26. Kapitel

Kurz vor neunzehn Uhr wurde Kommissär Ferrari ein Anruf durchgestellt. Er nickte zwei-, dreimal und legte Sekunden später auf.

«Alice Schneeberger hat angerufen. Komm Nadine, wir fahren ins Bruderholzspital.»

Im Spital wurden sie von der aufgewühlten Krankenschwester erwartet.

«Gregor hat nach Ihnen verlangt. Er will Sie unbedingt sehen, Sie beide.»

«Seit wann sind Sie hier?»

«Ich habe ihn heute Nachmittag eingeliefert. Er wollte einen Freund in Lampenberg besuchen. Doch er hat unterwegs einen Herzinfarkt erlitten. Mein Gott, er wird es nicht überleben. Bitte, beeilen Sie sich.»

Nadine und Ferrari hasteten durch die Gänge. Der diensthabende Arzt kam auf sie zu.

«Kommissär Ferrari?»

«Ja. Das ist meine Partnerin Nadine Kupfer.»

«Unter normalen Umständen würde ich Sie nicht zum Patienten lassen. Er befindet sich in einem sehr kritischen Zustand und wird die Nacht nicht überleben. Doch er möchte Sie unbedingt sehen. Bitte folgen Sie mir.»

Hartmann lag auf der Intensivstation. Als er sie kommen sah, versuchte er zu lächeln.

«Sie haben sich Zeit gelassen. Nehmen Sie Platz. Ich kann Ihnen leider nichts zu trinken anbieten. Der Service lässt hier zu wünschen übrig. Wie geht es Alice?»

«Sie ist sehr besorgt.»

«Alice hat nichts damit zu tun, das müssen Sie mir glauben. Sie fuhr mich nur immer hin. Sie ist ein wenig naiv. Aber ich glaube, sie liebt mich wie ihren eigenen Vater.»

«Das werden wir dann noch sehen, Herr Hartmann», brummte Ferrari.

«Geben Sie sich nicht der Hoffnung hin, dass Sie ihr etwas anhängen können. Ich habe heute Nachmittag bereits unter Eid eine Aussage bei Amos Horowitz gemacht. Ein guter Freund und ein begnadeter Anwalt. Zurzeit der beste in der Schweiz. Er hat mir versprochen, sie zu beschützen. Also, verschwenden Sie nicht unnötig Steuergelder.»

Er legte eine Pause ein. Sein Atem ging schwer.

«Sie erbt übrigens mein ganzes Vermögen. Ich habe es mir anders überlegt … Sie haben es herausgefunden, Herr Kommissär?»

«Leider viel zu spät. Sie gingen sehr geschickt vor.»

«Ich hatte immer schon eine Vorliebe für taktische Spiele. Vielleicht wäre ich in einem anderen Leben ein grosser Feldherr geworden oder ein Schachgrossmeister … Ich muss irgendwo einen entscheidenden Fehler begangen haben.»

Hartmann hustete stark.

«Sie haben beim Gespräch mit Meister zu viel ergänzt.»

«Wo … wo genau, Frau Kupfer?»

Der Husten verstärkte sich.

«Bei Gissler. Dass er im Wohnzimmer umgebracht worden war, wusste nur der Mörder und wir.»

«Ein kleiner, aber sehr dummer Fehler von mir. Bernie wusste sehr wenig über den Tathergang bei Gissler. Da haben seine Quellen versagt. Man hat mich vor Ihnen gewarnt. Sie sind würdige Gegner in diesem letzten Spiel gewesen. Es war mir eine grosse Ehre.»

«Ich verstehe Ihre Beweggründe nicht.»

Hartmann liess sich lange Zeit, bevor er antwortete. Es kam Ferrari so vor, als ob er die letzten Monate zuerst Revue passieren liess. Das Sprechen bereitete ihm sichtlich Mühe.

«Ich habe Ihnen ja erzählt, dass Robert Selm eines Tages zu mir kam, um reinen Tisch zu machen. Von Gewissensbissen getrieben und angesichts meines nahen Todes schilderte er, was in jener Nacht vor fünfzehn Jahren geschehen war. Es gab damals nur einen einzigen Zeugen. Ich weiss nicht, ob Sie ihn kennen?», Hartmann kicherte leise. «Der wunderschöne Basilisk, der oben auf dem Brunnen thront. Haben Sie sich schon einmal geachtet? Das Fabeltier hält das Wappen unserer Stadt und blickt hinab, in jener Nacht in tiefe menschliche Abgründe. Und der Basilisk weinte, still und für immer ungehört … Robert bat um Verständnis und um Verzeihung. Aber ich konnte nicht, ich war zutiefst enttäuscht. Seltsam, ich kann es selbst nicht genau erklären, ich entschloss mich noch am gleichen Tag, wenigstens einmal im Leben auf der richtigen Seite zu stehen. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich bereits, dass ich nur noch wenige Monate zu leben hatte. Ich hatte also nichts zu verlieren.»

«Selbstjustiz hat nichts mit der richtigen Seite zu tun. Absolut gar nichts.»

