21
Cam hatte tatsächlich ein paar Ladungen schmutziger Wäsche dabei, also mussten wir irgendwann dann doch in den Waschsalon. Während seine Sachen im Trockner waren, teilten wir uns nebenan bei Bev’s einen Milchshake. Allmählich wich Cams Anspannung, und wir liefen Hand in Hand zurück und erinnerten uns lachend an unser erstes Treffen bei Bev’s. Damals hatte er versucht, mich zu überreden, auf die Night Academy zu kommen, und ich hatte mir alle Mühe gegeben, meine Kräfte zu verbergen.
Vor unserem Haus setzte er mich wieder ab. Oma erwartete mich bereits an der Eingangstür. »Für so ’n bisschen Wäsche habt ihr so lange gebraucht?«
»Ja«, sagte ich, ohne mit der Wimper zu zucken.
Kichernd begab sie sich zurück vor den Fernseher. Ich ging in die Küche und schnappte mir eine Limo. Meine Gedanken kreisten um Cam und Jack.
Wenn Cam nichts davon wusste, dass man den Irin die belastenden Papiere untergejubelt hatte, wer hatte es dann getan? Cam hatte draußen gewartet, während Mr Judan und die Wächter die Irin im Lagerhaus erschossen hatten. Jeder Einzelne von ihnen hätte es gewesen sein können.
Irgendwie ging ich ganz automatisch davon aus, dass Jack die Wahrheit sagte. Nun musste ich mir nur noch meine nächsten Schritte überlegen.
Esther hatte mich und Hennie zwar in ihre Pläne eingeweiht, dennoch war ich geschockt, als ich sie am Montagmorgen in der Schule sah. Im Keller bei den Spinden hielt sie inmitten einer Schar Jungen Hof. Das Haar fiel ihr in weichen Wellen über den Rücken. Ungewöhnlich dichte, dunkle Wimpern umrahmten ihre Augen, und ihre Lippen leuchteten in perfektem Rot. Sie trug knallenge Jeans und einen Pulli mit weitem U-Boot-Ausschnitt. Es war zwar Esther, aber eine Esther, die ich noch nie gesehen hatte.
Ich hatte geglaubt, mich mittlerweile an ihre Begabung gewöhnt zu haben. Schließlich hatte ich sie schon in diversen Rollen erlebt, hatte mitbekommen, wie sie Gesicht und Körper raffiniert verändern konnte. Doch diesmal war es anders. Die Verwandlung betraf nicht nur den Schwung ihrer Brauen oder den Klang ihrer Stimme, diese Veränderung erfasste ihre Person als Ganzes.
»Esther?«, rief ich fassungslos.
Sie drehte sich zu mir um und stemmte die Hand in die Hüfte. »Was geht ab?«
»Das sollte ich wohl besser dich fragen.« Ich zeigte auf sie. »Du hast es also durchgezogen.«
Sie lachte tief und kehlig. »Ich weiß nicht, was du meinst.« Daraufhin wandte sie sich den umstehenden Jungs zu. »Habt ihr eine Veränderung an mir bemerkt?«
Eifrig nickten sie, und Esther lachte erneut.
Ich zupfte an dem Rucksack über meiner Schulter. Mit meinen weiten Jeans und dem Hoodie kam ich mir im Vergleich zu Esther komplett underdressed vor. »Ich habe dich heute beim Frühstück vermisst«, sagte ich. »Hennie und ich sind extra früh gekommen, damit wir noch zusammen essen können. Wir waren doch verabredet.«
Allerdings erwähnte ich nicht, dass Hennie bei Yashirs Anblick überstürzt die Cafeteria verlassen hatte. Über die Ferien hatten sie zwar gesimst, aber Hennie hatte sich dreimal mit Rashid treffen müssen, einem Jungen, den ihre Eltern für sie auserkoren hatten, und nun hatte sie schreckliche Schuldgefühle.
Esther warf ihr seidig schimmerndes Haar zurück. »Hab lange geschlafen. Ich brauche meinen Schönheitsschlaf.«
»Offensichtlich.« Dabei hätte ich ihr so gern von Cam erzählt und wie ich mich aufs Neue in ihn verliebt hatte.
Beim ersten Mal hatte ich mich in sein Aussehen und seine starke Persönlichkeit verliebt. Doch diesen Sonntag war mir klar geworden, dass meine Liebe auch seiner empfindsamen Seele galt.
Allerdings interessierte sich Esther in diesem Moment nicht besonders für Cams Seele.
Es klingelte, und Esther hakte sich bei einem Jungen unter. »Wir sollten lieber zum Unterricht.« Sie schritt davon, kam dann aber noch einmal zurück und flüsterte mir ins Ohr: »Ich halte Ausschau nach Trevor. Sag Bescheid, wenn du ihn siehst!«
Bestürzt sah ich ihr nach. Und zum ersten Mal kam es mir in den Sinn, dass vielleicht Trevor derjenige war, der Schutz brauchte.
