24. Kapitel

Ferrari trug eine schwere Bürde mit sich herum. Die Erkenntnis, dass sein Vorgänger, den er bewunderte, den er oft zitierte, wenn ihm die richtigen Worte nicht einfallen wollten, ein Mörder sein sollte, warf ihn aus dem Gleichgewicht. Das ganze Wochenende war er für niemanden zu sprechen. Nicht einmal für Nadine, die darauf drängte, Elisabeth Fahrner nochmals zu vernehmen. Unzählige Male ging er den Fall in Gedanken durch, doch immer kam er zum gleichen unbefriedigenden Resultat. Am liebsten hätte er den Fall einem Kollegen übergeben. Aus Befangenheit.

Am Montag führte der Kommissär mit Jakob Borer ein längeres Gespräch. Der Staatsanwalt bekräftigte ihn, den Fall rasch abzuschliessen, bevor es ein viertes Todesopfer gab und vor allem bevor die Presse ihn in Stücke riss. Dabei wollte Ferrari eigentlich das Gegenteil hören, nämlich dass er den Fall unter den Tisch wischen solle. Als er vorschlug, das Dossier aus Befangenheit an einen jüngeren Kollegen weiterzugeben, lachte Borer nur, goss seine Pflanzen und fragte, ob sonst noch etwas sei. Na bravo, auf den Staatsanwalt war absolut kein Verlass.

Wenigstens liess ihn Nadine in Ruhe. Sie blieb zwar den ganzen Tag über an seiner Seite, verzichtete aber darauf, über den Fall zu diskutieren. Ein Telefongespräch mit Monika hatte ihr geholfen, die schlechte Laune ihres Chefs nicht persönlich zu nehmen und entsprechend zu reagieren.

«Da muss er allein durch, Nadine», hatte Monika gesagt. «Das ist so eine Phase. Bei seinem ersten grossen Fall ist er in das gleiche Loch gefallen. Lass ihm Zeit. Druck bringt rein gar nichts. Das kommt schon wieder. Ich bin übrigens froh, dass du an seiner Seite bist. Wenn ich …»

«Wenn du?»

«Wenn ich auch manchmal eifersüchtig bin. Du verbringst mehr Zeit mit meinem Francesco als ich. Und du bist intelligent und siehst gefährlich gut aus. Das ist die Kombination, bei der Francesco durchaus schwach werden könnte.»

Nadine verschlug es für einmal die Sprache, was selten vorkam.

Der Kommissär verliess früh sein Büro und sass in der Küche mit einer Flasche Wein, die er bereits zur Hälfte geleert hatte, als Monika von einer Besprechung mit den Geschäftsführerinnen ihrer Apotheken nach Hause kam. Ferrari war so in Gedanken versunken, dass er sie zuerst nicht einmal bemerkte.

«Hallo Schatz, dein Augenstern ist da!»

«Wie … entschuldige, Monika, ich habe dich nicht kommen gehört.»

Ferrari erhob sich ein wenig schwankend und küsste sie.

«Puuuh! Leicht alkoholisiert. Liebeskummer?»

«Wenns nur das wäre …»

«Also keine Rivalin, die ich kaltmachen muss? Ich hätte hier noch ein Küchenmesser, das noch nie benutzt worden ist.»

Monika fuchtelte mit einem Riesenmesser herum.

«Du würdest dein Opfer doch eher mit Gift umbringen, oder? Und so wie ich dich kenne, würdest du daneben sitzen und zuschauen.»

«Soso! Du schätzt mich goldrichtig ein, Francesco. Wer meinen Ferrari klaut, wird qualvoll eliminiert. Basta.»

Monika setzte sich zu ihm und trank ebenfalls ein Glas Wein. Sie nahm seine Hand, ohne etwas zu sagen. Sie wusste genau, wie sehr Ferrari unter den Ermittlungen litt. Oft stand er mitten in der Nacht auf, während sie sich schlafend stellte, ging ins Wohnzimmer und sass stundenlang in seinem Sessel. Die Hände verschränkt, den Blick in der Weite der Nacht verloren. Diese Mordserie ging an seine Substanz. Eine schmerzhafte Grenzerfahrung, mit der er nicht umzugehen wusste.