«Wissen Sie, die vier haben mich von Beginn an belogen und schamlos benutzt. Das konnte und durfte ich nicht ungestraft lassen.»

Welch kranke Vorstellung, dachte Ferrari. Drei der vier mussten ihr Leben lassen, weil sie ihren Anwalt angelogen hatten und nicht, weil sie schuldig waren.

«Andreas Gissler war mein erstes Opfer. Er bat mich höflich in seine Wohnung, wehrte sich kaum. Robert Selm ahnte zwar, dass Andreas’ Tod in Zusammenhang mit dem Prozess stand, aber sein Verdacht richtete sich nicht gegen mich. Anscheinend hatte mich die Nachbarin, diese junge Türkin, beim ersten Besuch gesehen und in der Mordnacht zufälligerweise Alice, die an der Ecke auf mich wartete.»

«Warum hat Alice Schneeberger nicht unmittelbar vor dem Haus gewartet?»

«Ich hatte ein Taxi genommen. Nicht bis vor die Haustür, versteht sich, nur bis zur Clarastrasse. Alice wollte mich aber unbedingt abholen und liess nicht locker. Da gab ich ihr einfach eine falsche Hausnummer an. Sie dachte vermutlich, dass ich eine ehemalige Geliebte aufsuchen würde. Sozusagen zum Abschied.»

Somit blieb nur noch Philippe Stähli.

«Ich wollte Stähli in seinem Büro richten. Aber es kam anders. Er war auf dem Weg zur Toilette, als ich den Lift verliess. Ich bin ihm gefolgt. Hier gab es überhaupt kein Problem. Gut, eine Frau hatte mich gesehen. Aber das war weiter nicht tragisch, denn Alice brachte mich ja immer zur Untersuchung ins Spital zu meinem alten Freund Professor Rotach. Er praktiziert nur im Kantonsspital, auch seine Privatpatienten behandelt er dort. Das war für mich ein ausgezeichneter Vorwand. Alice wartete wie gewohnt im Kaffee auf mich. Der Zufall wollte es, dass Sie mich ausgerechnet an diesem Tag besuchten. Wir kamen knapp eine halbe Stunde vor Ihnen zu Hause an. Ein erregendes Gefühl, der Mörder sitzt dem ahnungslosen Kommissär gegenüber.»

Ferrari schaute ihn ungläubig an. Wie hatte er sich vom Anwalt nur so täuschen lassen können? Sie waren die ganze Zeit so nahe dran gewesen und doch meilenweit entfernt. Plötzlich wurde Hartmann von einem starken Hustenanfall geschüttelt. Der anwesende Arzt bat sie, den Raum umgehend zu verlassen.

«Warten … warten Sie. Haben Sie … noch … Fragen an mich?»

Ferrari schüttelte den Kopf.

«Etwas bedrückt mich, Herr Kommissär. Ich konnte zum ersten Mal in meinem Leben einen Fall nicht abschliessen. Einer läuft immer noch frei rum.»

Ferrari hatte genug gehört. Gregor Hartmann hatte jeglichen Realitätssinn verloren. Eigentlich traurig. Er gab Nadine ein Zeichen. Schweigend verliessen sie die Intensivstation.

«Wie geht es ihm? Wird er es überstehen?», wurden sie von Alice Schneeberger sehnlichst empfangen.

«Ich befürchte, dass er in dieser Nacht sterben wird, Frau Schneeberger.»

Tränen liefen über ihr Gesicht.

«Wieso trifft es immer die guten Menschen? Weshalb gerade Gregor, Frau Kupfer? Er hat doch nie im Leben etwas Schlimmes getan. Das ist nicht fair.»

Nadine nahm sie in die Arme und tröstete sie.

«Sie müssen jetzt stark sein, Frau Schneeberger. Er will nicht, dass Sie um ihn weinen. Sie sollen in die Zukunft schauen und ein erfülltes Leben leben. Das ist sein Wunsch.»

Nadine und Ferrari verabschiedeten sich von Alice Schneeberger und setzten sich in der Cafeteria an einen runden Tisch. Minuten vergingen, ohne dass jemand ein Wort sprach.

«Du glaubst Hartmann, dass sie nichts mit der Sache zu tun hat?», begann Nadine.

«Ja, ich glaube ihm. Alice Schneeberger hält ihn für den besten Menschen auf der Welt. So soll es auch bleiben.»

«Du bist ein komischer Kauz, Francesco.»

«Ich bin der grösste Trottel der Stadt. Stell dir vor, wir haben Hartmann immer auf dem Laufenden gehalten und ihn sogar für unsere Untersuchungen gewonnen. Einfach Wahnsinn.»

«Es deutete alles auf Bernhard Meister, Anita Brogli und Elisabeth Fahrner hin.»

«Nichts ist so, wie es scheint … Übrigens ein Zitat von Bernie.»

Noch in der gleichen Nacht verstarb einer der bedeutendsten Anwälte, den die Schweiz je hervorgebracht hatte.