Die ersten Besucher kamen schon am frühen Dienstagmorgen, der Rest trudelte im Laufe des Tages ein. Manche kamen allein, andere zu zweit, sie trugen Anzüge und Aktenkoffer und unterhielten sich angeregt mit Mr Judan oder auch untereinander. Man schüttelte sich die Hände zur Begrüßung, während Schüler die Koffer ins Bly verfrachteteten, wo die Gäste schlafen sollten. Im Hintergrund schlich eine Gruppe Männer und Frauen mit ernstem Gesicht und Knopf im Ohr herum, wahrscheinlich Wächter. Die Hände hatten sie entweder in die Hüften gestemmt oder vor der Brust verschränkt. Es ließ sich unschwer erahnen, dass unter ihren Jacken Pistolen steckten.
Nach dem Frühstück ließ Rektorin Solomon über Lautsprecher verkünden, dass es sich bei den Besuchern um Teilnehmer einer internationalen gemeinnützigen Organisation handelte. Alisha, eine Zehntklässlerin aus dem Programm, verriet mir, dass es Mitglieder des Hohen Rats waren, die wahrscheinlich wegen der Vorfälle in Washington zusammengekommen waren.
Barrett passte mich auf dem Flur ab, als ich gerade auf dem Weg zum Schwerpunktunterricht war. »Ich würde dir gern jemanden vorstellen.«
Das Bly lag zurückgesetzt hinter dem Haupthaus. Mit seinem strahlend weißen Anstrich, der rundumlaufenden Veranda und Hunderten von roten und rosafarbenen Kletterrosen hätte es gut auf eine Postkarte gepasst. Eine große Gestalt mit weißem Haarschopf wartete auf der Veranda auf uns.
Barrett deutete mit einem Kopfnicken auf mich. »Dad, das ist Dancia Lewis.«
Der weißhaarige Mann streckte mir die Hand entgegen. »Ich bin Ronald Alterir.« Er hatte ein langes, schmales Gesicht und Habichtsaugen. Die Ähnlichkeit mit Barrett war frappierend, nur dass Ronald Alterir so aussah, als wäre er es gewohnt, Befehle zu erteilen. »Ich habe schon viel von dir gehört.«
»Nur Gutes, natürlich«, sagte Barrett mit blitzenden Zähnen.
»Danke, Mr Alterir«, sagte ich und trat nervös einen Schritt zurück, nachdem er meine Hand losgelassen hatte. »Freut mich sehr, Sie kennenzulernen.«
»Bitte nenn mich doch Ronald.« In einer Ecke der Veranda standen gepolsterte Stühle. »Ich habe vor meiner ersten Verabredung noch ein paar Minuten Zeit. Wollen wir uns nicht setzen?«
»Wir möchten dich nicht stören«, sagte Barrett. »Ich weiß ja, dass du viel zu tun hast.«
Mr Alterir seufzte – auch wenn er mir das Du angeboten hatte, fühlte ich mich bei dem Gedanken, ihn Ronald zu nennen, nicht so ganz wohl. »Ihr stört doch nicht. Ihr seid für mich eher eine willkommene Abwechslung. Bei diesen Besprechungen geht es immer hoch her, besonders nach einem Vorfall mit den Irin.«
Wir setzten uns. Barrett und ich nahmen nebeneinander Platz, Mr Alterir setzte sich uns gegenüber. Sittsam schloss ich die Knie, aber innerlich war ich total nervös. Barrett hatte mir einiges über seinen Vater erzählt. Von Cam und ein paar anderen hatte ich zudem erfahren, dass er und Mr Judan nicht gut miteinander auskamen. Warum, wusste ich natürlich nicht, aber bestimmt hatte es mit den Wächtern zu tun.
»Weitere Notstandsbeschlüsse?«, fragte Barrett.
»Wahrscheinlich.« Mr Alterir schlug die Beine übereinander. »Normalerweise würde ich nicht so offen vor einer Schülerin sprechen, Dancia. Aber du scheinst ja auch keine normale Schülerin zu sein.«
Da ich mir nicht sicher war, ob das ein Kompliment sein sollte, zuckte ich lediglich mit den Achseln.
