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Die Worte von Barretts Vater spukten mir den ganzen Tag im Kopf herum. Als derjenige, der von dem Machtzuwachs der Wächter profitierte, kam mir nur Mr Judan in den Sinn. Schließlich stand er an der Spitze des Wächterprogramms. Wenn sie mehr Macht bekamen, dann galt das automatisch auch für Mr Judan. Aber was hatte Mr Alterir damit andeuten wollen? Dass Mr Judan etwas mit den Irin zu tun hatte?

Zwei Tage später hatten die Mitglieder des Hohen Rats ihr Treffen beendet und zogen mit ihren Leibwächtern ab. Barrett vertraute mir an, dass sie für eine Sondereinheit gestimmt hatten, die den Präsidenten beschützen sollte. Wächter mit besonderen Befugnissen, die im Notfall schnell handeln konnten. Barrett schien nicht gerade glücklich über diesen Beschluss, sein Vater war es wohl ebenfalls nicht.

Eine Woche später rief mich Jack an. Ich ging nicht ran. Er hinterließ mir eine lange Nachricht über eine Band, die er am Abend zuvor in einem Club gehört hatte. Ich musste mich total zusammenreißen, ihn nicht sofort zurückzurufen. Denn er fehlte mir. Im Unterricht stellte ich mir vor, er würde noch neben mir sitzen. Beim Lernen dachte ich an ihn. Einmal hatte ich sogar seinen Kuss mit Cams Küssen verglichen. Das war natürlich Quatsch, weil Jack und ich nicht füreinander bestimmt waren. Doch eine kleine Stimme in meinem Kopf quälte mich mit der Erinnerung an den Moment, als ich alle Zweifel vergessen und sich Jacks Kuss genau richtig angefühlt hatte.

Der Gedanke war natürlich vollkommen abwegig, zumal jetzt, wo Jack zu den Irin gehörte.

Bislang trieb er sich wohl nur ein wenig mit der Gang aus Seattle herum, war aber noch nicht aktiv in ihre Taten verwickelt. Er hatte einen Aufenthalt in Washington erwähnt, aber ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass er wirklich mit dieser Zelle zu tun hatte.

Obwohl ich es mir nur ungern eingestand, wusste ich eigentlich, was ich tun musste. Die Irin waren unsere Feinde. Nur schwarz oder nur weiß war ganz wenig in meiner Welt, aber selbst Jack hatte gesagt, dass von nun an alles nur noch schlimmer werden würde. Die Irin waren bewaffnet und voller Wut. Jack war vielleicht noch kein Vollmitglied der Gruppe, aber er gehörte dazu.

Es war Zeit, den Kontakt zu ihm abzubrechen.

Auch wenn es mir schwerfiel.

In der ersten Maiwoche nahmen Mr Judan und Mr Fritz ein paar von uns zu einer Übung mit. Vor der Abreise wirkte Barrett sehr besorgt. Normalerweise wurden Zehntklässler wohl sonst nie auf solche Trainingsreisen geschickt von Neuntklässlern ganz zu schweigen. Mit diesem Jahrgang fingen sie offenbar schon früh an, und Barrett hielt das für keine gute Idee. Seiner Meinung nach bräuchten wir noch viel mehr Übung, bevor man uns in »improvisierte Kämpfe« schickte.

Obwohl ich tausend Mal nachfragte, wollte Barrett mir nicht sagen, worauf sich dieser Begriff bezog. Natürlich machte mir das eine Heidenangst. Immerhin wäre ich bei meinem letzten improvisierten Kampf beinahe draufgegangen. Auch wenn ich meine Kräfte mittlerweile besser im Griff hatte, wusste ich nicht, was geschehen würde, wenn ich unter Druck geriete. Mr Fritz und Mr Judan schienen gleichfalls entschlossen, uns im Ungewissen zu lassen. Mein einziger Trost war, dass Cam mitkam. Und leider auch Anna.

