5. Kapitel
Monika stritt sich in der Küche mit jemandem. Es waren mehrere Stimmen zu hören. Die eine war wie immer ihre Tochter Nicole, die andere Stimme kam ihm zwar bekannt vor, aber irgendwie klang sie heiser. Als ihm einfiel, wer dahinter steckte, war es bereits zu spät.
«Du kommst wie gerufen, Ferrari!», erwischte ihn Monika auf seinem Rückzug. Wenn Monika ihn bei seinem Nachnamen nannte, war Streit vorprogrammiert.
«Liebling … ich habe noch etwas im Büro vergessen …»
«Du bleibst, du Feigling!»
«Aber Monika …»
«Nichts Monika! Du kommst jetzt sofort in die Küche und diskutierst mit uns. Deine Meinung ist gefragt.»
Zerknirscht folgte Ferrari diesem Befehl.
«Hallo Nicole, hallo Mutter!»
Es kam selten vor, dass Ferraris Mutter von Oberwil nach Birsfelden zu Besuch kam. Die wenigen Male waren ihm dennoch zu viel. Sie hielt ihm gnädigerweise die Wange zum Kuss hin.
«Wie geht es dir, Mutter?»
«Gut, aber nicht, weil du dich so rührend um mich kümmerst.»
«Hm … Ich habe viel zu tun. Und schliesslich haben wir vor zwei Tagen miteinander telefoniert.»
«Tja, das ist halt so. Da zieht man die Kinder gross, versucht anständige Menschen aus ihnen zu machen, dann werden sie flügge und kennen die Eltern nicht mehr.»
«Jetzt übertreibst du aber, Mutter!»
«Grossmama hat immer recht», mischte sich Nicole ein.
«Worüber diskutiert ihr eigentlich?», versuchte Ferrari dem Gespräch eine Wende zu geben.
«Grossmama hat mir einen Nintendo Wii gekauft. Und Mama ist dagegen.»
«Ich bin nicht dagegen. Aber ich finde es nicht gut, wenn du einfach so, ohne einen besonderen Grund, ein solch teures Geschenk bekommst.»
«Ach was, du willst nur nicht, dass ich einen Wii habe. Alle Freundinnen in der Schule haben einen. Nur ich nicht.»
«Nun sag du mal was, Ferrari!»
«Ja … nun, ich meine … ich bin der Meinung deiner Mutter, Nicole!»
«Natürlich bist du ihrer Meinung. Du hast noch nie Rückgrat gezeigt.»
«Das ist nun aber … das verbitte ich mir, Mutter!»
«Hast du denn eine eigene Meinung?», bohrte Ferraris Mutter weiter.
«Aber das hat er doch, Grossmama. Er ist doch der gleichen Meinung wie Mami.»
«Er sagt nur das Gleiche wie Monika, weil er keine eigenständige Meinung hat.»
«Ah, jetzt verstehe ich. Mami hat eine eigene Meinung und Francesco sagt immer genau das Gleiche. Das muss ich mir merken.»
Monika schaute der Entwicklung inzwischen entspannt zu. Ein Lächeln flog ihr übers Gesicht.
«Moment, so ist das nicht, Nicole. Ich habe sehr wohl eine eigene Meinung. Und die deckt sich in diesem Fall exakt mit derjenigen deiner Mutter.»
«Francesco hat keine eigene Meinung, er plappert alles Mami nach», stichelte Nicole. Die Rückendeckung ihrer Grossmutter war ihr gewiss.
Ferrari sah Hilfe suchend zu Monika hinüber, die belustigt die Schultern hob. Das gefällt mir nicht, dachte der Kommissär. Ganz und gar nicht. Sie amüsiert sich über mich. Und meine Mutter, die alte Hexe, grinst unverschämt. Wie ihr wollt, dann halt auf die harte Tour.
«Nicole, ich bin dafür, dass wir diesen … diesen Wii bis zu deinem Geburtstag eingepackt lassen. Dann bekommst du ihn als Geschenk von deiner Grossmama und kannst so viel spielen, wie du willst.»
«Das ist echt unfair», motzte Nicole enttäuscht. «Ihr gönnt mir auch gar nichts.»
Es gelang ihr sogar, einige Tränchen hervorzuquetschen.
«Rabenvater!», hörte er seine Mutter zischen.
«Es bleibt dabei! Basta!»
Nicole warf Ferrari einen gehässigen Blick zu und liess die Küchentür krachend ins Schloss donnern.
«So, und nun zu dir, Mutter. Wie kommst du dazu, einfach hier aufzutauchen und Nicole ohne unser Wissen ein solch grosses Geschenk zu machen?»
Anna Ferrari schmollte.
«Nun, ich warte auf deine Antwort.»
«Nichts als Undank! Ich hätte mehr von dir erwartet, mein Sohn. Wo ist dein Anstand, dein …», sie suchte nach dem passenden Wort.
«Respekt!», half Monika bei der Wortwahl.
