16
Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf dem Boden. Vorsichtig öffnete ich die Augen und sah einen besorgten Mr Fritz, der mir die Wangen täschelte.
»Gott sei Dank! Wie geht es dir? Ist dir noch schwindelig? Weißt du, was heute für ein Tag ist? Welches Jahr?«
»Ich glaube, Sie sollten erst meine Antwort abwarten, ehe Sie die nächste Frage stellen, Mr Fritz«, sagte ich mürrisch und richtete mich auf. Sämtliche Muskeln taten mir höllisch weh, als hätte ich gerade einen Marathon hinter mir, und meine Haut spannte überall und war unangenehm warm. Ich streckte die Hände aus; sie waren nach wie vor leicht gerötet. Meine Schuhe waren hinüber, die Sohlen kaum noch zu erkennen, zum Glück waren meine Klamotten noch halbwegs in Ordnung, nur an manchen Stellen leicht versengt.
»Ihr geht’s gut«, bellte Mr Anderson. Er beugte sich über mich, sodass mir seine riesige Gestalt alles Licht nahm. Eine Eiche lag am Boden, von ihren Wurzeln rieselten Klumpen frischer Erde. Überall lagen Äste herum, manche steckten wie Speere im Boden. Anhand dreier Kreise aus Ästen und Zweigen konnte man noch sehen, wo sich Mr Fritz, Mr Anderson und Barrett befunden hatten; rings um die Lichtung verlief eine Umgrenzung aus Stein.
Die riesige Fichte hingegen war noch an Ort und Stelle.
»Ich habe schnell neue Wurzeln wachsen lassen. Das hat dem Baum Stabilität gegeben. Du hattest ihn noch nicht ganz umgeworfen«, brummte Mr Anderson.
Ich legte die Hände auf die Knie und stemmte mich hoch, geriet jedoch ins Taumeln. Von hinten griffen starke Hände nach mir.
»Ich sollte David holen«, sagte Mr Anderson.
»Sie ist nicht krank, nur erschöpft«, sagte Barrett über meinen Kopf hinweg.
Mr Anderson wischte sich die Stirn und hinterließ dabei einen Schmutzstreifen. »Wie kannst du das nur sagen? Hast du mal ihre Beine gesehen?«
»Ihre Beine sind nicht so schlimm. Sie ist einfach vollkommen ausgepowert. Und David braucht Energie, um zu heilen, sie kann ihm nichts mehr geben.«
Barrett hatte recht. Auch wenn ich am liebsten davongelaufen wäre, um keinen von ihnen jemals wiederzusehen, stand ich doch kurz davor, in Barretts Armen zusammenzubrechen.
»D., setz dich wieder hin. Du musst erst einmal zu Kräften kommen, bevor du irgendwo hingehst.«
Ich versuchte ihn abzuschütteln und sagte mit zitternder Stimme: »Lass mich in Ruhe. Ich bin dir doch gleichgültig. Du hast das genossen.«
Worauf Barrett mich losließ, doch meine Knie gaben nach. Er fing mich auf und legte mich vorsichtig auf den Boden. »Nein, das habe ich nicht«, sagte er. »Ich musste nur so tun, sonst hättest du mich nicht ernst genommen. Du musstest glauben, dass ich dir wehtun würde, um dich richtig zur Wehr zu setzen.«
Ich zog die Knie zur Brust und schaukelte vor und zurück, kämpfte mit dem Kloß in meinem Hals. Mit einem Mal war alles anders. Menschen, die ich für meine Freunde gehalten hatte, hatten mich angegriffen, und statt Kontrolle lehrte mich das Programm Chaos. »So habe ich mir das nicht vorgestellt«, sagte ich mit heiserer Stimme. »Jetzt, wo ich zum Programm gehöre, sollte doch alles einen Sinn ergeben.«
Barrett legte mir die Hand auf die Schulter. »Das wird leider nie passieren. Es wird höchstens alles noch verwickelter. Ich würde dir gern etwas anderes sagen, aber so ist es leider. Sorry.«
Ich sackte zusammen. Ich wollte mich noch zusammenreißen, aber meine Schultern zitterten bereits.
»Was hat sie denn?«, hörte ich Mr Anderson über mir flüstern.
