11
Angenehm kühle Luft schlug mir entgegen, als ich aus der Tür trat. Ich hatte gar nicht bemerkt, wie heiß es drinnen geworden war. Wir liefen die lange Auffahrt hinunter, und bald war von der Musik nur noch ein dumpfes Dröhnen zu vernehmen. Sanfte Klänge einer anderen Melodie kamen aus einem fetten SUV, der ein Stück weiter parkte. Lucas und Cyrus saßen am Bordstein daneben, und Sarabelle und Elliot – ein Pärchen, das ich erst ein paar Mal gesehen hatte – schmusten auf dem Rücksitz. Tara saß auf dem Vordersitz und ließ die Beine aus dem Wagen baumeln, auf ihrem Schoß lag ein winziger schwarzer Hund. Sie beugte sich vor, drehte an der Anlage herum, und ich nickte ganz automatisch, denn der Song kam mir bekannt vor.
Vor dem Wagen blieb ich stehen. Barrett legte den Arm um Tara.
»Hey, D.«, begrüßte Tara mich.
»Gibt’s drinnen was zu essen?«, fragte Cyrus.
»Chips und so ’n Zeug. Wraps«, antwortete ich.
Ein Chor empörter Stimmen erhob sich. »Und ich dachte, es gäbe wenigstens richtiges Essen«, grummelte Lucas. »Letztes Jahr gab es noch Chicken Wings. Und Pizza. Gibt es echt keine Pizza?«
»Ich glaube, Anna ist auf Diät«, sagte ich. »Sie isst keine Pizza mehr.« Ein paar stöhnten auf, der Rest lachte. Ich genoss es, unter Leuten zu sein, die Anna ebenso wenig leiden konnten wie ich.
Barrett richtete sich auf. »Ich wusste, dass wir sie retten müssen, Luke«, sagte er grinsend. »Sie war dort drinnen gefangen.«
»Nun hast du sie ja geholt. Können wir jetzt gehen?«
Ich drehte mich zu Barrett um. »Ich dachte, wir hängen hier draußen ab. Ich kann doch nicht einfach verschwinden.«
»Komm schon«, sagte Barrett in seinem lässigen Singsang. »Hier kannst du unmöglich bleiben. Die Musik bläst dir ja das Hirn weg. Und die Gesellschaft erst …«
»Barrett!« Rasch sah ich zum Haus und fühlte mich immer schlechter. »Fahrt nur ohne mich.«
»Ganz in der Nähe gibt es eine nette Ecke, wo wir ungestört sind«, sagte er. »Lukes Hund hält Wache. Dann kannst du üben zu schweben.«
Energisch schob ich das Kinn vor. »Ich schwebe bestimmt nicht.«
Schon vor ein paar Wochen hatten wir uns deswegen gestritten. Da ich die Schwerkraft beeinflussen konnte, wollte Barrett unbedingt, dass ich fliegen lernte. Ich hingegen wollte davon nichts wissen, denn ich litt unter schrecklicher Höhenangst. Und ich wusste selbst am allerbesten, dass meine Konzentration noch zu wünschen übrig ließ. Wenn meine Gedanken beim Schweben auch nur für einen Augenblick abschweiften, würde ich wie ein Stein zu Boden fallen. Mit Gegenständen war mir das schon des Öfteren passiert, zu einem Selbstversuch war ich noch nicht bereit.
»Du kannst ja an mir üben«, sagte Barrett. Er ging um den Wagen herum und stieg auf die Stoßstange. »Ich springe hier runter. Das ist nicht mal ein Meter. Das merkt doch keiner.«
»Wenn ich abgelenkt werde, lass ich dich fallen«, warnte ich ihn.
