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Da Cam nicht zum Frühstück kam, schappte ich mir den letzten Donut und rannte zurück zum Res, wo ich den Rest des Tages mit Esther und Hennie verbrachte. Als es wieder Zeit zum Essen war, hatten wir uns alle auf den neuesten Stand gebracht, deshalb protestierten wir auch nicht, als Hennie auf dem Weg zum Hauptgebäude verschwand, weil sie einen rastalockigen Schlaks erspäht hatte. Zehn Minuten später kam sie mit roten Wangen und einem dämlichen Grinsen im Gesicht Hand in Hand mit Yashir in die Cafeteria spaziert. Yashir wirkte ebenfalls ziemlich froh. Es gehörte nicht viel Fantasie dazu, sich ihr Wiedersehen auszumalen.

Unser Tisch füllte sich allmählich, denn nach und nach kamen auch die anderen Neuntklässler vom Hauptgebäude herüber. Alle waren glücklich, wieder in der Schule zu sein. Allie und ich fielen uns sogar in die Arme.

Wegen ihrer wunderschönen goldbraunen Haare und ihrer Vergangenheit als Cheerleaderin hatte ich Allie im letzten Jahr Perfect Girl getauft. Kurzzeitig hatte ich mal probiert, sie zu hassen, aber es wollte mir nicht so recht gelingen. Denn sie war nicht nur hübsch, sondern auch total nett, eine super Sportlerin und, wie sich herausstellte, eine Freundin von Jack. Hin und wieder stank mir ihr perfektes Aussehen immer noch, aber nur, wenn ich mich hässlich fühlte oder mich über meinen nicht zu bändigenden blonden Afro ärgerte.

Allie war vollkommen am Boden zerstört, dass Jack einfach ohne ein Wort die Schule verlassen hatte. Mich tröstete der Gedanke, dass ich nicht die Einzige war, die sich um Jack sorgte, denn manchmal war es mir so vorgekommen.

Hector und Alessandro setzten sich zu uns, wie eigentlich die meisten aus Esthers Gruppe. Sie war die inoffizielle Anführerin, und die anderen scharten sich stets um sie. Beim Essen bewarfen wir uns mit Pommes und nervten die Lehrer mit allem Möglichen. Darüber vergaß ich auch, dass ich Cam den ganzen Tag nicht gesehen hatte.

Allie und ich beratschlagten, wie wir in die Fußballmannschaft kommen konnten, während Esther zur allgemeinen Erheiterung beitrug, indem sie Geschichten über ihre gescheiterte Karriere als Geländeläuferin erzählte, samt einer gelungenen Imitation von Coach Yerkinlys Gesichtsausdruck, wenn sie bei jedem Wettkampf gemütlich über die Ziellinie geschlendert kam. Fünf Kilometer hatte sie ohnehin nie gepackt, bei anderthalb war Schluss gewesen.

Nach dem Essen gingen wir gemeinsam ins Res zurück. Ich hatte mich halb zu Allie umgedreht, als ich beim Öffnen der Tür beinahe mit Cam zusammenprallte.

»Super! Ich wollte dich gerade suchen gehen«, sagte er.

Allie schenkte mir ein verständnisvolles Lächeln und ging weiter. Esther zwinkerte mir im Vorbeigehen noch zu.

»Ich habe dich beim Essen vermisst«, sagte ich, nachdem die anderen alle im Wohnheim verschwunden waren.

»Ich hatte einen Haufen Dinge für Mr Judan zu erledigen.«

»Wegen gestern Abend?«

»Ja.«

Ich zögerte. »Meinst du ähm die kommen vielleicht wieder?«

»Das würden die nicht wagen«, sagte er voller Überzeugung. »Besonders jetzt nicht, wo wir zusätzliche Wächter zum Schutz haben.«

»Habt ihr schon einen Verdacht, wer es gewesen sein könnte?« Ich stellte die Frage sehr vorsichtig. Nur allzu deutlich stand mir noch Mr Judans missbilligender Blick vor Augen, als ich letzte Nacht Fragen nach dem Täter gestellt hatte. Bestimmt wusste Cam, wer es war. Außerdem brannte ich darauf, zu erfahren, ob er Jacks Spuren hatte ausmachen können.