»Sie wird schon wieder«, sagte Barrett. »Sie muss das nur alles verarbeiten.«
Die Sorge in ihren Stimmen war zu viel für mich. Ich verbarg das Gesicht zwischen den Knien und weinte bitterlich. Barrett täschelte mir den Rücken.
Immer wieder begann ich heftig zu schluchzen. Ich war mit Pauken und Trompeten durchgefallen. Hatte Barrett, Mr Fritz, Cam, Trevor und auch mich selbst enttäuscht. Ich gehörte nicht ins Programm. Trevor hatte es von Anfang an gewusst: Ich war eine tickende Zeitbombe, die nun explodiert war.
Nach einer gefühlten Ewigkeit beruhigte ich mich schließlich. Vom vielen Weinen war ich ganz erschöpft, und meine Schultern hatten aufgehört zu zittern.
Ich drehte den Kopf zur Seite und bettete ihn auf meinen Rock. Der kalte, feuchte Stoff war angenehm kühl an meiner glühenden Wange. Ich stellte mir vor, ich wäre bei uns im Garten und jeden Augenblick käme Oma, nähme mich in den Arm und würde mich »mein liebes Kind« nennen.
Ohne den Kopf zu heben sagte ich bitter enttäuscht: »Und was geschieht jetzt mit mir? Isolationshaft?«
»Was meinst du?«, fragte Mr Fritz.
Ich brachte es nicht über mich, ihn anzusehen. Auch wenn ich wusste, dass er nur das Beste im Sinn gehabt hatte, machte es mich dennoch sauer, dass er so leichtsinnig mit meinen Gefühlen spielte. »Ihre kleine Demonstration war doch sehr erfolgreich. Abgesehen davon, dass Sie fast von einem zweihundert Jahre alten Baum erschlagen worden sind. Das hätten Sie allerdings voraussehen können.«
»Dancia, wir wollten dich doch nicht …«
Ich ließ ihn gar nicht erst ausreden. »Natürlich wollten Sie. Sie haben mich zu dritt provoziert, um herauszufinden, wie viel Schaden ich wohl anrichten würde. Und das hat ja auch wunderbar funktioniert.«
»Aber so ist es doch nicht gewesen.« Mr Fritz hockte sich neben mich. »Wir wollten dir keine Falle stellen. Nach den Vorkommnissen am Wochenende ist uns klar geworden, dass wir von dir nicht verlangen können, deine Kräfte ständig zurückzuhalten. Du wirst dich nicht damit zufriedengeben, immer nur zuzusehen, deshalb wollten wir herausfinden, was passiert, wenn du freie Bahn hast.«
»Natürlich«, spottete ich. »Das war eine Übung. Kein Beweis meiner mangelnden Kontrolle.«
»Du brauchtest Raum, um dich zu entfalten. Wir waren neugierig, wie du auf eine Herausforderung reagieren würdest. Aber nicht, weil wir dir nicht trauen. Wir haben noch nie jemanden mit deiner Begabung auf der Night Academy gehabt. Wir tappen im Dunkeln, lernen durch Erfahrung, genau wie du.«
»Bitte, Mr Fritz«, sagte ich müde. »Keine Lügen mehr. Nicht jetzt.«
»Das ist aber die Wahrheit«, sagte er beharrlich. »Als wir mit dem Unterricht begannen, hatten wir Angst. Das gebe ich gern zu. Wir haben geglaubt, wir müssten ganz klein anfangen, um dir auf diese Weise Kontrolle beizubringen. Aber der Vorfall auf der Party hat uns deutlich gemacht, dass wir falschlagen. Uns ist klar geworden, dass wir dich auf die nächste Stufe bringen müssen.«
»Und die wäre …?«
»Voller Einsatz deiner Kräfte. Und zwar nicht mit Stiften und Stöckchen, sondern in einer konkreten Gefahrensituation. Und dabei solltest du von Freunden und nicht von Feinden umgeben sein. Darum ging es in der heutigen Stunde. Nicht etwa darum, dir zu zeigen, wie gefährlich du bist.«
»Und jetzt sind wir wieder Freunde?« Ich lachte bitter und wischte mir die Nase am Ärmel ab. »Fast wäre ich drauf reingefallen.«