»Sie ist etwas ganz Besonderes«, sagte Barrett und streckte seine langen Beine aus. Neben den teuren Slippern seines Vaters wirkten seine alten Sandalen besonders abgewrackt. »So viel steht fest.«
»Tut mir leid, dass du den Vorfall mit der Gruppe aus Seattle so hautnah miterleben musstest«, sagte Mr Alterir. »Es ist immer äußerst beunruhigend, wenn unsere Schüler bedroht werden.«
»Wahrscheinlich kann man nicht beeinflussen, was die Irin tun.«
»Das stimmt, aber wir können die Gefahr möglichst gering halten. Jedenfalls ist es das, was der Hohe Rat versucht. Zumindest ich möchte das erreichen.«
Ich wusste wieder nicht, wie ich diese Bemerkung auffassen sollte, aber mir kam der Verdacht, dass sie gegen Mr Judan gemünzt war. »Also sind Sie hierhergekommen, um über die Ereignisse in Washington zu sprechen?«
»Ja, wir treffen uns immer, wenn es zu einem beunruhigenden Zusammenstoß mit den Irin gekommen ist.«
»Machen Sie sich um den Präsidenten Sorgen?«, fragte ich. »Glauben Sie wirklich, dass die Irin ihn töten wollten?«
Mr Alterir hob die Hände. »Die Unterlagen im Lagerhaus belegen das eindeutig.«
Die nächsten Worte wählte ich mit Bedacht. Auch wenn ich das Gefühl hatte, bei Mr Alterir auf Verständnis zu stoßen, wollte ich ihm nicht gleich bei unserer ersten Begegnung unter die Nase reiben, dass ich mit einem der Irin in Kontakt stand. »Aber kommt Ihnen das nicht auch etwas seltsam vor? Ich meine, warum sollten sie den Präsidenten ermorden wollen, wenn sie es doch eigentlich auf den Hohen Rat abgesehen haben? Das scheint mir keine Erfolg versprechende Strategie.«
»Der Gedanke ist mir auch schon gekommen«, sagte Mr Alterir und sah mich nachdenklich an. Ich wand mich innerlich unter seinem Blick, richtete mich dann aber gerade im Stuhl auf und rückte meine Kapuze zurecht. »Ein Anschlag auf den Präsidenten sieht unserem Freund Gregori tatsächlich gar nicht ähnlich. Er hält sich für sehr gerissen, aber will sicher nicht die Aufmerksamkeit der gesamten Polizei auf sich lenken. Ein Mordanschlag gegen eine hochstehende Persönlichkeit ist einfach nicht sein Stil.«
Gebannt beugte ich mich vor. »Woher kennen Sie ihn so gut?«
»Wir sind ein kleiner Kreis«, sagte Mr Alterir. »Es gibt nicht besonders viele mit sehr großen Kräften. Wenn du erst in unsere Ränge aufsteigst, wirst du das schon sehen. Gregori und ich sind auf die gleiche Schule gegangen. Wir kannten uns gut.«
Ich machte große Augen. Gregori war mir bislang wie eine düstere Schattengestalt vorgekommen, so fern einer realen Person, dass ich schon beinahe an seiner Existenz gezweifelt hatte. »Und nun streiten Sie seinetwegen mit dem Hohen Rat?«, fragte ich.
Mr Alterir erhob sich und machte ein paar Schritte. Er strich über die Blütenblätter einer Rose. »Gregori ist schon damals, als wir uns noch gut kannten, immer etwas unberechenbar gewesen. Doch ich hätte nie gedacht, dass er eines Tages so gefährlich werden könnte.«
»Sie glauben nicht, dass er so böse ist, wie alle sagen, nicht wahr?«, fragte ich.
Er brach die Blüte ab und hielt sie unter die Nase, um den lieblichen schweren Duft einzuatmen. »Gregori ist rücksichtslos. Und ich glaube, wenn er etwas will, dann tut er alles in seiner Macht Stehende, um es auch zu bekommen.«
Damit hatte er meine Frage allerdings noch nicht beantwortet. Also versuchte ich es mit einer neuen Taktik: »Wenn Sie Gregori auch für gefährlich halten, worum streiten Sie dann im Hohen Rat?«
Er überreichte mir die Rose und lächelte amüsiert, als wüsste er genau, dass ich ihn festnageln wollte. »Nach jedem Angriff der Irin treffen wir uns, um das weitere Vorgehen zu besprechen. In letzter Zeit hat das in der Regel dazu geführt, dass wir die Anzahl der Wächter erhöht und ihre Befugnisse erweitert haben, ohne Rücksprache mit dem Hohen Rat zu halten.«
Vorsichtig fasste ich den dornigen Stiel der Rose mit den Fingerspitzen. Mr Anderson wäre stocksauer, wenn er wüsste, dass wir uns an seinen Rosen zu schaffen gemacht hatten. »Und damit sind Sie nicht einverstanden?«
Ronald Alterir lehnte sich gegen die Verandabrüstung und zuckte die Achseln. »Mit jedem Beschluss bekommt eine gewisse Person mehr Macht. Und da frage ich mich allmählich, ob das wirklich nur Zufall ist. Eine berechtigte Frage, findest du nicht?«