»Nicht mit Sicherheit. Wir vermuten, dass eine Bande aus Seattle dahintersteckt«, sagte er. »Mit denen hatten wir schon öfter Ärger. Aber das sind ganz normale Teenager, brauchst dir also keine Sorgen zu machen.«

Fragend sah ich ihn an, doch er mied meinen Blick. Mir versetzte es einen Stich ins Herz, dass Cam mich anlog, denn ansonsten hätte er mich angeschaut. Auch seine Stimme verriet ihn. Er sprach viel zu schnell und zu laut; in seinem Bemühen, mich in Sicherheit zu wiegen, wirkte er zu verkrampft.

Eigentlich war es ja auch nur verständlich. Er befand sich mitten in einer Untersuchung. Damit konnte er ja schlecht hausieren gehen. Trotzdem verletzte es mich.

»Also « Ich wusste nicht so recht, wie es jetzt weitergehen sollte. »Willst du noch was essen?«

»Nee.« Er winkte ab. »Ich esse dafür morgen früh doppelt so viel.«

»Oh.«

»Ich dachte, wir könnten vielleicht spazieren gehen.«

»Oh!«

Es war feucht und kühl und würde wahrscheinlich jeden Moment regnen, aber nie im Leben hätte ich sein Angebot ausgeschlagen. Wir mussten erst um halb acht auf unseren Zimmern sein, und natürlich sollten wir eigentlich auf dem Gelände oder in der Schule bleiben, aber alle Pärchen gingen zum Knutschen in den Wald. Dort war es viel ungefährlicher als auf den Zimmern, wo es nicht nur verboten war (bei Herrenbesuch bzw. Damenbesuch musste die Tür weit offen sein, und die Füße mussten sittsam auf dem Boden stehen), sondern auch alles kontrolliert und überwacht wurde.

»Wir brauchen ja nicht so weit zu gehen. Vielleicht nur bis zu den Sportplätzen.«

Um seine Lippen spielte ein Lächeln, und er machte einen Schritt auf mich zu. In dem Moment war es schon um mich geschehen.

»Ja, klar, hört sich gut an«, stammelte ich.

»Musst du noch eine Jacke holen?«

Wenn ich jetzt noch einmal nach oben ginge, würden Esther und Hennie mir die Hölle heiß machen. »Nein, ich habe ja meinen Pulli.«

Wir liefen über den Rasen, und Cam nahm meine Hand, kaum dass wir die Lichter der Schule hinter uns gelassen hatten. Im Nieselregen liefen wir durch die Dunkelheit.

»Bist du nun fertig?«, fragte ich. »Mit der Untersuchung, meine ich. Jetzt, wo doch die zusätzlichen Wächter kommen.«

Er schob sich das dichte kastanienfarbene Haar aus der Stirn. »Sollte man eigentlich annehmen. Aber ganz genau weiß ich es nicht. Mr Judan hat noch ein paar Hinweise, denen ich nachgehen soll. Vielleicht klingt das jetzt verrückt, aber manchmal glaube ich, ich bin der Einzige, dem Mr Judan vollkommen vertraut.«

»Das klingt nicht nur verrückt! Nicht, dass du nicht vertrauenerweckend wärst«, fügte ich schnell hinzu. »Aber ich finde es unfair, dass er dir so viel aufhalst. Schließlich gehst du noch zur Schule.«

»Ich weiß. Aber irgendwie nach dem, was er alles für mich getan hat, möchte ich ihn nicht hängen lassen.«

Ich spürte Cams Erschöpfung, also biss ich mir auf die Zunge, um nicht zu sagen, was ich wirklich dachte: Was hat dieser unheimliche Typ denn schon groß für dich getan? Deine Gabe ausgenutzt und dir zu Thanksgiving gelegentlich einen Truthahn vorgesetzt!

»Du solltest deshalb kein schlechtes Gewissen haben«, sagte ich vorsichtig. Insgeheim war ich richtig sauer auf Mr Judan. »Du schuldest ihm doch nichts. Außerdem schuftest du dich halb tot für ihn. Eigentlich sollte er dankbar sein, dass er dich hat.«

»Danke, Dancia. Ich weiß auch nicht warum, aber nur mit dir kann ich über Mr Judan lästern.«

Innerlich seufzte ich vor Erleichterung. Cam wollte sich mir anvertrauen, selbst wenn es um Mr Judan ging. Wahrscheinlich hatte er sich zur Verschwiegenheit verpflichten müssen. Eventuell nutzte Mr Judan auch seine Überzeugungskünste, um Cam gefügig zum machen.