»Bist du nicht froh, dass es heute passiert ist und nicht mitten auf der Santiam Lane vor Annas Haus?«, fragte Barrett. »Wir versuchen, dir zu helfen, D., dich auszubilden. Du musst schon ein wenig nachsichtig mit uns sein, wenn es nicht gleich beim ersten Mal hinhaut.«
»Du hast mich fast in Brand gesteckt«, sagte ich zu ihm. »Mich ausgelacht. Und da soll ich nachsichtig sein?«
Er grinste. »Und du hast mir fast das Kreuz gebrochen, aber ich wollte ja schon immer fliegen. War eigentlich ziemlich abgefahren. Das müssen wir unbedingt noch mal machen.«
Ich war nicht zum Scherzen aufgelegt. »Wie kannst du nur so tun, als wäre nichts passiert? Ich hätte dich beinahe umgebracht. Wie kann ich meine Gabe nutzen, wenn ich so gefährlich bin?«
»Wir sind alle gefährlich. Manche vielleicht etwas mehr als andere, aber du hast nur getan, was wir von dir verlangt haben. Du hast alles ganz richtig gemacht.« Barrett deutete auf Mr Anderson, der uns finstere Blicke zuwarf. »Du hast dich gewehrt und uns trotzdem am Leben gelassen. Wir haben dich provoziert, D., und du hast mit aller Macht zurückgeschlagen.«
»Aber ich habe die Kontrolle verloren. Am Ende konnte ich es nicht mehr aufhalten. Wenn der Baum umgefallen wäre …«
»Wären wir alle tot«, sagte Mr Anderson. »Aber er ist nicht umgefallen, und keinem ist etwas geschehen. Du hast die Situation länger im Griff gehabt, als wir erwartet haben. Statt dir Vorwürfe zu machen, solltest du stolz auf dich sein.«
Barrett sprang auf. »Nun weißt du, was du noch zu lernen hast. Du bist wie ein Kind, das gerade laufen lernt. Du wirst noch oft auf die Nase fallen. Hauptsache, du vertraust darauf, dass wir dich immer wieder aufheben.«
Mr Fritz fuhr mit den Händen durch seinen Haarschopf und entfernte Erdklumpen und ein Blatt. »Wir wollen dir nur helfen. Auch wenn es sich im Moment nicht so anfühlen mag. Eines Tages wirst du Ziel eines Angriffs sein, Dancia. Ich sage es wirklich nur ungern, aber so ist es. Wenn herauskommt, wie mächtig du bist, wird man dich aus dem Weg räumen wollen.«
»Wer? Die Irin?«, fragte ich.
Die drei tauschten bedeutungsvolle Blicke. Ich dachte, sie würden mir widersprechen oder alles leugnen, aber sie schienen noch nicht einmal überrascht. Cam musste ihnen wohl von unserem Gespräch nach der Party berichtet haben.
»Ja«, sagte Mr Fritz, »die Irin. Bis dahin musst du gelernt haben, dich zu verteidigen.«
»Wir haben dich gern«, fügte Barrett hinzu. »Wir wollen dir doch nur helfen.«
»Wir alle«, knurrte Mr Anderson.
Ich blinzelte erneut durch einen Tränenschleier. Ein Troll, eine menschliche Fackel und ein verrückter Gärtner wachten also über mich. Und ich fand das auch noch tröstlich. Was eine Menge darüber aussagte, wie es um mein seelisches Gleichgewicht stand. »Ähm, danke.«
Sobald ich mich wieder auf den Beinen halten konnte, trotteten wir zurück zur Schule. Anfangs mussten mich Barrett und Mr Fritz noch stützen. Doch als wir die Sportplätze erreichten, hielt ich mich schon allein auf den Beinen, wenn auch etwas wackelig. Als ich dann auf die Uhr sah, konnte ich kaum glauben, dass es erst drei war. Mir kam es viel später vor.
Kaum waren wir in Sichtweite der Schule, stürmte Cam uns entgegen. Seine normalerweise eher sanften Züge zeigten wilde Entschlossenheit. Ohne große Umstände nahm er meine Arme, legte sich den einen über die Schulter und den anderen um die Hüfte. »Was ist mit deinen Schuhen passiert?«, wollte er wissen.
