19. Kapitel
«Du warst gestern früh zu Hause, Francesco.»
Der Kommissär massierte sich den Nacken.
«Das ist mir noch nie passiert. Ich habe einen vollkommenen Filmriss.»
«Du kannst dich an nichts erinnern?»
«Doch, an den Anfang. Wir haben Elisabeth Fahrner verhört.»
«Im Kommissariat?»
«Nein, bei ihr im Büro. Sie hat uns einen Drink angeboten. Dann einen zweiten. Es war heiss und ich hatte noch nichts gegessen. Wie bin ich bloss nach Hause gekommen?»
Monika lachte schallend.
«Das wäre eine schöne Schlagzeile: ‹Kommissär Ferrari macht Verdächtige mit Alkohol geständig.›»
«Sie hat nicht gestanden, oder?»
«Nein, hat sie nicht. Nadine hat dich hergebracht und mich angerufen. Da wäre ich gerne dabei gewesen. Eine Verdächtige füllt dich während einer Befragung ab und ist gleichzeitig ebenfalls betrunken. Du bist schon ein eigenartiger Polizist, mein Schatz.»
Sie küsste ihn auf den Kopf, wo sich die lichten Stellen deutlich mehrten.
«Du kriegst eine Glatze. Dein Vater hatte auch eine.»
«Unsinn. Zudem vererbt sich das nicht.»
Sie schmunzelte.
«Du bist ein eitler Pfau und ein komischer Kauz. Deshalb liebe ich dich so. Mimst ab und zu den harten Kommissär, dabei bist du butterweich.»
«Hör auf, mir über die Haare zu streichen. Wenn das meine Kollegen erfahren …»
«Es wird sich kaum geheim halten lassen. Elisabeth Fahrner wird schon dafür sorgen, über Markus Schneider.»
«Nicht auszudenken! Ich will die Hauptverdächtige befragen und lasse mich volllaufen. Weshalb hat Nadine mich nicht davon abgehalten?»
«Sie ist nicht ins Gespräch hineingekommen und später konnte sie mit einem Mineralwasser auf nüchternen Magen nicht mehr mithalten.»
«Ja, ja, spotte nur. Aber vielleicht habe ich Glück und Elisabeth Fahrner erinnert sich auch an fast gar nichts. Dann ist es schwer möglich, von der Befragung zu erzählen.» Ferrari grinste. «Du hast mir immer noch nicht gesagt, wie ich nach Hause gekommen bin.»
«Nadine hat dich ins Bett gebracht.»
«Oje. Das werde ich eine Zeit lang hören.»
«Worauf du dich verlassen kannst. Habt ihr wenigstens etwas Neues erfahren?»
«Ich glaube nicht … Aber Elisabeth Fahrner hängt mit drin. Das sagt mir mein Bauchgefühl. Vermutlich hat sie beim Mord an Robert Selm den Wagen gefahren.»
«Hast du Beweise?»
«Nein. Aber sie hasst die Mörder ihres Bruders dermassen, dass sie zu allem bereit ist. Ich gehe von einem Auftragsmord aus. Gut möglich, dass der Mörder aus Liebe zu ihr tötete.»
«Damit geht sie aber ein grosses Risiko ein.»
«Rache macht blind.»
«Und wieso erst jetzt? Weshalb wartet sie fünfzehn Jahre mit ihrer Rache?»
«Das ist der Hinkefuss meiner Theorie. Ich habe keine Ahnung.»
«Kann ich dich allein lassen, mein Schatz? Ich bin spät dran», Monika küsste ihren über alles geliebten Francesco und strich ihm zärtlich über die Haare.
«Geh nur. Und ich habe keine Glatze!»
Monikas Lachen sagte etwas anderes.
Es war bereits kurz vor Mittag. Ferrari sass mit Kopfschmerzen an seinem Bürotisch und konnte sich nur mühsam konzentrieren. Nach und nach kehrte die Erinnerung an das gestrige Gespräch zurück. Aber das gesamte Puzzle bekam er nicht zusammen. Hat Elisabeth Fahrner die Morde gestanden? Wohl kaum. Wurde sie in jener besagten Nacht von Iris Okaz im Auto gesehen? Sehr wahrscheinlich. Die Tatsache, dass Markus Schneider Iris Okaz einschüchtern wollte, sprach dafür. Doch der Ständerat schied als möglicher Mörder aus. Wer war also ihr Werkzeug? Der grosse Unbekannte?