«Genau. Danke, Monika. Wo ist dein Respekt gegenüber deiner Mutter geblieben?»
Ferrari hielt sich nur noch mühsam zurück.
«Das hat doch nichts mit Anstand oder Respekt zu tun. Du kannst nicht einfach hier hereinschneien und Geschenke verteilen. Du bist nicht der heilige Sankt Nikolaus.»
«Es wäre dir wohl lieber, wenn ich in Oberwil versaure.»
«Nein … was soll das nun wieder? Das hat doch nichts mit dem Geschenk zu tun. Und was heisst versauern? Seit Vater gestorben ist, bist du laufend auf Reisen. Du hast ja nie Zeit, wenn wir dich einladen.»
«Aha! Jetzt wirfst du mir noch vor, dass ich nicht habe warten können, bis dein Vater unter der Erde war, um das Leben zu geniessen.»
«Dreh mir gefälligst nicht jedes Wort im Mund herum.»
«Dann musst du dich deutlicher ausdrücken. Man sollte meinen, dass ein Polizist sich verständlich artikulieren kann.»
«Hör zu, Mutter, es ist wohl besser, wenn du jetzt in ein Taxi steigst und nach Hause fährst. Bevor ich die Beherrschung verliere …»
«Es ist halt das Vorrecht der Grosseltern, die Enkelkinder zu verwöhnen», hörte er Monika versöhnlich sagen.
«Da siehst du es, Francesco! Monika weiss, was sich gehört. Genau so ist es. Ich wollte Nicole nur eine kleine Freude bereiten. Aber das begreift ihr Männer ja nicht.»
Monika setzte sich eng neben Francescos Mutter.
«Weisst du, Anni, Nicole ist im Augenblick in der Schule nicht so gut. Wir sollten sie dafür nicht noch belohnen. Bist du einverstanden, wenn wir ihr den Nintendo Wii zum Geburtstag schenken? Der ist ja schon bald.»
«Aber sicher, Monika. Das verstehe ich nur zu gut. Ich denke da an die Zeit zurück, als Francesco noch zur Schule ging. Ein ungezogener Junge, nur Flausen im Kopf. Ein miserabler Schüler, vor allem in den Sprachen. Wir mussten ihm Nachhilfeunterricht organisieren. Das war nicht günstig, sage ich dir. Ja, das waren noch Zeiten. Ich bin froh, dass wenigstens wir uns verstehen.»
Sie tätschelte Monika den Arm. Ferrari sass wie ein begossener Pudel am Tisch. Unfähig, die richtigen Worte zu finden.
«Du kannst froh sein, dass du so eine Frau wie Monika gefunden hast, Francesco. So ist wenigstens halbwegs etwas Anständiges aus dir geworden.»
«Halbwegs?!», schrie Ferrari.
«Nun plustere dich nur nicht so auf. Du hattest eine grosse Karriere vor dir. Du hättest in die Firma deines Vaters einsteigen können. Aber das wolltest du ja nicht. Dein Vater hat zwar nie etwas gesagt, aber das hat ihn stark mitgenommen. Der einzige Sohn will Polizist spielen.»
«Das … das ist doch … Polizist spielen! Jetzt ist es aber genug, Mutter! Du weisst so gut wie ich, dass Paps voll und ganz mit meiner Berufswahl einverstanden war. Ich kann es einfach nicht mehr hören! Immer der gleiche Mist.»
«Ja, ja, die Wahrheit erträgst du nicht. Das hast du noch nie. Du hast deinem Vater das Herz gebrochen.»
Sie begann zu schluchzen und suchte in ihrer Handtasche vergeblich nach einem Taschentuch.
«Danke, Monika. Wenn er dich nicht hätte, würde er längst auf der Strasse leben. Zum Glück muss das Herbert nicht mit ansehen. Es hätte ihn umgebracht.»
Sie erhob sich, bestellte mit ihrem Handy ein Taxi und rauschte davon, ohne den Kommissär eines Blickes zu würdigen.
«Begleitest du mich noch nach draussen, Monika?»
«Aber sicher, Anni. Dann können wir noch ein wenig plaudern, bis das Taxi kommt.»
«Ich glaube, ich spinne!», tobte Francesco später in der Küche. «Was glaubt die alte Spinatwachtel eigentlich, wer sie ist?!»
«Sprich nicht so abschätzig von deiner Mutter, Francesco!»
«Immer der gleiche, gottverdammte Scheiss! Ich hätte die grösste Lust, nach Oberwil zu fahren und ihr den Tarif zu erklären.»
«Reg dich doch nicht so auf.»
«Ich rege mich auf, wann ich will! Was bezweckt sie damit?»
«Sie will dich vielleicht nur ein wenig ärgern, mein Schatz. Und anscheinend gelingt ihr das prächtig.»
«Diese … diese … Mutter! Und du? Du bist mir auch noch in den Rücken gefallen. Bravo, kann ich da nur sagen!»
Monika lachte.
«Mir ist nichts anderes übrig geblieben. Die Diskussion stand vor der Eskalation. Es war die einzige Möglichkeit, Anni zu bodigen.»