Am Donnerstag nach dem Mittagessen wurden wir alle in einen Transporter verfrachtet. Wir waren zu acht, darunter zwei Zehntklässler, drei Elftklässler und ich. Dass Alisha dabei war, überraschte mich nicht. Wenn die Schüler nach Kampfgeschick ausgewählt wurden, stand sie ganz oben auf der Liste. Der andere aus der Zehnten, Xavier, war nicht auf Annas Party gewesen, von ihm wusste ich also nur wenig. Ich hatte gehört, dass er ein ausgezeichneter Spurenleser war. Es hieß, wenn jemand über einen Zementboden ginge, ohne die geringsten Abdrücke zu hinterlassen, könnte Xavier hinterher dennoch sagen, an welcher Stelle seine Füße den Boden berührt hatten. Zudem sah er auch noch gut aus, dunkle Haut, hohe Wangenknochen und sportliche Figur, allerdings hatte Esther mir verraten, dass er mehr auf Musik als auf Sport stand.

Vor ihrer »Verwandlung« hatte Esther ihn nämlich als möglichen Freund anvisiert. Doch seither hatte sie sich mehr auf die Elft- und Zwölftklässler konzentriert, und dank neuem Look und neuer Einstellung hatte sie einen ziemlichen Verschleiß. Jedes Wochenende schien sie einen Neuen zu haben. Trevor starrte ihr nur noch mit ratlosem Hundeblick hinterher, und offenbar konnte sie es nicht lassen, mit jeder Eroberung vor seiner Nase herumzuspazieren. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte, also tat ich so, als wäre nichts. Aber ein bisschen leid tat mir Trevor schon.

Ich war fest davon ausgegangen, dass er zu der Übung mitkommen würde, und war überrascht, stattdessen Molly zu sehen. Abgesehen davon, dass sie sich bei jedem Konflikt verdünnisierte, mochte ich Molly. Mir war schleierhaft, was sie bei dieser Übung sollte, denn sie taugte absolut nicht zum Kampf. Auf Annas Party war sie die einzige Elftklässlerin gewesen, die bei der Schlägerei nicht mitgemacht hatte. Vielleicht sollte sie hier ein wenig Praxis bekommen.

Mr Fritz lenkte den Wagen, während Mr Judan mit einem Block auf dem Schoß unentwegt Notizen machte. Ich saß neben Cam, der sich bemühte, gute Laune zu verbreiten eine große Herausforderung, selbst für ihn. Schließlich gab er auf, und wir schwiegen.

Vom Highway bogen wir auf einen Schotterweg ab, der uns in den Wald führte. Zweimal mussten wir anhalten, um Eisentore zu öffnen. Offenbar sollte verhindert werden, dass uns irgendjemand bei der Übung überraschte. Nach dem zweiten Tor fuhren wir noch ein paar Kilometer und hielten dann vor einer kleinen Holzhütte.

Beim Aussteigen schien die Sonne, und ein mildes Lüftchen wehte. Nach wochenlangem Regen endlich blauer Himmel und über zwanzig Grad, wodurch alles in Rekordtempo wuchs. Überall im Wald blühten Rhododendren in Hellrosa und Lila, dazwischen das leuchtende Gelb der Mahoniensträucher und die Blüten wilder Kletterpflanzen.

Wir standen vor dem Wagen und warteten auf Mr Judan. Wie immer tauchte er mit einem strahlenden Lächeln auf. Als Mr Fritz dann in der Hütte verschwand, geriet ich ein wenig in Panik. Nach meiner Unterhaltung mit Mr Alterir wusste ich nun erst recht nicht mehr, was ich von Mr Judan zu halten hatte. Ich hatte ihn schon immer gruselig gefunden, doch nun wurde ich bereits nervös, wenn er nur zu mir herübersah.

»Meine lieben Schüler«, sagte Mr Judan. »Ich möchte mich bei euch bedanken, dass ihr die Herausforderung angenommen habt und bereit seid, unser kleines Spiel mitzuspielen. Natürlich kann man im Unterricht viel lernen, aber eben nicht alles. Jeder von euch steht an einem Scheideweg, deshalb seid ihr hier. Manche von euch möchten zeigen, was sie im letzten Jahr gelernt haben.«

Molly lief rot an und presste die Arme an die Seiten.

»Andere haben sich eine Herausforderung gewünscht, und diesem Wunsch kommen wir gern nach.«

Xavier und Alisha lächelten verhalten.