Wobei mir nicht ganz klar war, wie Mr Judans Überzeugungskräfte funktionierten. Einmal hatte ich Cam danach gefragt, denn er war selbst ein zweiter Grad im Überzeugen. Cam konnte bereits bestehende Meinungen oder Gefühle verstärken, aber Mr Judan war imstande, jemandem vollkommen neue Gedanken einzupflanzen. Darin lag der Unterschied zwischen einer Begabung zweiten und dritten Grades.

Cam hatte mir aber auch verraten, dass Mr Judans Gabe nur in unmittelbarer Nähe der Person wirkte und der Einfluss auch nur vorübergehend war. Gott sei Dank!

»Hey, dafür bin ich ja da.« Ich sparte mir jeden weiteren Kommentar über Mr Judan. Cam war viel zu müde und fertig, um noch mehr Nachteiliges über seinen Mentor zu hören.

Cam blieb stehen, nahm meine Hände und drehte sich zu mir. Dann schlang er die Arme um mich und zog mich an sich. Wir standen eng aneinandergeschmiegt, unsere Gesichter berührten sich fast. »Jedenfalls bin ich eigentlich nicht hergekommen, um über Mr Judan zu reden.«

Ich schluckte. Und im Nu wurden alle Geheimnisse um die Schule und das Programm unwichtig. »Nicht?«

»Nein. Du weißt ja, dass ich nicht mehr dein Wächter bin.«

Mein Herz hätte fast einen Schlag ausgesetzt. »Daran habe ich auch schon gedacht.«

»Was machen wir denn jetzt?«

»Wir machen da weiter, wo wir aufgehört haben?« Ich hielt den Atem an.

Er beugte sich vor, und ich lehnte den Kopf zurück, damit sich unsere Lippen berühren konnten.

Der Kuss war sanft, und wir waren in völligem Einklang. Keines meiner Schreckensszenarien trat ein, wir fummelten nicht ungeschickt herum und stießen auch nicht mit den Nasen aneinander. Eng umschlungen küssten wir uns eine halbe Ewigkeit. Vielleicht waren es auch mehrere ineinander übergehende Küsse, das weiß ich nicht mehr. Ich erinnere mich an die Wärme. An seine Hände an meiner Taille. Und daran, dass ich wünschte, er möge mich nie mehr loslassen.

Am Montagmorgen wachte ich noch vor Sonnenaufgang auf. Ich blieb so lange wie möglich liegen und versuchte, wieder einzuschlafen. Es hatte keinen Zweck. Viertel nach sechs gab ich schließlich auf und rollte mich aus dem Bett. Hennie und Esther würden bis zur letzten Minute schlafen, das wusste ich, aber in meinem Zimmer konnte ich nicht länger bleiben.

Um Catherine nicht zu wecken, nahm ich leise meine Klamotten und verdrückte mich ins Bad. Als ich zurückkam, war sie bereits wach, sie hatte verquollene Augen und wirkte noch schlechter gelaunt als sonst. Ich wartete, bis sie duschen ging, dann setzte ich mich an meinen Schreibtisch und holte meinen neuen Stundenplan hervor. Darauf standen meine Schwerpunktfächer für den Nachmittag, jeder Tag war nach Fach und Lehrer unterteilt, Wissenschaftsethik, Grundlagen der Physik und Projektunterricht ließen nicht erahnen, was sich tatsächlich dahinter verbarg.

Sobald die Cafeteria öffnete, machte ich mich auf den Weg dorthin. Bis dahin hatten sich die Flure schon in ein Chaos verwandelt, überall rannten Mädchen mit Handtüchern durch die Gegend und warteten, dass eine Dusche frei wurde. Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Am Sonntag hatte ich die meiste Zeit mit Cam verbracht, wir waren Hand in Hand durch die Schule gelaufen und hatten uns erzählt, was in den Weihnachtsferien geschehen war. Hennie und Esther drehten fast durch, als sie uns zusammen sahen. Esther war beinahe begeisterter als ich.

In der Hoffnung, einen Blick auf Cam zu erhaschen, lungerte ich im zweiten Stock herum, wo die Schüler aus der Elften untergebracht waren. Das stellte sich schon bald als großer Fehler heraus, denn dadurch geriet ich direkt in Annas Visier, die mit ihren beiden Freundinnen Molly und Claire am Treppengeländer stand.