«Ich will ihn nicht ins Gefängnis bringen, Monika», hörte sie ihn nach einer Weile sagen.

«Wenn er es gewesen ist, bleibt dir nichts anderes übrig.»

«Ausser ich quittiere vorher den Dienst.»

«Das wäre dann nicht mein Francesco.»

Ferrari sah sie traurig an. Er wusste, dass sie recht hatte. Für den Rest seines Lebens könnte er sich nicht mehr im Spiegel betrachten, denn er wäre vor den Problemen davongelaufen. Feig und schwach.

«Was soll ich tun?»

«Bist du sicher, dass Bernhard Meister der Mörder ist?»

Ferrari repetierte nochmals ein paar wesentliche Fakten: der ältere Mann und die wartende Frau im Auto, die Iris Okaz gesehen hatte. Die Gespräche mit Meister und vor allem dessen Unterhaltung mit Gregor Hartmann. Die Lösung lag auf der Hand, seit Tagen. Jetzt ging es dringend darum, die notwendigen Beweise zu finden.

«Ja, Bernhard Meister ist ein Mörder. Er hat die Taten zusammen mit Elisabeth Fahrner geplant, die beim Mord an Robert Selm den Wagen gefahren hat. Oder Anita Brogli sass am Steuer des Autos. Sie ist eine Fanatikerin, ein williges Werkzeug. Die Geschichte vor fünfzehn Jahren hat Bernie geschadet. Sehr sogar. Das weiss ich erst seit dem Gespräch zwischen Meister und Hartmann. Praktisch über Nacht wurde seine Karriere ruiniert. Er sässe heute noch in Stiftungen und irgendwelchen entscheidenden Gremien. Darauf hat er ein Leben lang hingearbeitet, auf vieles verzichtet in der Hoffnung, als Abteilungsleiter in Pension zu gehen und danach durch private Mandate weiterhin im Rampenlicht zu stehen. Das ist gründlich danebengegangen.»

«Elisabeth Fahrner kommt zu ihrer Gerechtigkeit und Anita Brogli sieht sich als Racheengel. Eine zweite Macht im Staate, die dort für Recht sorgt, wo die andere versagt hat.»

«Genau. Ach, Monika. Ich weiss, was ich tun muss, aber ich will nicht.»

«Du musst, Francesco. Du musst», sie strich ihm über die Wange und nahm ihn in die Arme.

«Was meint Nadine dazu?»

«Sie schont mich, lässt mir Zeit. Sie merkt, dass ich in einem Zwiespalt bin. Für Nadine ist klar, dass wir die drei kriegen müssen. Lieber gestern als heute. Sie kennt ihn kaum. Aber ich … ich habe Bernie immer bewundert … er versteht sein Handwerk wie kein anderer … Er ist so viel besser als ich …»

«Meister hat sicher seine Verdienste.»

«Ich bringe es zu Ende. Doch danach hör ich auf, Monika. Ich will nicht mehr, ich quittiere den Dienst.»

Monika sah ihm an, dass er es ernst meinte. Er war wild entschlossen, nichts und niemand würde ihn davon abhalten können. Mit einer Ausnahme. In der Vergangenheit war es ihr als Einzige immer wieder gelungen, den Kommissär zu beeinflussen und umzustimmen. Doch dazu bedurfte es des richtigen Moments.

«Wenn es dich so belastet, solltest du aufhören, Liebling. Aber du musst das hier noch zu Ende bringen.»

Er nickte.

«Ich muss ihn vorladen. Nadine soll beim Verhör dabei sein. Allein stehe ich das nicht durch.»

«Pack den Stier bei den Hörnern, Francesco.»

«Du meinst, ich soll zu ihm nach Füllinsdorf fahren und ihn mit den Fakten konfrontieren?»

«Noch besser. Du führst das Gespräch auf neutralem Boden.»

Ferrari lächelte dankbar.

«Ich wüsste nicht, was ich ohne dich tun würde, Monika.»

«Untersteh dich, etwas ohne mich oder mit einer anderen zu tun. Ich bin nämlich rasend eifersüchtig. Und ich weiss nicht, wen ich vergiften würde. Dich oder dein Gspusi.»