Nun wartete ich gespannt, zu erfahren, warum ich hier war, aber Mr Judan sagte bloß: »Diese Erfahrung wird euch alle einen Schritt weiterbringen in eurer Ausbildung. Jetzt werde ich euch in zwei Teams einteilen. Anna wird das rote Team anführen.« Anna trat vor, um ihre perfekten Lippen spielte nicht die Spur eines Lächelns. »Anna, zu deinem Team gehören Dancia und Xavier. Cameron, dir untersteht das blaue Team mit Molly und Alisha. Anna und Cameron, wir haben euch beide als Anführer ausgewählt, weil wir euch zutrauen, eure Kameraden sicher und erfolgreich durch diese Übung zu bringen. Vergesst nicht, dass es hier nicht nur ums Gewinnen geht, sondern auch darum, Erfahrungen zu sammeln.«

Anna und Cam nickten, traten vor und gaben einander die Hand. Es wirkte wie ein altes Ritual zwischen den beiden, und wie schon so oft in diesem Jahr hatte ich das Gefühl, dass Cam und Anna eine Vergangenheit verband, die mir für immer verschlossen bleiben würde.

»In einem Umkreis von anderthalb Kilometern um die Hütte haben wir ein Glasröhrchen versteckt. Es sieht ungefähr so aus.« Mr Judan zog einen schlanken Glaszylinder mit schwarzem Pfropfen hervor, ähnlich denen, die wir im Chemieunterricht verwendeten. Der Zylinder war in etwa so lang wie sein kleiner Finger und auch nicht viel dicker. »Dieses Röhrchen enthält ein tödliches Gift. Gelangen auch nur wenige Tropfen davon ins Trinkwasser, können Tausende sterben. Ihr müsst das Röhrchen vor dem anderen Team finden und zur Hütte bringen, wo das Gift dann gefahrlos vernichtet werden kann. Das Team, das zuerst mit dem Glasröhrchen in der Hütte ist, hat gewonnen.«

Mr Judan zeigte zur Hütte, aus der Mr Fritz gerade schwarze Westen und eine Handvoll Schutzmasken schleppte. Er warf sie auf die Erde und marschierte wieder hinein. Beim nächsten Mal kam er mit Gewehren zurück.

Ich glaubte meinen Augen nicht zu trauen. Wir bekamen Schusswaffen? Für eine Übung?

»Jeder bekommt ein Gewehr und Munition. Eure Vorräte sind begrenzt, also setzt sie klug ein. Außerdem habt ihr Westen, Masken und Handschuhe. Auf jeder Weste ist vorne auf der Brust eine quadratische Markierung. Das ist die Strike Zone. Zielt nur darauf. Mit den Farbpatronen kann man zwar niemanden ernstlich verletzen, aber sie tun weh.«

»Und hinterlassen fiese Blutergüsse«, sagte Cam.

Mit möglichst sachverständigem Blick nahm ich die Waffen in Augenschein. Paintballmarkierer. Was sonst! Die hellblaue Farbe am langen, dünnen Lauf und der daran befestigte Zylinder hätten mich stutzig machen sollen. Natürlich waren das keine echten Waffen.

»Wer in der Strike Zone getroffen wird, scheidet aus. Wer an einer anderen Stelle getroffen wird, darf weitermachen. Dabei verlassen wir uns darauf, dass ihr ehrlich seid und bei einem direkten Treffer von selbst abbrecht.« Er hielt inne. »Gibt es noch Fragen?«

»Dürfen wir unsere Gaben einsetzen?«, wollte ich wissen.

Mr Judan zeigte blitzend weiße Zähne. »Selbstverständlich.«

»Gibt es auch eine Safe Area Zone?«, fragte Alisha mit glühenden Augen. Sie war kaum noch zu halten vor Begeisterung.

»Ausgezeichnete Frage.« Mr Judan wies auf eine Reihe kleiner roter Fahnen. Bislang waren sie mir noch nicht aufgefallen, doch nun sah ich, dass sie in einem Umkreis von zehn Metern um die Hütte standen. »Die Fahnen markieren die entmilitarisierte Zone. Innerhalb dieses Bereichs dürft ihr keine Waffen benutzen oder das andere Team angreifen.«

»Muss das gesamte Team zurück zur Hütte?«, fragte Xavier.