»Dann lass dich nicht ablenken«, sagte er. »Konzentriere dich.«
»Du hast gut reden, Zenmeister. Ich fange doch gerade erst an! Du machst das schon seit Jahren.«
Tara sah mich an. »Ich habe nichts dagegen, wenn Barrett auf dem Hintern landet.«
Ich verdrehte die Augen. »Ich weiß, dass ihr das witzig finden würdet, aber ich will nicht.«
Barrett stieg von der Stoßstange, offenbar war ihm klar, dass ich mich nicht umstimmen lassen würde. »Du wirst immer besser, D. Letzte Woche hast du schon ohne mit der Wimper zu zucken Stühle durchs Zimmer katapultiert.«
»Du bist aber kein Stuhl.«
Er fischte nach einer Getränkedose, die neben Tara auf dem Sitz lag, und öffnete sie. »Dann musst du dich eben ein bisschen mehr anstrengen. Es ist immer gut, den Einsatz zu erhöhen.«
»Hey, Leute«, platzte Esteban dazwischen, »spinn ich, oder kommt da gerade eine üble Gang von Schlägertypen auf uns zu?«
Alle traten einen Schritt zur Seite, um besser sehen zu können. Angestrengt starrte ich auf die Gestalten in der Dunkelheit. Es waren mindestens acht, vielleicht auch mehr, denn jedes Mal, wenn sie sich einer Straßenlaterne näherten, trat eine winzige Gestalt vor und berührte den Laternenpfahl. Daraufhin zischte es, das Licht flammte hell auf und erlosch.
Die Gesichter der Gestalten waren im Dunkeln nicht zu erkennen – schwer zu sagen, was sie so bedrohlich machte, außer der Tatsache, dass einer von ihnen offenbar Straßenlaternen ausknipsen konnte. Vor allem lag es wohl an der Art, wie sie sich uns näherten: Angeführt von einem stämmigen Typen marschierten sie Schulter an Schulter auf Annas Haus zu. Vollkommen schweigend, was die Sache noch um Grade gruseliger machte.
»Du spinnst nicht«, sagte Barrett. »Die sehen echt übel aus.«
»Sollen wir zurück ins Haus?«, flüsterte ich. Auf einmal wollte ich nur noch, dass Cam bei mir war.
Ganz nah bei mir.
Am besten noch vor mir.
Nun waren sie nur noch ein paar Häuser entfernt, mindestens zehn waren es, sowohl Mädchen als auch Jungen. Manche trugen lange Mäntel, andere Westen, doch alle zierte ein rotes Tuch – die Mädchen trugen es als Stirnband um den Kopf, die Jungen um Hals oder Arm geknotet.
Im Licht der verbliebenen Straßenlaternen und der hell erleuchteten Fenster von Annas Haus konnte ich nun auch endlich Gesichtszüge ausmachen. Es waren Teenager. Der Anführer sah ein wenig älter aus, vielleicht so um die zwanzig. Bei den anderen ließ sich das Alter nicht genau schätzen, doch alle blickten düster und durchbohrten uns mit ihren Blicken.
Cam musste meine Gebete erhört haben. Möglicherweise hatte er auch gespürt, dass jemand mit einer Begabung dritten Grades Schindluder trieb. Als ich mich umdrehte, stand er im Licht der offenen Eingangstür. Die Musik aus dem Haus dröhnte lauter. Mir wurde mulmig.
»Trevor!«, blaffte er beim Anblick der Gang. »Holt Trevor her, ich brauche ihn. Schnell.«
Barrett und die anderen rückten näher an Lucas’ Wagen heran. Automatisch bewegte ich mich in Richtung Haus – und zu Cam. Dummerweise musste ich dafür die Leute am Wagen verlassen. Nicht gerade ideal, wenn man sich einer Horde Angst einflößender Teenager gegenübersieht, die sicher so einiges unter ihren Mänteln und Westen verborgen haben. Doch als Barrett mir einen Wink gab, zurück zum Wagen zu kommen, schüttelte ich nur hilflos den Kopf. Meine Beine waren wie gelähmt.
Cam kam auf mich zu und blieb kurz neben mir stehen. »Du gehst jetzt lieber rein, Dancia«, sagte er leise.
Die sanfte Ermahnung löste einen Glücksschub bei mir aus, stärkte aber auch meinen Entschluss zu bleiben. Wenn hier ein Streit losbrach, sollte Cam nicht allein dastehen. Ich hatte nämlich den Verdacht, dass Barrett und seine Freunde ihm in dieser Situtation keine große Hilfe sein würden.
Esteban stieß Lucas an. »Die Party ist echt das Letzte.«
»Was wollen die von uns?«, hörte ich Tara flüstern.
»Bestimmt wollen die unsere Freunde werden«, sagte Barrett.
Jemand kicherte. Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich auf den immer näher kommenden Albtraum, zu mehr war ich in meiner Angst nicht imstande.