»Die … ähm … sind geschmolzen.«
»Stütz dich auf mich. Du kannst nicht allein laufen.«
Ich überließ es ihm, mich vorwärtszubewegen, meine Arme hingen kraftlos herunter. Irgendwie war ich verlegen, wusste nicht wie oder ob ich ihm überhaupt erzählen sollte, was geschehen war. »Mir geht es gut. Bin nur ein bisschen müde.«
»Sicher?« Er musterte mich von oben bis unten. »Was ist mit deinen Beinen?«
Die blutigen Schnitte kreuz und quer über meinen Schienbeinen konnte ich ja schlecht verbergen. »Sieht schlimmer aus, als es ist. Sind nur ein paar kleine Kratzer.«
Er hielt mich fester. »Du kannst mir nichts vormachen, Dancia. So stark habe ich dich noch nie kämpfen gespürt.«
Ich konzentrierte mich darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen, denn ich schämte mich, dass alles so aus dem Ruder gelaufen war. »Du hast gewusst, dass wir kämpfen?«
»Erst, nachdem ihr losgelegt habt. Das konnte ich ja schlecht ignorieren. Mr Judan musste mir schließlich sagen, was Sache ist, sonst wäre ich dich suchen gegangen. Es war wie ein Riesenfeuerwerk der Begabungen. Der Himmel war hell erleuchtet.« Cam funkelte Barrett an. »So viel gebündelte Energie habe ich noch nie gesehen.«
»Das gehört zu ihrer Ausbildung, Cameron«, sagte Mr Fritz. »Wir mussten ihr Weiterkommen beschleunigen. Ich habe es nur sehr ungern getan, aber was sein muss, muss sein.«
Ihr Weiterkommen beschleunigen. Mr Fritz hatte behauptet, sie hätten es nur getan, um mich vor den Irin zu schützen. Dabei pushten sie mich, stellten mich auf die Probe und stärkten meine Kräfte. Wut stieg in mir auf, nur wusste ich nicht, wem sie galt.
»Sie sind jetzt fertig?«, sagte Cam zu Mr Fritz, es klang allerdings kaum wie eine Frage.
»Ja«, antwortete Mr Fritz. »Mr Anderson und ich müssen Mr Judan Bericht erstatten. Du kannst Dancia gern zurück ins Res bringen. Sie sollte sich etwas hinlegen. Es wird eine Weile dauern, bis sie wieder zu Kräften kommt.«
Auch wenn das in letzter Zeit bedenklich oft geschah, konnte ich mich immer noch nicht daran gewöhnen, wenn andere einfach so über mich verfügten, als wäre ich Luft. Ich hob die Hand und winkte wild. »Hallo! Mich gibt es auch noch. Schon vergessen?«
Mr Anderson grunzte. »Kannst du laufen?«
»Ja.«
»Gut, dann bist du ab jetzt auf dich allein gestellt.« Er setzte sich in Richtung Hauptgebäude in Bewegung.
Mr Fritz seufzte. »Natürlich, Dancia. So war das doch nicht gemeint …«
»Schon gut. Cam begleitet mich.«
Dann drehte sich Mr Fritz noch einmal zu mir um. »Ich bin sehr stolz auf dich. Daran darfst du keine Sekunde zweifeln.«
Verunsichert wich ich seinem Blick aus – wie gern hätte ich ihm geglaubt. »Danke«, murmelte ich.
»Können wir?«, fragte Cam.
»Klar.«
Barrett folgte uns auf dem Weg zum Res.
»Ich weiß nicht, was ihr euch dabei gedacht habt«, sagte Cam. »Drei gegen eine.«
»Es hätte viel schlimmer sein können«, sagte ich. »Die haben mich ja noch geschont.« Auch wenn Barrett mir ordentlich zugesetzt hatte, wusste ich, dass er noch ganz anderes hätte anrichten können.
»Schonen würde ich das nicht gerade nennen«, sagte Barrett und klang fast wieder so entspannt wie sonst. »Ich bin total platt. Für mehr als ein Streichholz wird es die nächsten Tage wohl nicht reichen.«
»Du hättest ihr nicht wehtun dürfen«, sagte Cam kalt.