»Na«, sagte Anna gedehnt. »Wenn das mal nicht unser Wonder Girl ist.«

Innerlich rang ich mit mir, ob ich ihr die Zunge ausstrecken, sie die Treppen hinunterstoßen oder mit ausgesuchter Höflichkeit behandeln sollte. Da es noch früh war und ich noch nicht einmal meinen morgendlichen Donut verspeist hatte, fühlte ich mich für einen Streit nicht gewappnet. Also entschied ich mich für die höfliche Tour. »Guten Morgen, Anna.«

Anna verschränkte die Arme vor der Brust und kam auf mich zu. Molly und Claire waren bislang immer nett zu mir gewesen, doch heute Morgen schenkten sie mir nur ein verhaltenes Lächeln und richteten ihre Augen sofort wieder auf Anna.

»So, du fängst also heute mit der Ausbildung an«, sagte Anna. »Da müssen wir uns in Zukunft ja vor dir in Acht nehmen.«

Mein Lächeln wurde eisig. »Ich fasse das jetzt mal als Kompliment auf.«

Anna schnaubte. »Ich habe gesehen, wie Trevor dich nach dem Aufnahmeritual angesprochen hat.«

Claire sah sich unbehaglich im Treppenhaus um. »Anna, wir sollten das nicht unbedingt hier besprechen.«

»Dann pass eben auf«, zischte Anna. »Als könnte sich jemand an dich heranschleichen!«

Ich überlegte kurz, was sie damit wohl gemeint haben könnte. Hatte Claire ein außergewöhnliches gutes Gehör? Dann schenkte ich Anna mein strahlendstes Lächeln. »Weißt du was, Anna? Trevor hat sich tatsächlich mit mir unterhalten. Er hat gesagt, er würde auf mich achtgeben.«

Anna rückte noch näher an mich heran, offenbar wollte sie mich einschüchtern. »Trevor ist viel zu gutmütig. Nicht alle von uns glauben deinen Geschichten, vergiss das ja nicht. Wehe, in deiner Nähe geschehen noch mehr ›Unfälle‹!«

Molly schob die Hände tief in ihre Taschen. Sie war schrecklich dünn, und wenn sie aufgeregt war, presste sie die Arme an die Seiten und schien fast zu verschwinden. »Anna, ich glaube, du hörst lieber «

»Ich sage doch nur, was wir alle schon gedacht haben.« Anna kam mir jetzt ganz nah. »Ich zum Beispiel glaube nicht, dass du hinter dem Programm stehst, auch wenn du es zehnmal geschworen hast.«

»Schön.« Ich hatte einen guten Blick auf ihre makellosen roten Lippen und ihr dichtes braunes Haar. Sie war einen halben Kopf kleiner als ich, und normalerweise fühlte ich mich immer wie ein Trampel neben ihr, doch nun genoss ich den Größenunterschied, da sie zu mir aufschauen musste. »Du vertraust mir nicht, na und. Ich gehöre jetzt zum Programm und habe das gleiche Recht wie du, hier zu sein.«

Anna ließ mich kaum ausreden. »Ach ja? Dann beantworte mir doch bitte folgende Frage: Was, wenn Jack zurückkommt? Bist du dann bereit, das Richtige zu tun und ihn auszuliefern? Wer steht dir näher, Jack oder das Programm?«

Vor Überraschung blieb mir der Mund offen stehen. Und ich brauchte viel zu lange für meine Antwort: »Jack ist gegangen, und ich habe mich fürs Bleiben entschieden. Ich stehe hinter dem Programm, Anna. Alles andere geht dich nichts an.«

Anna wandte sich ab, warf lässig das Haar über die Schulter. »Wenn du meinst.« Sie gab Molly und Claire Zeichen, ihr zu folgen. Gerade wollte ich schon aufatmen, da drehte sie sich noch einmal um und sagte: »Ach, übrigens, Cam weiß doch über dein kleines Techtelmechtel mit Jack Bescheid, oder?«

Ich erstarrte. Woher wusste Anna bloß von mir und Jack? Was immer das zwischen uns auch gewesen war »Keine Ahnung, wovon du sprichst.«

»Von dir und Jack, Dancia. Wir wissen doch, dass ihr zusammen wart.«

»Du hast mir nachspioniert?« Entsetzt sah ich sie an. Anna musste beobachtet haben, wie ich Jack im Garten geküsst hatte, das war die einzige Erklärung. »Behandelst du so deine Familie?«

Anna bedachte mich mit einem selbstgefälligen Lächeln. »Mir geht es nur um das Programm. Du magst ja ein paar Leute getäuscht haben, aber mich nicht, ich behalte dich im Auge.«