Cam hatte das Ende der Auffahrt erreicht. Die Gang blieb vor ihm stehen.
»Schöner Abend«, sagte Cam ruhig.
»Sehr schön«, pflichtete ihm der Anführer bei. Er reckte das Kinn nach rechts und links, was seine Truppe als Signal erkannte, zu den Seiten auszuschwärmen.
»Was wollt ihr hier?«, fragte Cam.
»Ich wollte mich einfach mal vorstellen«, sagte der Anführer mit schmeichelnder Stimme. Er hatte breite Schultern und eine muskulöse Brust. Sein rundes Gesicht hätte fast niedlich aussehen können, wenn man die unter der Oberfläche schwelende Wut nicht so deutlich gespürt hätte. Mit der Bomberjacke aus Leder und dem roten Tuch um den Hals sah er aus, als wollte er gleich eine Postkutsche ausrauben. »Ich bin Thaddeus.«
»Freut mich, dich kennenzulernen. Wir feiern hier gerade eine private Party, deshalb bitte ich euch, zu gehen.« Cam verschränkte die Arme vor der Brust.
»Gastfreundlich seid ihr nicht gerade«, sagte Thaddeus vorwurfsvoll. »Du gibst mir ja noch nicht mal Zeit, meine Botschaft zu überbringen.«
»Was für eine Botschaft?«
»In letzter Zeit machen eure Wächter meinen Leuten das Leben schwer. Das muss aufhören.«
Unwillkürlich trat ich einen Schritt zurück. Woher wussten die über die Wächter Bescheid?
»Das kann ich dir leider nicht versprechen«, sagte Cam, der sich von Thaddeus’ Forderung nicht einschüchtern ließ. »In der Schule hat es vor Kurzem einen Zwischenfall gegeben, das nehmen wir nicht auf die leichte Schulter.«
»Schade. Ich hatte gehofft, wir könnten friedlich miteinander auskommen.«
»Das liegt ganz bei euch, ihr braucht bloß zu verschwinden.«
Thaddeus zuckte die Achseln. »Wie du willst.« Er drehte sich um, hielt dann jedoch mitten in der Bewegung inne. »Nur eine Sache noch.«
»Und die wäre?«, fragte Cam.
»Eine Botschaft. Für euren Boss.«
Und dann tat Thaddeus etwas, vor dem ich mich schon die ganze Zeit gefürchtet hatte: Er griff in die Innentasche seiner Bomberjacke und zog etwas hervor. Ich hatte den Mund schon aufgerissen, um loszuschreien, als ich sah, dass es kein Dolch und keine Pistole war, sondern nur ein Ziegelstein. Thaddeus drehte sich zu Lucas’ Wagen und schleuderte den Stein gegen die Windschutzscheibe. Glas klirrte, und ich duckte mich, hielt schützend die Hände über den Kopf. Als ich wieder aufblickte, sah ich Trevor die Auffahrt heranstürmen, Sam, Kari und Geneva direkt hinter ihm. Inzwischen hatte sich Thaddeus auf Cam gestürzt.
Cam wehrte den Angriff mit einer Reihe von blitzschnellen Bewegungen ab. Ich kam aus dem Staunen nicht heraus. Klar hatte ich gewusst, dass er auf Kampfsport stand, aber dass er mit wild wirbelnden Armen und Beinen auf einen Gegner losgehen würde, hätte ich nicht gedacht – ihm gelang sogar ein schwungvoll gedrehter Tritt aus einem Rückwärtssalto heraus. Auch Thaddeus schien davon überrumpelt zu sein, Cam landete einen gehörigen Tritt ins Gesicht des fremden Anführers. Der mochte Ziegelsteine durch Autoscheiben schleudern können, doch Cam war einfach doppelt so schnell wie er. Als Thaddeus endlich auch mal ausholen konnte, duckte sich Cam rasch weg und teilte noch einen Kinnhaken aus, bevor er außer Reichweite tänzelte.
Ein paar Sekunden später waren auch die übrigen Gangmitglieder in die Schlägerei verwickelt. Trevor sah sich einem Mädchen mit langem braunem Haar und rotem Stirnband gegenüber. Geduckt und mit erhobenen Händen erwartete sie Trevors ersten Schlag. Mit den Fäusten ging er auf sie los, doch sie wich seinen Schlägen aus, indem sie wie ein Derwisch um ihn herumwirbelte und ihm dabei auch noch rhythmisch unters Kinn trat, worauf er aus dem Tritt kam. Nach kurzer Besinnungspause berappelte er sich jedoch wieder und stürzte mit geballten Fäusten erneut auf sie los.