»Es musste doch echt wirken.« Mit zwei Schritten hatte Barrett zu uns aufgeschlossen und ging nun neben mir.
»Was weißt du schon davon?«, murmelte Cam. »Du hast doch noch nie irgendetwas ernst genommen.«
Ich hatte Angst, dass die unterschwellige Feindseligkeit zwischen den beiden in einen offenen Streit ausarten würde, doch Barrett antwortete nicht. Er lief stumm neben mir her, und mit seinen hohen Wangenknochen und der Hakennase glich er im grauen Nachmittagslicht mehr denn je einem Raubvogel.
Nach einer halben Ewigkeit hatten wir unser Wohnheim endlich erreicht. Barrett stützte mich, während Cam im Rucksack nach seinem Ausweis kramte.
»Du bist voll im Eimer«, sagte Barrett.
»Danke«, sagte ich trocken.
Er deutete auf meine nackten Füße. »Ich schulde dir ein Paar Schuhe.«
»Nee. Ich bin nur froh, dass du mich nicht ganz in Brand gesteckt hast.«
Er legte den Kopf schief, und das lange schwarze Haar fiel ihm ins Gesicht. »Und ich finde es echt nett, dass du mich nicht auf den Kopf hast fallen lassen.«
Wir lächelten uns an, der erbitterte Kampf war vergessen. Cam zog die Karte durch den Schlitz und riss die Tür mit mehr Gewalt als nötig auf. Betreten entfernte ich mich einen Schritt von Barrett, denn ich wusste nicht, wie ich mich in dieser Situation verhalten sollte. Einerseits wollte ich nicht unhöflich sein, andererseits wusste ich, dass Cam stocksauer auf Barrett war. Und zwischen die Fronten wollte ich gerade jetzt nicht geraten.
»Du solltest dich echt ausruhen«, sagte Barrett. »Da hat Mr Fritz recht. Du bist immer noch ganz grün.«
»Ich habe heute ein Spiel. Da kann ich im Bus schlafen.« Demonstrativ ging ich allein zur Tür, verlor jedoch sofort das Gleichgewicht und fuchtelte hilflos mit den Armen in der Luft, bis Barrett mich auffing.
»Ich sag Bescheid, dass du nicht kommen kannst.« Cam funkelte Barrett böse an, bevor er sich wieder mir zuwandte. »Ruh dich aus, Dancia.«
»Es gibt echt keinen Grund, sich so aufzuführen, Cam. Wir wollen doch beide nur das Beste für Dancia«, sagte Barrett leise.
Cam würdigte ihn keines Blickes. Am Ellenbogen dirigierte er mich durch die Tür. »Das glaube ich erst, wenn ich es sehe.«
Ich rief Barrett noch einen Abschiedsgruß zu, dann fiel die Tür hinter Cam und mir ins Schloss. Wir stiegen die Treppen bis zum vierten Stock hoch, blieben auf jeder Etage stehen, damit ich Atem schöpfen konnte. Auf meinem Zimmer angekommen, lehnte ich mich kurz gegen die Tür, bevor ich sie öffnete, und hielt dabei Cams Hand ganz fest. »Ist nicht seine Schuld – das gehörte zum Unterricht.«
Cam presste seine Stirn gegen meine und schloss die Augen. »Ich wollte mich echt nicht wie ein Arsch aufführen. Aber du allein da draußen …«
Ich lachte. »Das war eine Übung, Cam. Die hätten mir nicht wirklich etwas angetan.« Er antwortete nicht, und ich schluckte. »Oder?«
»Natürlich nicht«, sagte er nicht sehr überzeugend.
