Ich habe keine außergewöhnlichen Körperkräfte. Als ich mit der Ausbildung anfing, wusste ich, dass ich zweimal so hart trainieren muss, um im Kampf mithalten zu können.« Sanft drückte er meine Hand. »Du hättest ins Haus gehen sollen. Ich hatte Angst um dich.«

Das ging mir runter wie warme Schokolade. Ich rutschte näher zu ihm, wobei ich achtgab, mich nicht zu sehr gegen seine verletzten Rippen zu lehnen. »Hast du echt geglaubt, ich würde reingehen, weil du es mir befohlen hast?«

Er fing an zu lachen, fasste sich aber sogleich an die Seite. »Mann, tut das weh. Nein, habe ich nicht. Aber einen Versuch war’s wert.«

Cam hatte mich beschützen wollen. Ich war total baff. Normalerweise war ich diejenige, die andere beschützte. Natürlich hatte sich Oma alle Mühe gegeben, sich um mich zu kümmern, doch sie war so klein und zerbrechlich, dass ich meistens das Gefühl gehabt hatte, die Verantwortung zu tragen. Und wenn ich meine Kräfte einsetzte, dann um andere zu verteidigen. So war ich nun einmal, das lag mir im Blut.

Es war ein schönes Gefühl, dass jemand auch mal um meine Sicherheit bangte.

Ich betrachtete Cams flachen Bauch und die verwuschelten Haare, die den blutigen Riss auf seiner Stirn halb verdeckten. Vorsichtig strich ich ihm das Haar aus der Stirn.

»Das muss wehtun«, sagte ich.

»Mach dir keine Sorgen.«

Er ließ sich meine Berührung gern gefallen.

»Warte mal kurz.« Aus der Küche holte ich Haushaltspapier, das ich unter warmes Wasser gehalten hatte. Damit setzte ich mich wieder neben ihn und betupfte die Schnitte.

»Das tut gut«, sagte er und schloss die Augen. »Danke.«

Eine Weile saßen wir einfach nur nebeneinander, und ich wünschte, ich hätte den Mund halten können, aber irgendetwas trieb mich dazu, das Schweigen zu brechen. »Ähm passiert so was öfter?«

»Nicht auf diese Weise.«

Mehr sagte er nicht. Ich wartete auf eine Erklärung, doch da hätte ich wohl die ganze Nacht lauern können.

»Es hat dich nicht überrascht, dass sie von den Wächtern wussten.«

»Eine Reihe von Leuten ist schon dahintergekommen. Wir sind eben nicht perfekt.«

Abermals wartete ich, doch er hüllte sich wieder in Schweigen. Endlich nahm ich all meinen Mut zusammen und verwendete das Wort, das mir Anna an den Kopf geworfen hatte. »Gehören sie zu den Irin?«

Cam erstarrte. »Die Irin? Wer hat dir denn von den Irin erzählt?«

Die Art und Weise, wie er das Wort aussprach, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren.

»Anna«, sagte ich. »Warum fragst du?«

»Weil sie dir nichts davon hätte sagen dürfen.«

Die Freude darüber, dass er offensichtlich genervt war, währte nur kurz, denn einen Augenblick später ärgerte ich mich schon, dass sie mal wieder mehr wusste als ich. »Aber ich gehöre doch jetzt dazu. Vor mir musst du doch nichts mehr geheim halten.«

»Das hat nichts mit dir zu tun. Das betrifft alle im ersten Jahr. Ihr sollt euch auf eure Gaben konzentrieren und nicht auf den Kampf.«

»Den Kampf?«

»Gegen die Irin.« Cam brachte sich mühsam in eine aufrechte Position und sah mir direkt in die Augen. »Du hättest davon noch nicht erfahren sollen. Anna hätte nichts sagen dürfen.« Tiefe Besorgnis hatte sich in seine Stimme geschlichen.

»Aber sie hat es nun mal getan.«

»Allerdings.« Er senkte den Blick.

»Bitte, Cam«, sagte ich. »Ich muss wissen, was hier vor sich geht.«

Besonders wenn Jack einer von ihnen ist.