32
Das Boot lag still. Über dem Heck hing eine graue Rauch- wolke. Thaddeus stand fluchend am Steuerrad, neben ihm kauerte ein Mädchen, die sich offenbar am Motor zu schaffen machte. Im Gegenlicht war eine weitere Silhouette auszumachen. Ich erschauderte, als ich die schlanke Gestalt erkannte: Electro Girl.
Hinten im Boot saß eine weitere Person – breite Schultern, dunkelbraunes Haar. Auch wenn ich das Gesicht nicht sehen konnte, wusste ich, dass es Cam war.
Trevor durchleuchtete das Boot mit seinem Röntgenblick. »Einer ist unter Deck. Drei oben. Zwei sind bewaffnet.«
Es dauerte noch einen Moment, bis sie uns kommen hörten, doch dann stieß Thaddeus einen Warnschrei aus, und das Mädchen neben ihm, die Ballerina, sprang auf. Eiskalt drehte sich Thaddeus um und feuerte. Anna und ich warfen uns zu Boden. Trevor ließ sich auf die Knie fallen, doch die Splitter der zerberstenden Windschutzscheibe erwischten ihn dennoch.
Ich tauchte kurz auf, um Thaddeus die Waffe aus der Hand zu reißen. Doch im gleichen Augenblick steckte Jack den Kopf aus der Kajüte, und unser Boot wurde schlagartig ausgebremst. Vom Bug ertönte ein Knirschen, wir wurden erst nach vorn und dann nach hinten geschleudert. Anna prallte mit dem Kopf gegen das Armaturenbrett, und ich klammerte mich verzweifelt an die Reling, um nicht in die Kajüte zu stürzen.
»Was ist passiert?«, fragte Anna, nachdem das Boot wieder ruhig lag. Auf ihrer Stirn prangte ein langer schneeweißer Streifen, der sich in ein paar Stunden zu einer stattlichen Beule auswachsen würde.
»Keine Ahnung«, knurrte Trevor. Das Steuerrad hatte sich bei dem Aufprall in seinen Bauch gebohrt, und er rieb die schmerzende Stelle. Die roten Flecken auf seiner Stirn stammten sicher von dem Plastikhagel kurz zuvor. Geduckt brachte er den Motor wieder auf Touren. »Als ob wir irgendwo aufgelaufen wären.«
Eine neuerliche Salve krachte über unsere Köpfe hinweg. Ich tauchte blitzschnell auf und schickte das Gewehr der Ballerina ins Meer. »Das ist Jacks Werk«, sagte ich keuchend. »Bestimmt hat er eine unsichtbare Wand errichtet.«
Anna fluchte. »Wie sollen wir denn da durch? Schwimmen können wir ja wohl schlecht.«
»Jack hat keine Ausbildung, vergiss das nicht«, sagte Trevor. »Lange kann er die Wand bestimmt nicht aufrechterhalten.«
Ich dachte an all die Übungen, die mir Barrett und Mr Fritz auferlegt hatten, und welche Fortschritte ich innerhalb eines Halbjahres gemacht hatte. Hoffentlich behielt Trevor recht.
»Ihre Waffen sind sie schon mal los«, sagte Anna. »Das erleichert die Sache.«
»Dancia, ich zähle jetzt bis drei, und dann versuchst du, Jack abzulenken«, sagte Trevor. »Sobald er unkonzentriert ist, kann ich mit unserem Boot neben sie fahren.«
Ich atmete tief durch. »Okay.« Das letzte Mal, als ich meine Kräfte so beansprucht hatte, war ich anschließend eine Woche lang nicht mehr aus dem Bett gekommen. Und da hatte mir niemand vorher in den Magen getreten.
»Ich halte mich zum Entern bereit«, sagte Anna.
Trevor nickte. »Jetzt aber los. Eins … zwei … drei!«
Ich wollte Jack nicht in die Luft heben, denn dann hätte er uns genau im Blick gehabt, also schleuderte ich ihn zu Boden. Mit einem dumpfen Knall schlug sein Körper auf dem Boden auf. Im nächsten Augenblick schoss unser Boot auch schon durchs Wasser. Anna balancierte über die silberne Reling, das Messer zwischen den Zähnen. Sobald Trevor den Motor abgeschaltet hatte, stürzte sie sich mit einem Satz auf Thaddeus und die Ballerina. Electro Girl hielt sich im Hintergrund, die Hände erhoben wie ein Boxer. Mir war schon klar, worauf sie wartete.