»Nein. Lediglich einer aus dem Team muss es mit dem Glasröhrchen zur Hütte schaffen. Das reicht.« Mr Judan blickte uns der Reihe nach an. »Weitere Fragen?« Wir schüttelten den Kopf. »Gut. Lasst euch ein paar Minuten Zeit, um die Ausrüstung anzulegen und euch mit den Waffen vertraut zu machen. Ihr dürft auch gern einen Kompass mitnehmen. Hinter der Hütte innerhalb der demilitarisierten Zone ist ein Platz für Schießübungen. Nachdem ihr diesen Platz verlassen habt, seid ihr auf euch allein gestellt.«

Ich verzog keine Miene, Anna sollte nicht merken, dass ich eine Riesenangst vor diesen Paintballteilen hatte. Aber trotz meiner Angst war ich zu allem entschlossen. Es würde wie im Unterricht sein, wo ich gegen meine Lehrer kämpfen musste, nur dass ich diesmal gewarnt war. Ich würde meine Fähigkeiten nutzen und zeigen, was ich draufhatte. Vielleicht würde ich sogar Anna in den Schatten stellen.

Nur mein Blick fiel auf den Haufen Paintballmarkierer. Kurz vor den Frühlingsferien hatten wir ein paar Tage lang Schießübungen mit Luftgewehren veranstaltet, und ich hatte mich total dämlich angestellt. Nicht einmal die Zielscheibe hatte ich getroffen. Und heute würden sich die Leute auch noch bewegen. Wie gut standen wohl meine Chancen, ein bewegliches Ziel zu treffen?

Anna gab mir und Xavier ein Zeichen, ihr zu folgen. Cam nahm sein Team ebenfalls beiseite.

»Schnappt euch einen Markierer und tut so, als würdet ihr Schießübungen machen«, flüsterte Anna. »Aber achtet auf mein Zeichen. Sobald sie abgelenkt sind, hauen wir ab. Wir müssen einen möglichst großen Vorsprung rausholen.«

»Anna, ich habe noch nie in meinem Leben eines von diesen Teilen in der Hand gehabt.« Verstohlen sah ich zu Cam. Er wirkte ruhig und zuversichtlich, während er mit Molly und Alisha sprach. »Vielleicht wäre es nicht schlecht, wenn ich ein bisschen übe. Bevor die mich abknallen.«

»Genau aus diesem Grund sollst du weglaufen«, sagte sie rundheraus. »Sonst erschießt dich Cam, bevor du überhaupt angelegt hast. Ich habe schon gesehen, wie er jemanden aus zweihundert Metern Entfernung im Lauf getroffen hat. Du musst aus seiner Schusslinie, und zwar schnell.«

Damit lag sie bestimmt richtig, obgleich ich mir Cam nicht gern so tödlich vorstellte.

»Wohin sollen wir?«, fragte Xavier.

»Wir bleiben lange genug zusammen, um eine Basis einzurichten«, sagte Anna. »Wir brauchen Deckung Brombeergestrüpp oder viele Bäume , wo uns niemand von hinten angreifen kann. Danach teilen wir das Gelände für die Suche in Quadranten ein. Ihr zwei nehmt euch auf jeden Fall einen Kompass. Man kann sich hier leicht verirren.«

»Was ist denn mit Xaviers Begabung?«, fragte ich. Über meine eigene Unfähigkeit, mich mit einem Kompass zurechtzufinden, wollte ich lieber nicht nachdenken. »Sollte er nicht lieber gleich mit dem Spurenlesen anfangen? Die sind doch mit dem Röhrchen bestimmt von der Hütte aus losgegangen. Wir wollen doch nicht den Anfang der Spur verpassen.«

Xavier nickte. »Von hier aus kann ich schon jede Menge Abdrücke sehen, darunter auch eine Spur, die Mr Fritz und Mr Judan gemeinsam gemacht haben. Ich könnte dieser Spur folgen, während die anderen mit den Gewehren üben. Dancia kann mir so lange Rückendeckung geben.«

Anna packte uns bei den Schultern und zog uns zu sich. »Wenn ihr beiden rumtrödelt, um einer Spur zu folgen, seid ihr gleich weg vom Fenster, kapiert? Ich weiß ja eure Vorschläge zu schätzen, aber in diesem Fall müsst ihr mir vertrauen. Wir müssen so schnell wie möglich von den anderen weg. Zur Spur können wir immer noch zurück.«

Xavier und ich tauschten Blicke und sahen dann wieder zu Anna. Auf der Lichtung war es still geworden. Mich machte es fertig, auf Anna hören zu müssen, aber ihr Plan schien durchdacht. »Okay«, brachte ich mit Mühe heraus. »Ich bin dabei.«

Xavier nickte. »Ich auch.«

Wir standen im Kreis und legten die ausgestreckten Hände übereinander. Anna zählte leise: »Eins, zwei, und los!«

Wir fuhren zu unseren Gegnern herum.