Kari rang mit einem knurrenden, vollkommen schwarz gekleideten Mädchen, deren Kampf einem Tanz glich. Sie erinnerte mich an eine Ballerina, nur dass jeder Hüpfer in einer Ohrfeige oder einem Knuff mit dem Ellenbogen endete. Geneva und ein Junge, der offenbar die gleiche akrobatische Begabung besaß, machten Saltos durch die Luft und schlugen in drei Meter Höhe aufeinander ein. Nur um kurz darauf katzengleich auf dem Boden zu landen, ein paar Mal auf den Ballen zu federn, um sich dann wieder in die Luft zu katapultieren.
Barrett und seine Freunde beteiligten sich nicht an der Prügelei, obgleich sie zu fünft waren, während Cam, Trevor, Kari, Sam und Geneva sich der doppelten Anzahl von Gegnern gegenübersahen. Die Zwölftklässler versteckten sich hinterm Wagen und sahen zu. Lucas und Esteban wirkten regelrecht amüsiert, Tara hingegen schüttelte den Kopf und zuckte immer wieder zusammen.
Mir blieb vor allem Barretts Verhalten ein Rätsel. Mit schmalen Lippen stand er am Bordstein und verfolgte das Geschehen aufmerksam. Ausnahmsweise grinste und lachte er mal nicht. Dieses Mienenspiel kannte ich von ihm gar nicht. Die Arme hatte er vor der Brust verschränkt, in seinen Augen lagen Wut und Enttäuschung. Wenn ich ihn nicht so gut gekannt hätte, hätte er mir richtig Angst gemacht.
Trotzdem rührte er sich nicht.
Auch wenn er noch so schnell war, konnte Cam Thaddeus’ Fäusten nicht dauerhaft ausweichen, und so bekam er schließlich einen Schlag direkt ins Gesicht. Als er blindlings zurückschlug, packte Thaddeus ihn am Arm, drehte ihn herum und hieb ihm dreimal kräftig in den unteren Rücken. Cam ächzte und stolperte ein paar Schritte nach hinten.
Ich fuhr herum und sah Barrett an. »Tu doch was!«, schrie ich. »Hilf ihm!«
»Sie haben sich das selbst zuzuschreiben«, sagte Barrett. »Das ist ihr Kampf.«
»Was?«
»Das war nur eine Frage der Zeit«, sagte er kopfschüttelnd. Er presste die Lippen aufeinander, und in seinen Augen lag ein gefährliches Funkeln.
Aus seinem Gerede wurde ich nicht schlau. Barrett sah tatenlos zu, wie Cam verprügelt wurde, weil Cam und Co den Streit angefangen hatten? Niemals! Wenn die eigenen Leute in Gefahr schwebten, half man ja wohl. Selbst wenn es sich nicht um Barretts engste Freunde handelte, hatten wir doch alle dem Programm unsere Treue geschworen. Ich wusste nicht, wer die Schläger mit dem roten Tuch waren oder was sie wollten, aber sie hatten es auf uns abgesehen.
Und sie waren kurz davor, zu gewinnen.
Ich trat ein paar Schritte vor.
»Nicht«, sagte Barrett warnend. »Du verletzt dich nur. Überlass das der Polizei.«
»Aber …«
»Was willst du denn machen? Dich als Punchingball zur Verfügung stellen? Meinst du wirklich, das bringt’s?«
Zu meinem Ärger musste ich zugeben, dass Barrett recht hatte. Ich kämpfte wie eine Sechsjährige. Als ich im Selbstverteidigungskurs mit dem Sandsack geübt hatte, konnte ich immer von Glück sagen, wenn der Sack mich nicht umwarf. Wenn ich es mit jemandem aufnähme, der sich aufs Kämpfen verstand, wäre ich in null Komma nichts ein blutiger Klumpen.
»Es gibt noch andere Möglichkeiten zu kämpfen«, sagte ich.
Ich konzentrierte mich auf Thaddeus und blendete alle anderen Kämpfer aus. Im Grunde hatte ich keinen Plan, aber ich sammelte schon mal meine Energie in der Hoffnung, mir würde etwas einfallen.