Anna bewegte sich geschmeidig wie eine Katze. Thaddeus ging auf sie los, offenbar unbeeindruckt von dem Messer, mit dem sie ihm die Seite aufschlitzte. Er ließ nur kurz von ihr ab, dann aber packte er sie mit seiner großen Pranke am Handgelenk. Über seine Rippen zog sich ein roter Streifen. Electro Girl tänzelte hinter Anna hin und her, versuchte, ihr T-Shirt oder einen Arm zu fassen zu kriegen.
Trevor hechtete über die Reling, als die Ballerina auszuteilen begann. Auf dem Boot gab es kaum Platz für ihren Tanz, was bestimmt ein Vorteil war, denn Trevor konnte gleich einen Kinnhaken landen. Allerdings taumelte er zurück, als sie ihm einen hohen Tritt ins Gesicht versetzte.
Thaddeus zerrte Anna am Handgelenk nach vorn und grinste hämisch, als sie ihm stolpernd fast in die Arme fiel. »Gib’s ihr, Reva.« So hieß Electro Girl offensichtlich.
Ohne zu zögern legte das winzige, schwarzhaarige Mädchen ihre Hand auf Annas Arm und drückte. Mir blieben fünf Sekunden, das wusste ich, also konzentrierte ich mich auf Reva und scherte mich nicht um ihre Schreie, als ich sie in die Luft hob. Leider erkannte ich dabei, dass meine Energiereserven beinahe erschöpft waren, weshalb Reva in der Luft auf- und abhüpfte. Ich schob sie über die Reling und ließ sie ins eiskalte Wasser plumpsen, danach wurde mir furchtbar schwindelig.
Von nun an musste ich mit meinen Kräften haushalten.
Ich schüttelte den Kopf und blinzelte, um wieder klar zu werden. Als ich einigermaßen sicher stand, trat ich an die Reling und erschrak beim Anblick des anderes Bootes. Das weiße Deck war voller Blut – hoffentlich von Thaddeus. Aber ganz sicher war ich mir nicht, denn Annas T-Shirt und auch ihr Gesicht waren blutbespritzt. Sie hatten sich ineinander verkeilt: Anna lag auf Thaddeus, der ihre Handgelenke fest gepackt hatte.
Trevor stand vorm Kajüteneingang und hielt sich die Ballerina mit Tritten vom Leib. Auch er hatte Blut im Gesicht, und der Ballerina lief ein stetiges Rinnsal aus der Nase. Von Jack keine Spur. Wahrscheinlich hatte ihn Trevor wieder unter Deck befördert, oder ich hatte ihn bei meiner Aktion ernsthaft verletzt.
Dann endlich sah ich die breitschultrige Gestalt, nach der ich verzweifelt Ausschau gehalten hatte.
Man hatte Cam grün und blau geschlagen, ein Auge war schon zugeschwollen. Den Mund hatten sie ihm mit silbernem Klebeband verschlossen und ihn mit den Händen auf dem Rücken ans Boot gefesselt. Unsicher kletterte ich über die Reling und landete mit einem Sprung zwischen den kämpfenden Paaren.
Zu gern hätte ich Thaddeus durch die Luft gewirbelt, aber er hielt Anna fest umklammert und hätte sicher nichts lieber getan, als sie mit sich ins Meer zu reißen. Außerdem durfte ich meine Kräfte nicht unnötig vergeuden, deshalb drückte ich ihn einfach nur zu Boden, sodass er sich nicht mehr bewegen konnte. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie sich Trevor und die Ballerina im unablässigen Schlagabtausch aufs vordere Deck zubewegten.
Thaddeus hatte den Griff um Annas Handgelenke zwar nicht gelockert, aber sie musste gespürt haben, dass er sich nicht regen konnte und nutzte den Moment, um ihm mit voller Wucht ihr Knie in den Unterleib zu rammen. Er sah sie groß an und wurde kreidebleich, dann verlor er das Bewusstsein. Anna riss sich von ihm los und sprang behände auf.