«Auf meine Kosten.»
«Na ja, du wirst es überleben. Möchtest du ein Glas Wein, Liebling?»
«Nein!»
Monika öffnete eine Flasche Aigle rouge, stellte ein Glas vor Ferrari auf den Tisch und küsste ihn.
«Nicht mehr böse sein, Brummelbär.»
«Hm …!»
Sie wusste, wie sie ihn beruhigen konnte. Ein gutes Glas Wein, etwas Zeit, ein anderes Thema …
«Wie war dein Tag?»
«Ein ganz normaler Tag», leistete er noch geringen Widerstand.
«Kein Mord? Oder möchtest du nicht darüber reden?»
«Doch, ein Mord.»
«Man hat in den Nachrichten aber nichts gebracht.»
«Anscheinend ist es noch nicht durchgesickert.»
Monika schenkte nach und strich ihm über den Rücken.
«Ein spannender Fall?»
«Das weiss ich noch nicht. Kannst du dich an die vier Jungs erinnern, die vor etwa fünfzehn Jahren einen jungen Mann so verprügelt haben, dass der an den Folgen seiner Verletzungen gestorben ist?»
«Ja, ich erinnere mich. Das war damals eine ganz grosse Sache.»
«Einer der vier Angeklagten ist heute tot aufgefunden worden. Erstochen.»
«Glaubst du, dass da ein Zusammenhang besteht?»
«Vielleicht. Aber wir sind noch ganz am Anfang unserer Ermittlungen. Weshalb kannst du dich so gut an das damalige Geschehen erinnern?»
«Ich kenne einen der vier.»
«Ist nicht wahr. Und wen?»
«Du kennst ihn auch. Philippe Stähli.»
«Stähli? Das sagt mir nichts.»
«Doch. Er war sogar schon einmal hier bei uns.»
«Machst du Witze?»
«Als wir den sechzigsten Geburtstag von Professor Dankwart feierten. Ein grosser, blonder, junger Mann, damals Assistent von Dankwart. Inzwischen hat er Karriere gemacht. Sicher wird er eines Tages Chefarzt im Kantonsspital.»
«Ich erinnere mich vage … ja, jetzt kommen die Bilder wieder. Sehr sympathisch … Dankwart stellte ihn mir als genialen Kopf vor, der eine grosse Karriere vor sich habe.»
«Das ist Philippe Stähli.»
Monika kannte Professor Dankwart seit Langem. Nachdem sie ihr Studium abgeschlossen hatte, dachten viele, dass sie sich um eine Stelle bei Dankwart in der Forschung bewerben würde. Bevor sie sich entschliessen konnte, starb Monikas Vater und sie übernahm die Leitung der kleinen Apothekenkette, die er aufgebaut hatte. Dadurch entstanden auch freundschaftliche Beziehungen zu vielen Ärzten in der Stadt.
«Philippe stammt aus einer alten Ärztedynastie. Damals behauptete der Vater des getöteten Jungen, mir fällt der Name nicht ein …»
«Der Junge hiess Beat Fahrner.»
«Genau. Also der Vater von Beat Fahrner behauptete, dass alle im Prozess Beteiligten geschmiert worden seien, inklusive Polizei und Staatsanwalt.»
«Gehören die Stählis zum Basler ‹Daig›?»
«Nein, das sind schon eher die Vischers, Merians, Oeris und Sarasins. Wenn du fragen würdest, ob sie zur Ärzte-High-Society gehören, würde ich das mit einem Ja beantworten.»
«Ein ‹Daig› neben dem ‹Daig›?»
«So ist es. Ein Akademikerzirkel. Aber längst nicht so einflussreich wie die alten Basler Familien. Stählis Vater war bis zu seiner Pensionierung Chefarzt im Kantonsspital und sein Grossvater Hausarzt in Riehen.»
«Was hältst du von Philippe Stähli?»
«Wie er damals war, kann ich nicht beurteilen, weil ich ihn noch nicht kannte. Ich würde ihn als einen der fähigsten Ärzte von Basel bezeichnen. Keine Spur von Arroganz. Aufgeschlossen und wirklich sympathisch. Er ist übrigens seit fünf Jahren mit Silvia Ruprecht verheiratet, eine gute Bekannte. Sie haben zwei Kinder.»
«Traust du ihm zu, dass er früher einmal jemanden zu Tode geprügelt hat?»
«Nein, ehrlich gesagt nicht. Aber man kann nur an einen Menschen heran sehen, nicht in ihn hinein. Ich weiss ja auch nicht, welche schrecklichen Geheimnisse du vor mir verbirgst.»
Sie knabberte an seinem linken Ohr.
«Die sind so fürchterlich, dass du sie nicht verkraften würdest.»
«Wirklich?»
Sie küsste ihn zärtlich.
«Ist dir zu warm, Francesco?»
Es war eine angenehme Wärme, die in Ferrari hochstieg. Sehr angenehm sogar.