»Hör auf, Dancia«, fuhr Barrett mich an. »Du bist noch nicht so weit.«
»Aber …«
»Nein.«
So hatte er noch nie mit mir gesprochen, seine Stimme duldete keinen Widerspruch.
»Ich möchte helfen.«
Cam wehrte einen Tritt von Thaddeus ab, strauchelte dabei aber. Trevor blutete im Gesicht.
»Ich muss helfen.«
»Das würde dich überfordern. Dir fehlt noch die Kontrolle.«
»Ich bin auch ganz vorsichtig, Barrett.«
»So wird nur jemand verletzt. Ernsthaft verletzt. Und dann wird die Polizei Fragen stellen.«
Mich fröstelte. Die Lehrer auf der Night Academy hatten uns immer wieder eingebläut, dass das Programm geheim bleiben musste. Die Night Academy war vor allem deshalb eine solch mächtige Bastion gegen das Böse, weil niemand von ihr wusste. Was die Geheimhaltung anging, hatte ich mich nicht unbedingt mit Ruhm bekleckert, von Mäßigung ganz zu schweigen. Während meiner Auseinandersetzung mit den Wächtern im letzten Halbjahr hatte ich eine Windschutzscheibe zerschmettert, Telefonmasten umgeworfen und einen riesigen Krater in unsere Straße gerissen. Nicht gerade unauffällig.
Mehr und mehr Leute strömten an mir vorbei, um sich an der Schlägerei zu beteiligen. Ich hörte, wie Anna und ihre Mom aus dem Haus kamen und leise stritten. Annas Mom wollte, dass sie die Polizei rief, doch Anna wollte lieber kämpfen.
Schließlich tat Anna, was ihre Mutter verlangte und ging zurück ins Haus. Annas Mutter stürzte sich derweil ins dichteste Schlachtgewühl und stand einer Elftklässlerin namens Olive bei, die es mit einem Jungen aufgenommen hatte, dessen Hände überall gleichzeitig zu sein schienen. Vielleicht besaß er auch mehr als zwei. Schwer zu sagen.
Allmählich wendete sich das Blatt zu unseren Gunsten. Von den Zehntklässlern war Meredith die Erste, die auf der Straße mitmischte und neben Sam Position bezog. Eine begnadete Kämpferin war sie nicht gerade, aber da sie die Attacken des Gegners immer voraussah, hielt sie die Stellung. Alisha, eine weitere Zehntklässlerin, machte mangelnde Kampfkunst durch Begeisterung wett. Annas Mom kämpfte für drei. Sie packte den vielhändigen Jungen und verpasste ihm eine kräftige Kopfnuss, dann wirbelte sie herum und trat dem Mädchen hinter sich in den Rücken.
Am beängstigendsten aber war die Gestalt, die die Straßenlaternen ausgelöscht hatte. Aus der Nähe erkannte ich, dass es sich um ein Mädchen handelte, eine zierliche Kleine. Sie griff niemanden direkt an. Stattdessen lauerte sie am Rand darauf, dass einer von unseren Kämpfern abgelenkt war, um ihn dann von hinten zu packen. Gelang es ihr, den Gegner lange genug festzuhalten, schrie und zuckte er wie bei einem Stromschlag und ging schließlich zu Boden, wo er sich eine ganze Weile nicht mehr rührte.
Als die fiese Ballerina Kari mit einem Tritt in die Rippen zu Boden schleuderte, stürzte sich Electro Girl ins Getümmel und hielt Karis Arm fest. Kari versuchte sich zu wehren, rollte sich aber stattdessen schreiend zusammen.
Meredith brüllte: »Sie braucht fünf Sekunden! Pass auf, Sam, sie kommt zu dir!«
Sam wich einem Hieb von einem Typ mit stacheliger Irokesenfrisur aus und ging dann auf das Mädchen hinter sich los. Doch die tänzelte außer Reichweite. Mehr als ihre Stromstöße hatte sie wohl kämpferisch nicht zu bieten.
Nicht alle Partygäste beteiligten sich am Kampf. Neben den Zwölftklässlern blieben auch etliche Zehntklässler nervös auf dem Gehweg stehen und glotzten. Vor allem die Schüler mit den Lebenskräften hielten sich zurück. Offenbar waren sie nicht ganz so für den Kampf geeignet wie diejenigen mit den Körperkräften.