Triumphierend sahen wir uns an. »Schaff du ihn auf die andere Seite«, sagte Anna. »Ich hole Cam.«
Sie machte sich mit dem Messer an Cams Fesseln zu schaffen, während ich Thaddeus einen Meter in die Luft hob. Hoch und runter war einfach, rechts und links allerdings sehr viel schwieriger. Ich hatte ihn schon halb über der Reling, da tauchte Jack unvermittelt auf, und Thaddeus ließ sich nicht mehr von der Stelle bewegen.
Es dauerte einen Moment, bis ich wusste, warum. Es war wie gegen eine Wand anzurennen. Ich zog Thaddeus in jede erdenkliche Richtung, doch er schien in einer unsichtbaren Kiste eingeschlossen zu sein. Mit aller Kraft bemühte ich mich, deren Wände zu durchbrechen, aber genauso gut hätte man versuchen können, ein Loch in Quecksilber zu bohren; immer wieder formten sich die Wände neu. Thaddeus schaukelte in der Kiste umher, fiel aber nicht ins Wasser. Bald waren meine Kräfte erschöpft, und ich ließ ihn los. Zu meiner Überraschung hüpfte er über eine unsichtbare Treppe zurück an Deck.
»Raffiniert, findest du nicht?«, fragte Jack zufrieden.
Hinter mir hörte ich, wie Cam auf- und absprang, während Anna seine Fesseln löste. Im nächsten Moment stürzte er sich auf Thaddeus, mit einem Laut, den man nur als Kriegsgeheul bezeichnen konnte.
Anna wollte auf Jack losgehen, doch nach ein paar Schritten wurde sie wie von unsichtbarer Hand zurück an die Reling gedrängt. Schwankend richtete sie sich auf. Im nächsten Moment ruderte sie hilfesuchend mit den Armen und wurde wieder zurückgeworfen. Sie landete dort, wo Cam zuvor gesessen hatte und versuchte, die Rückenlehne zu erklimmen. Ich hörte, wie sie nach Luft rang, und da wurde mir klar, dass Jack sie zu Tode quetschte.
»Lass sie los, Jack!«, brüllte ich.
»Sorry, Dancia, aber du bist wohl kaum in der Position, solche Forderungen zu stellen.«
Schweißperlen sammelten sich auf meiner Stirn, als ich meine allerletzten Energiereserven mobilisierte, um Jack hochzuheben. »Ich meine es ernst. Lass sie los!«
Anna griff sich an den Hals. Ihre Lippen verfärbten sich bereits blau.
»Und wenn nicht?«, fragte Jack leise. »Wirst du mich dann auch töten? Wie Reva? Wirfst mich ins Meer und lässt mich ertrinken?«
Den Gedanken, ich könnte jemanden getötet haben, versuchte ich so schnell wie möglich zu verdrängen, doch ich wusste, wie kalt das Wasser war. Unsere Kajaklehrer hatten uns extra darauf hingewiesen, dass die Gewässer des Puget Sunds nur etwa zehn Grad hatten und man bereits nach zehn Minuten unterkühlt war. Danach hatte man kaum noch eine Chance, es lebend aus dem Wasser zu schaffen.
»Lass uns gehen«, sagte ich. »Wir kehren zurück auf unser Boot, und ihr könnt auf eurem bleiben.« Ich musste mich an der Reling festhalten, denn mir schwanden allmählich die Kräfte.
»Das kann ich leider nicht tun«, sagte Jack. Anna stöhnte, ihr Kopf fiel nach vorn.
Meine Geduld war erschöpft. »Jack, hör sofort auf!« Ich bebte vor Wut und Erschöpfung. So weit ich konnte, schob ich ihn über die Reling.
Anna kippte aufs Deck; plötzlich spürte ich ein fürchterliches Gewicht auf meinem Rücken. Ich brach zusammen, etwas drückte auf meine Lungen. Ich drehte den Kopf zur Seite, schnappte nach Luft. »Jack«, keuchte ich, »hör auf.«
»Du solltest vielleicht wissen, dass ich nicht schwimmen kann«, rief Jack über dem Wasser. »Meinst du, du verkraftest es, wenn du mich umbringst?«
Mir wurde schwarz vor Augen. Ich rang innerlich mit mir, dann kam ich zur einzig vernünftigen Entscheidung. Ich schloss die Augen und verabschiedete mich stumm von dem Jungen, den ich einst gekannt hatte.
