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Der Knall war so ohrenbetäubend wie der des dicksten Böllers am Unabhängigkeitstag. Keine Ahnung, ob sich Bomben so anhören, jedenfalls duckten sich alle, auch Cam, und hielten die Hände schützend über den Kopf. Die meisten von uns verharrten in dieser Haltung, bis das Echo verklang und eine unheimliche Stille folgte.

Im nächsten Moment stand Cam auch schon auf und schaute sich zur Schule um.

Hinter mir hörte ich eine Stimme: Mr Judans unverkennbaren tiefen Bass, in den sich ein wütender Unterton geschlichen hatte. »Auf geht’s!«

Cam und Mr Judan spurteten davon. Die meisten Elftklässler und die übrigen Lehrer taten es ihnen gleich. Gesprochen wurde dabei kaum, nach kurzem Gemurmel teilten sie sich auf, und weg waren sie. Anna zog sich in Windeseile die Schuhe aus und stürmte Cam hinterher. Einige hatten bestimmt einen dritten Grad in Schnelligkeit oder konnten sich unsichtbar machen, denn von einem Moment zum anderen waren sie allesamt verschwunden.

Ich versuchte, Ruhe zu bewahren, was mir nicht gerade leicht fiel, wo doch jeder rannte, als stünden wir unter Beschuss. Hatte Cam das gemeint, als er sagte, wer ins Programm eingeweiht sei, lebe in ständiger Gefahr?

Jack hatte sich darüber lustig gemacht, dass ich tatsächlich glaubte, die Tore, Schlösser und Sicherheitssysteme auf der Night Academy dienten unserem Schutz. Für ihn war ganz klar gewesen, dass die Schule uns nur überwachen wollte. Doch nun sah es so aus, als hätte Jack unrecht gehabt. Irgendjemand versuchte, in die Night Academy einzudringen, und heute Nacht war es ihm gelungen.

Mrs Callias, Hennies Französischlehrerin und Mr Judans rechte Hand, bellte: »Ihr bleibt schön hier. Lasst die anderen ruhig gehen.«

Die Zehntklässler und auch einige der Zwölftklässler liefen nervös umher. Viele der Mädchen trugen schicke Schuhe und Kleider, ein Spurt kam für sie also nicht infrage. Die Oberstufenschüler schienen unschlüssig, ob sie sich an Mrs Callias Anweisung halten oder auf eigene Faust zur Schule zurücklaufen sollten. Zögernd setzten sich ein paar in Bewegung.

»Wir wissen nicht, was dort vor sich geht. Es könnte gefährlich sein.« Mrs Callias funkelte die Jungen, die sich etwas abseits herumdrückten, böse an. »Bleibt hier! Das ist ein Befehl.«

Ich wartete, bis sie in einen Streit mit einem der Oberstufenschüler verwickelt war, und türmte durch den Wald. Hätte ich mich verstecken sollen, während anderswo gekämpft wurde? Außerdem war Anna dort. Und Cam. Was die konnten, konnte ich schon lange.

Zwar hatten meine Schuhe kaum Profil, dafür hatten sie aber auch keine Absätze, und das war allemal besser als barfuß im Dunkeln zu laufen. Also ließ ich sie an und rannte mit kurzen Schritten; bei einem Querfeldeinlauf hätte ich damit schlecht abgeschnitten, aber wenigstens landete ich so nicht auf dem Hintern.

Hinter dem Wald folgte der nasse, glitschige Rasen der Sportplätze. Von dort konnte ich in der Ferne die anderen ausmachen, der Abstand zwischen ihnen und mir wurde immer größer. Ich versuchte, einen Zahn zuzulegen, aber ihr Vorsprung war zu groß.