Daraufhin nahm ich ihn bei den Schultern und zwang ihn, mich anzusehen. »Jetzt mal ehrlich. Was hast du denn gedacht, was da hätte passieren können?«
»Ihr habt einen Höllenlärm veranstaltet«, sagte er. »Manchmal kann im Eifer des Gefechts auch was schiefgehen. Barrett verfügt über große Kräfte, und keiner weiß bislang, wozu du imstande bist.«
Ich ließ mich gegen die Tür sinken. »Deine Sorge war gar nicht so unberechtigt. Fast hätte ich uns alle umgebracht. Ich weiß zwar, was sie damit bezwecken wollten, aber mir geht das alles viel zu schnell. Kann man den Dingen nicht einfach ihren Lauf lassen?«
»Im ersten Jahr ist es immer so«, sagte Cam. »Für dich ist es wahrscheinlich noch extremer, aber eben unvermeidlich. Wenn wir den Dingen ihren Lauf ließen, würde die Hälfte der Schüler es nie zum dritten Grad schaffen.«
»Aber es tut weh.«
Er strich mir über die Wange. »Ich wünschte, es gäbe eine andere Möglichkeit, aber je früher man damit anfängt, desto stärker wird man auch. Deshalb müssen wir jeden pushen. Mr Judan sagt uns das andauernd.«
Langsam reichte es mir. Erst Annas Party, dann die Sache mit den Irin und obendrauf auch noch Esthers Probleme, ich hatte endgültig genug. »Und du glaubst alles, was er sagt?«
»Was?« Er wich zurück und sah mich groß an.
Ich weiß nicht, wer überraschter von meinem Ausbruch war, er oder ich. An dieser Stelle hätte ich einfach den Mund halten sollen, aber die Worte sprudelten nur so aus mir heraus. »Sorry, Cam, aber wann hast du eigentlich das letzte Mal irgendwas infrage gestellt, was Mr Judan von sich gegeben hat? Schließlich ist er nicht Gott. Er ist auch nur ein Mensch, und Menschen können sich irren. Vielleicht werden manche von uns unnötig gepusht. Vielleicht sollte man den Leute eine Wahl lassen, bevor man in ihrem Leben herumpfuscht.«
»Wovon redest du überhaupt?«
In meiner Rage hatte ich endlich mal den Mut, für mich einzustehen. An den Fingern zählte ich die einzelnen Punkte auf. »Ich rede vom Programm. Ihr bringt uns her und spielt mit uns, nur um zu sehen, wie wir reagieren. Ihr beobachtet uns, schreibt eure Berichte und fällt dann irgendwelche großartigen Entscheidungen über unsere Ausbildung. Und bevor wir selbst wissen, worin unsere Gaben bestehen, zwingt ihr uns schon, sie einzusetzen. Dann stopft ihr uns in irgendwelche Schwerpunktfächer und steckt uns in Brand, damit wir uns ›entfalten‹ können.«
Mein Atem ging immer schneller, und meine Beine zitterten, doch jetzt wollte ich endlich mal alles loswerden.
Cam lief vor mir auf und ab. »Natürlich habt ihr eine Wahl«, sagte er. »Darum geht es doch beim Aufnahmeritual. Du hast den Eid aus freien Stücken geleistet. Niemand hat dich dazu gezwungen.«
»Glaubst du im Ernst, irgendjemand könnte den Eid ablehnen?«, fragte ich und schüttelte ungläubig den Kopf. »Glaubst du, nach allem, was wir zu dem Zeitpunkt schon über uns erfahren haben, könnte man noch aussteigen?«
Cam presste die Lippen fest aufeinander. »Du bist müde. Leg dich lieber hin.«
»Ich bin nicht müde. Mir reicht’s einfach.« Damit drehte ich ihm den Rücken zu und hämmerte heftig die Zahlenkombination in die Tastatur. »Ich habe die Nase voll von all den Kämpfen und der Geheimniskrämerei. Mir soll endlich mal jemand die Wahrheit sagen.«
»Dancia, hör auf. Du bist total neben der Spur.«
»Ja, was denkst du denn! Gerade eben wäre ich im Wald fast verkohlt, während mich irgendwelche Pflanzen erdrosseln wollten. Dann geh du mal danach wieder in die Schule und tu so, als wäre nichts gewesen!«
Cam wandte sich empört ab. »Schon kapiert. Ich streite mich jetzt nicht mir dir.«
»Schön.« Ich stieß die Tür auf. »Dann lass mich doch in Ruhe.« Im Zimmer warf ich mich aufs Bett.
Als ich wieder zur Tür sah, war er verschwunden.