Dann ließ ich ihn mit einem Platscher ins Wasser fallen.
Gemeinsam gelang es Trevor und der angeschlagenen Anna schließlich, die Ballerina zu überwältigen. Cam half mit, sie an die Reling zu binden, Hände und Füße wurden fest verschnürt und der Mund zugeklebt. Thaddeus hatte einiges abbekommen; nachdem er von mir herumgestoßen worden war, hatte sich auch noch der blindwütige Cam auf ihn gestürzt. Eigentlich war von ihm nichts mehr zu befürchten, aber sie banden ihn trotzdem fest, sicher war sicher.
Nachdem es nun ruhig war, drückte Cam mich an sich, und wir hielten uns lange zitternd im Arm. In diesem Augenblick rückte alles in weite Ferne: der Tsunami, die Irin und sogar Jack im eisigen Wasser – und ich konnte so tun, als wären wir irgendwo allein auf einem Boot, in der Ferne ein Sandstrand und über uns der blaue Himmel.
»Ich hatte Angst, die bringen dich um«, sagte er mit belegter Stimme. »Ich wusste mir nicht zu helfen. Was würde ich nur …« Er verstummte und presste meinen Kopf an seine Brust.
Ich spürte seinen langsamen, gleichmäßigen Atem und gab mich ganz diesem Moment hin. Worte wollten mir nicht über die Lippen kommen, aber das spielte keine Rolle. Er wusste, was ich dachte.
»Nie wieder lass ich zu, dass sie dir was tun, hörst du?«, sagte Cam entschlossen. »Nie wieder.«
»Die weiß sich ganz gut allein zu wehren«, sagte Trevor trocken. »Dancia, vielleicht können wir beide in Zukunft ein Team bilden?«
»Kommt gar nicht infrage. Du hast schon Cam. Dancia ist jetzt meine Partnerin«, schaltete sich Anna ein. »Sie hat mir den Weg geebnet für einen prima Tritt in die Weichteile.« Sie zeigte auf Thaddeus. »Das kann nur ein Mädchen. Dafür sind Jungen viel zu zimperlich.«
Das brachte uns zum Lachen. Da mir schon alles wehtat, war das ziemlich schmerzhaft und wohl auch unangebracht, wo doch die Wellen, die sanft gegen das Boot schwappten, gerade jemanden verschluckt hatten, den ich einmal gut gekannt hatte. Jemanden, an dem ich gehangen und den ich irgendwann vielleicht sogar geliebt hatte. Dennoch spürte ich im Moment vor allem Erleichterung, dass wir alle zusammen waren und gemeinsam lachen konnten.
Als wir das nächste Mal Atem schöpften, hob Anna die Hand. »Hört ihr das?« Im Wasser war ein Planschen zu hören. Anna sah über die Reling. »Die Kleine, die du über Bord geworfen hast, Dancia. Offenbar hält die Elektrizität sie warm.«
Cam erschauderte. »Was sollen wir mit ihr machen?«
Nach kurzem Zögern sagte ich bestimmt: »Wir holen sie an Bord. Wir können sie nicht einfach im Wasser lassen.«
»Aber die Welle«, sagte Anna. »Die wird sicher bald hier sein.«
»Dann müssen wir uns eben beeilen«, sagte ich. »Ich lass sie nicht im Wasser zurück. Nicht, wenn wir sie retten können.«
Cam sah uns verständnislos an. »Was für eine Welle?«
Ihm war eine Menge entgangen. »Es hat ein Erdbeben gegeben«, sagte ich und suchte mit den Blicken unentwegt den Horizont ab. »Während du bewusstlos warst, haben sie einen Tsunami angekündigt. Deshalb müssen wir die Rettungsaktion auch schnell über die Bühne bringen. Wir werfen ihr eine Leine ins Wasser, daran kann sie dann rausklettern.«
Von Jack gab es kein Lebenszeichen, aber niemand schnitt das Thema an.