Als ich endlich die Schule erreichte, waren die meisten Schüler schon verschwunden, Cam, Trevor und Anna ebenfalls. Mr Judan stand mit verschränkten Armen auf der Marmortreppe des Hauptgebäudes. Durch die hohen Fenster fiel gleißendes Licht auf den roten Backstein und fing sich im nassen Gras. Drinnen durchsuchten Schüler des Programms die Klassenzimmer. Mr Fritz ging murmelnd auf dem Rasen auf und ab und fuhr sich unentwegt durchs weiße Wuschelhaar, während andere Schüler sich leise mit ihren Lehrern berieten.

Auf mich machte alles einen seltsam beruhigenden Eindruck. Nichts deutete auf eine Explosion hin, weder Rauchfahnen noch Trümmer waren zu sehen. Auf den Dächern lagen keine maskierten Scharfschützen, und es wurden auch keine Maschinengewehre aus einem Hubschrauber auf uns gerichtet. Wir waren einfach ein Haufen Schüler und Lehrer in komischen Gewändern.

Ich atmete tief durch, erholte mich von meinem unbeholfenen Dauerlauf und wandte mich an den einzigen Menschen, der offenbar nichts zu tun hatte.

»Mr Fritz?«

»Wie bitte?« Erschrocken fuhr er herum, schenkte mir aber sogleich ein Lächeln. »Ah, Dancia. Glückwunsch, meine Liebe. Wir sind ja so froh, dass du jetzt zu uns gehörst. Wirklich froh!«

»Danke.« Ich deutete auf das Hauptgebäude. »Weiß man schon, was passiert ist? War es eine Bombe?«

»Du liebe Güte, nein, eine Bombe war es nicht. Aber ganz genau wissen wir es noch nicht. Vielleicht schwere Feuerwerkskörper oder Sprengstoff.«

Ich überlegte einen Moment. »Sprengstoff? Aber ist das nicht das Gleiche wie eine Bombe?«

Mr Fritz kratzte sich am Kopf. »Weißt du, darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Ich weiß eigentlich gar nicht, wie eine Bombe genau definiert ist. Jedenfalls ist nicht viel Schaden entstanden. Von dem lauten Krach sind ein paar Scheiben zersprungen. Wahrscheinlich war es nur ein Streich.«

»Ein Streich?« Nervös rang ich die Hände. »Im Haupthaus?«

»Sie müssen durchs Haupthaus gekommen sein, um die Überwachungskameras auszuschalten«, sagte er. »Wir gehen davon aus, dass nichts fehlt. Die Schüler kontrollieren vorsichtshalber noch mal alles.« Nachdenklich starrte er das Gebäude an. »Merkwürdig, dass sie durch die Tore gekommen sein sollen, aber natürlich nicht unmöglich. Wir waren alle bei der Aufnahmezeremonie. So ungeschützt wie heute Nacht ist die Schule sonst nie. Zwar haben wir ein erstklassiges Sicherheitssystem, aber Technik lässt sich immer irgendwie austricksen. Jedes System hat seine Schwächen.«

»Und wie kommt man ungesehen an den Toren vorbei?«, fragte ich.

»Vermutlich sind sie bei der Geheimausfahrt über die Mauer. Der Teil des Geländes liegt im Dunkeln, damit wir keinen Verdacht erregen, wenn wir nachts die Garagen benutzen. Das erschwert allerdings die Überwachung.«

Das musste ich erst einmal sacken lassen. Bei all dem Gerede von Gestaltwandeln und Gedankenlesen, dem »Eulenflüsterer« und der zehn Meter hohen Feuerfontäne, hatte ich mir irgendwie eingebildet, dass die Night Academy eine Art magischer Kokon sei. Vielleicht nicht gerade mit Zauberei geschützt, aber die Grenze zwischen Magie und Begabung dritten Grades schien fließend. Mir war es einfach nicht in den Sinn gekommen, dass unser Sicherheitssystem Löcher haben könnte.

Dass die Night Academy angreifbar war.