Zum Glück verfügten die meisten Elftklässler über Körperkräfte. Ohne mit der Wimper zu zucken, stürzten sie sich ins Getümmel. Dennoch schaffte es unsere Gruppe nicht, zu gewinnen. David las Kari von der Straße auf und half ihr ins Haus. Geneva wurde als Nächste ausgeschaltet. Nach einem brutalen Angriff in der Luft landete sie auf ihrer Schulter. David, der als eine Art Sanitäter zu fungieren schien, warf sie sich über die Schulter, während Annas Mom den gegnerischen Luftakrobaten in Schach hielt.
Cam hatte Thaddeus ordentlich zugesetzt, denn der taumelte bereits. Dennoch musste Cam immer vier Schläge anbringen, um einen seines superstarken Gegners zu kontern. Überall waren wir in der Unterzahl, immer zwei der Angreifer kämpften gegen einen von uns. Trevor konnte vor lauter Blut im Gesicht kaum noch etwas sehen, und Sam entkam Electro Girl mehrmals nur um Haaresbreite. Zwar warnte ihn Meredith jedes Mal rechtzeitig, aber Sam wurde zunehmend langsamer, und das Mädchen rückte ihm immer dichter auf die Pelle. Schließlich bekam sie ihn eine, dann zwei Sekunden lang zu fassen.
Hilflos sah ich zu, und überlegte, was ich nur tun könnte. Ich war schon drauf und dran, mich auf Electro Girl zu stürzen – schließlich war sie winzig, also hatte ich ganz gute Chancen –, da fiel mein Blick auf einen Jungen, der auf der gegenüberliegenden Seite an einer verloschenen Straßenlaterne lehnte.
Er war schlank und hochgewachsen, hatte die Hände in den Taschen eines langen Trenchcoats vergraben. Das rote Tuch trug er als Stirnband ums schwarze Haar, das wie Stacheln in die Höhe ragte. Ich trat an die Bordsteinkante und kniff die Augen zusammen, um sein Gesicht zu erkennen.
Wie zum Gruß hob die dunkle Gestalt eine Hand. Ich machte einen Schritt auf die Straße, denn ich wollte ihn sehen und es gleichzeitig auch wieder vermeiden. Wollte die mir vertrauten Gesichtszüge erkennen.
Sirenengeheul ertönte, und ich sprang erschreckt zurück auf den Bürgersteig. Thaddeus hielt inne, Cam stand keuchend vornübergebeugt. Dann steckte Thaddeus die Finger zwischen die Lippen und pfiff zweimal kurz. Die Gang teilte noch ein paar letzte Schläge aus und rannte dann in die Richtung davon, aus der sie gekommen war. An der Ecke teilten sie sich auf und tauchten in Zweier- oder Dreiergruppen in der Dunkelheit unter.
Als hätte man mich von einem Fluch befreit, rannte ich hinüber zu Cam. »Wie geht es dir?«
Sein Atem ging pfeifend. Langsam richtete er sich auf, dabei biss er die Zähne zusammen. »Hast du gesehen, wo sie hin sind?«
»Sie haben sich aufgeteilt.«
»Verdammt.« Er spuckte Blut, das von einem Riss in seiner Lippe stammte.
Im nächsten Augenblick stieß Trevor zu uns, Gesicht und T-Shirt waren blutverschmiert. Er sagte nur ein Wort, das ihm wie Gift über die Lippen kam: »Irin.«
Cam nickte. Die anderen sammelten sich in der Auffahrt. Kari humpelte, Geneva hielt den Arm an den Körper gepresst. Niemand war heil davongekommen, außer Annas Mom, die kaum stillstehen konnte und vor Wut glühte wie Asphalt in der Mittagssonne.
Lucas riss seine Wagentür auf, die Motorhaube wackelte, und ein Glasregen ergoss sich von der zersprungenen Windschutzscheibe nach außen und innen. Lucas kroch in den Wagen und holte den Ziegelstein heraus. »Das mit der Nachricht war wohl ernst gemeint.«
»Was steht drauf?«, wollte Cam wissen.
Lucas hielt den Stein hoch. In weißer krakeliger Schrift stand dort: WER ÜBERWACHT HIER WEN?