»Und wenn wir wieder bei den anderen sind? Was geschieht dann mit ihr?«, fragte Anna.
»Mr Judan wird den Hohen Rat benachrichtigen«, sagte ich, »und sicher anordnen, dass sie und die anderen irgendwo untergebracht werden.« Thaddeus lag bewusstlos auf dem Deck ausgestreckt, und die Ballerina saß mit halb geschlossenen Augen daneben. »Da sie keine Gestaltwandler oder Computergenies sind, müsste es einen Ort geben, wo man sie sicher verwahren kann.«
Da hatte ich keinen Zweifel. Und keinesfalls würde ich weiteren Morden zustimmen. Mir war egal, was Mr Judan oder andere Mitglieder dachten. Wir würden andere Mittel und Wege finden müssen.
»Einen Versuch ist es wert«, sagte Trevor.
Cam rieb sich das Kinn, die dunklen Stoppeln erinnerten mich daran, dass seit unserer Abreise aus Danville schon zwei Tage vergangen waren. »Du machst am liebsten deine eigenen Regeln, nicht wahr?«
Ich senkte den Blick und schmiegte mich an ihn, weder er noch die anderen sollten sehen, dass ich rot wurde.
Schon immer hatte ich Gutes tun wollen. Mehr nicht. Vielleicht verstieß ich dabei gegen Regeln. Vielleicht wusste ich aber auch nur, dass ich eigene Regeln aufstellen konnte. Das lag einfach in meiner Natur, wie mir jetzt endlich klar wurde. Ich war nicht wie die anderen. Ich war anders und würde es immer sein.
Trevor schnappte sich eine Leine mit einer Rettungsboje und lehnte sich vorsichtig über die Reling. »Wenn du uns einen Schlag versetzt, schmeißen wir dich direkt zurück ins Wasser, verstanden?«
Keine Antwort. Dann ertönte ein schwaches »Helft mir. Ich kann nicht mehr.«
Trevor warf ihr die weiße Boje zu.
Wieder starrte ich hinaus aufs Meer, ich konnte nicht umhin, nach einem weiteren Kopf im Wasser Ausschau zu halten.
Auf einmal fiel mir eine helle Linie auf, die auf uns zukam.
Ich schluckte und deutete aufs Meer. »Ist das …?«
Anna rannte an die Reling. »Die Welle kommt.«
»Hier, nimm«, sagte Trevor und reichte mir die Leine, an der Reva hing. Sie erwischte die Boje und sah mich angsterfüllt an. »Ich sehe lieber zu, dass ich den Motor wieder in Gang kriege«, sagte Trevor und verschwand unter Deck.
Aus der Ferne war ein schwaches Rauschen zu vernehmen, als würde man sich eine große Muschel ans Ohr halten. Die helle Linie näherte sich mit hoher Geschwindigkeit, schon jetzt konnten wir die in der Sonne glänzende Gischt gut erkennen. Aber das war keine Welle zum Wellenreiten! Eher eine Wand aus Wasser, die sich in den tosenden Tiefen des Meeres zusammengebraut hatte.
Eilig holte ich die Rettungsboje ein. Als Reva nah genug war, beugte ich mich über die Reling und reichte ihr die Hand. Ihre Hand war eiskalt, die Haut fast blau. Ohne Zögern zog ich sie hinauf, Cam und Anna halfen ihr über die Reling. Wir sprachen nicht viel, starrten nur auf die herannahende Wasserflut. Das Tosen wurde lauter, mittlerweile war die Welle nur noch ein paar Kilometer entfernt.
»Kannst du was dagegen machen?«, fragte Cam.
»Ich bin mir nicht sicher«, sagte ich. »Viel Kraft habe ich nicht mehr übrig.«
Die Welle schien nicht viel höher zu sein als unser Boot. Möglicherweise konnten wir einfach darüber hinweggleiten.
Cam legte den Arm um meine Taille. Ich nahm seine Hand und drückte sie. Reva saß zitternd an Deck. Irgendwas an ihr erinnerte mich an Hennie. Nach allem, was sie getan hatte, hätte ich sie eigentlich verabscheuen sollen, aber das konnte ich nicht. Ich hielt mich an dem Gedanken fest, dass wir sie retten und vielleicht sogar auf unsere Seite ziehen konnten.