»Weiß man schon, wer es gewesen sein könnte?«

»Schwer zu sagen. Es war genau geplant, der Täter muss also gut über die Schule und ihre Abläufe Bescheid gewusst haben, zudem musste er wissen, wie man hineingelangt « Mr Fritz hielt inne, als würden ihm seine eigenen Worte zu denken geben. Ängstlich zupfte er sich am Kragen und sagte dann: »Nichts für ungut. Könnte jeder gewesen sein. Wahrscheinlich irgendein Störenfried aus dem Dorf.«

Offenbar wusste Mr Fritz mehr, als er preisgeben wollte. »Jemand aus dem Dorf? Von denen kennt doch keiner die internen Abläufe oder wüsste, wie er hineinkommt. Genaue Planung? Tut mir leid, Mr Fritz«, sagte ich belustigt, »aber das hört sich wirklich nicht nach jemandem aus Danville an.«

Wie aufs Stichwort tauchte Mr Judan hinter Mr Fritz auf und blickte elegant mit seinen blauen Augen auf uns herunter. Den lila Umhang hatte er über die Schultern zurückgeworfen, darunter trug er einen maßgeschneiderten schwarzen Anzug. Mir war es ein Rätsel, wie er in seinen makellosen schwarzen Slippern so hatte rennen können, ohne einen einzigen Schlammspritzer auf Schuhe oder Hosenaufschläge zu bekommen.

Aber so war er einfach. Ich wette, selbst der Schlamm hatte große Angst vor ihm.

»Du hast recht, Dancia«, sagte Mr Judan. »Alle Anzeichen deuten auf eine Gang hin, mit der wir schon einmal Ärger hatten. Sie stammen aus Seattle, nicht aus Danville. Mehr wissen wir bislang auch nicht.«

Unter seinem tadelnden Blick erstarben alle tausend Fragen, die mir auf der Zunge gelegen hatte, doch im Grunde stachelte er meine Neugier nur noch mehr an.

Cam tauchte mit zerzaustem Haar und fliegendem Umhang hinter dem Hauptgebäude auf. Er kam vom Res, dem Wohnheim der Schüler.

»Alles klar«, sagte er rasch zu Mr Judan. »Beim Res gibt es keine Einbruchsspuren. David ist bei Pete. Kein Grund, die Polizei einzuschalten.«

Pete war der Wachmann der Night Academy. Wahrscheinlich auch ein Wächter. Und David ging ebenfalls in die Elfte. Ich war nicht sicher, worin seine Begabung bestand, aber sie hatte bestimmt mit Kommunikation zu tun. Mr Fritz atmete erleichtert auf. Cam sah zu mir, und einen Augenblick lang begegneten sich unsere Blicke. Inmitten des Chaos stieg mir die Röte in die Wangen, und ich musste mich abwenden.

»Gut gemacht«, sagte Mr Judan. »Hauptgebäude und Bly sind bereits gesichert. Der Täter ist schon längst über alle Berge.«

An das Bly hatte ich gar nicht gedacht, dort wohnten nämlich die Lehrer, und wir Schüler betrachteten es als Heiligtum. Wir wagten nicht einmal, einen Fuß auf die Veranda zu setzen.

»Ich suche jetzt das Gelände ab, vielleicht kann ich herausfinden, wo sie eingedrungen sind«, sagte Cam. »Wenn ich noch länger warte, verlieren sich die Spuren.«

Cam spürte, wenn jemand seine Begabung nutzte. Wenn er nah genug dran war, sah er es sogar. Für gewöhnlich konnte er nur sagen, wie viele Leute in einer bestimmten Region aktiv gewesen waren, nicht aber, wer es war. Allerdings gab es ein paar Spuren, die er sofort wiedererkannte. Dazu gehörten meine, denn er hatte mich angeworben. Schon Jahre zuvor hatte er meine Energie gespürt, immer in der Hoffnung, dahinterzukommen, wer in Danville über eine Begabung dritten Grades verfügte.

Jacks Spuren kannte er ebenfalls, denn ihn hatte er auch angeworben.

Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen, und alle wohlige Wärme verschwand. Sie hielten Jack für den Täter. Und nun suchten sie die Umgebung nach seinen Spuren ab.