Anna stand nur ein paar Schritte entfernt. Ich stupste Cam in die Seite und deutete zu ihr. Einen Moment lang sah er mich verständnislos an, doch dann nickte er und streckte eine Hand nach Anna aus.
Mit einem dankbaren Lächeln ergriff sie sie.
»Trevor«, rief Cam. »Vergiss den Motor und komm hoch zu uns.«
Kurz darauf erschien Trevor an Deck. »Hat keinen Zweck«, sagte er. »Der Motor ist im Eimer. Da können wir dem Untergang auch gleich ins Auge sehen.«
Anna nahm seine Hand. »Das tun wir dann aber gemeinsam.«
Trevor grinste, und wir rückten zusammen. »Na klar, wir sind doch ein Team.«
Die Welle schlug gegen den Bug wie eine feste Wand. Kein hübscher Wellenkamm, auf dem man reiten konnte, sondern eine tosende graue Masse mit schmutzigweißen Schaumkronen. Das Boot wurde steil emporgehoben. Wir konnten uns nicht mehr halten – wenn ich jetzt nicht eingriff, würden wir alle in die eisigen Fluten gespült werden.
Ich spürte Cams festen Händedruck auf der einen und Annas nicht minder festen auf der anderen Seite.
»Du hast dein Bestes gegeben«, sagte Anna.
Aber das stimmte nicht. Auch wenn mir die Tränen in die Augen traten, wusste ich, dass noch mehr in mir steckte und ich noch nicht bereit war aufzugeben. Nicht, wenn die anderen auf mich angewiesen waren und darauf zählten, dass ich ebenso hart für sie kämpfte, wie sie es für mich getan hatten. Vor meinem inneren Auge sah ich erneut, wie Anna sich auf Thaddeus gestürzt hatte und Trevor sich auf die Ballerina, und da wusste ich, dass ich nicht aufgeben durfte.
Also mobilisierte ich alle verbleibenden Kräfte. Ich stellte mir vor, dass Mr Fritz zu mir sagte, die Erschöpfung sei lediglich etwas, was sich in meinem Kopf abspielte. Und auf einmal machte es Klick, und mir war, als hätte ich eine Tür aufgestoßen, von deren Existenz ich nicht einmal etwas geahnt hatte. Glühend heiße Energie durchströmte mich. Bahnte sich ihren Weg durch meinen bebenden Körper. Ich konzentrierte mich und hob uns alle – auch die Irin – empor.
Ein paar Sekunden nur schwebten wir in der Luft. Mir kam es wie eine Ewigkeit vor, doch es war gerade lang genug, dass die Welle unter uns hindurchrollen und das Boot zurück aufs Wasser fallen konnte. Es schlingerte wie verrückt, und als die Wassermassen das Deck fluteten, drohte es zu kentern.
Dann war die Wasserwand verschwunden. Als das Boot wieder ruhig lag, ließ ich alle Fäden los, und wir plumpsten aufs Deck. Cam erhob sich als Erster aus dem Gewirr von Armen und Beinen und zog mich sanft hoch. Gemeinsam mit Anna brachte er mich zum Heck, wo sie mich auf ein Kissen betteten.
»Du hast es getan«, sagte Anna leise.
»Du hast uns das Leben gerettet«, sagte Trevor.
»Deine Gabe hat den ganzen Himmel erleuchtet«, sagte Cam voller Ehrfurcht.
Von meinem Platz aus sah ich den anderen zu, wie sie über Deck huschten, aus der Kajüte Decken brachten, nach Wasser und Nahrungsmitteln suchten und das Funkgerät einstellten. Als wir endlich Empfang hatten, hatte die Welle schon die umliegenden Inseln erreicht. Später wurde berichtet, dass die Welle fünf Meter hoch gewesen sei. Das reichte, um beträchtlichen Schaden anzurichten, aber zum Glück waren nur wenige Gebiete betroffen.
Cam saß neben mir an Deck und hielt meine Hand. Ich wollte die Augen zumachen und wegdämmern, aber zuerst musste ich noch etwas erledigen.
»Ich muss euch unbedingt was sagen«, krächzte ich. »Es ist wichtig.«