«Ah! Wieder nüchtern, Chef?»
«Nicht so laut, Nadine. Mir brummt der Schädel. Die Martinis sind mir voll eingefahren.»
«Und der Whisky bei Elisabeth Fahrner.»
«Die verträgt eine rechte Menge. Alle Achtung.»
«Sagt ein Schluckspecht zum anderen!»
«Wieso hast du mich nicht gebremst?»
«Komm mir nicht mit Vorwürfen. Als ob du je in einer solchen Situation auf mich gehört hättest. Ihr habt das Zeug wie Wasser runtergeschüttet. Den letzten Drink hast du sogar selbst geholt.»
«Wirklich?»
«Die absolute Krönung war, als Elisabeth Fahrner fragte, ob du sie jetzt verhaften würdest. Du hast freundlich zurückgefragt: Haben Sie denn etwas verbrochen?»
Nadine krümmte sich vor Lachen.
«Oje, oje, oje!»
Der Kommissär hielt sich die Hände vors Gesicht.
«Insgesamt kann man das Gespräch vergessen, es ist nichts dabei rausgekommen. Die neue, zugegeben ungewöhnliche Methode Vollsuff hat keine neuen Erkenntnisse gebracht. Aber ich glaube, dass sie da tief mit drin steckt.»
Das Telefon läutete, Ferrari hielt sich die Ohren zu.
«Soll ich abnehmen?»
«Bitte!»
«Kupfer bei Kommissär Ferrari … Ja … Gut, ich hole sie ab … Iris Okaz ist am Empfang.»
«Bitte setzen Sie sich», empfing der Kommissär den unerwarteten Besuch.
«Störe ich?»
«Überhaupt nicht. Ich kann Ihnen leider nur einen Kaffee aus meinem Thermoskrug anbieten.»
«Ist nicht nötig. Ich bin nur kurz vorbeigekommen, um mich bei Ihnen zu bedanken.»
«Keine Ursache. Wegen uns haben Sie Ihre Stelle verloren. Wir haben nur unseren Fehler wiedergutgemacht.»
«Dieter Heim will mich jetzt sogar befördern.»
«Ein kluger Mensch!»
«Ich weiss nicht, wie Sie das hingekriegt haben.»
«Mit viel Charme und Überzeugungskraft!»
«Das wird bei Dieter Heim nicht gereicht haben, Nadine. Er ist eher der Typ, der auf Einschüchterung reagiert.»
«Ich bitte Sie! Trauen Sie mir so etwas zu?»
Iris Okaz musste lachen.
«Ich glaube schon, Herr Ferrari. Ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass Sie nicht so harmlos sind, wie Sie sich geben. Also nochmals, vielen Dank.»
«Und wie lautet Ihre neue Funktion?»
«Stellvertretende Direktorin!»
«Super.»
«Dieter Heim legt übrigens grossen Wert darauf, dass ich Sie in seinem Namen grüsse. Sie müssen einen unheimlichen Eindruck bei ihm hinterlassen haben.»
«Richten Sie ihm auch einen Gruss von uns aus.»
«Wir könnten doch zusammen etwas essen gehen?»
Ferrari schaute auf die Uhr.
«Eine gute Idee, Nadine. Wohin?»
«In die Eckkneipe. Gleich hier gegenüber. Waren Sie schon einmal da, Iris?»
«Nein.»
«Dann wird es höchste Zeit.»
Das Restaurant befand sich in einer ehemaligen Fabrik. Obwohl die Menüauswahl beschränkt war, ein Menü mit Fleisch, eines für Vegetarier, kamen die Gäste in Scharen. Ohne Reservation gab es praktisch keine Möglichkeit, über Mittag einen Platz zu bekommen.
«Hier ist es aber ziemlich voll. Wir hätten reservieren sollen.»
Der Wirt kam hinter der Theke vor.
«Ciao Francesco, wie es dir geht?»
«Gut, Vittorio. Hast du einen Tisch für drei Personen?»
«Für dich sempre und für deine belle Signore. Kommt.»
Er führte sie quer durch den Raum.
«Va bene?»
«Sehr gut. Danke dir, Vittorio.»
«Signore. Es immer geben zwei Menus zu Mittag. Eine mit Fleisch, eine für Vegetarier. Menu kosten zwanzig Franken. Mit Antipasto und Dolce. Aqua und Vino ist inbegriffen. Was ich darf bringen?»
«Das vegetarische Menü.»
«Für mich auch.»
«Bene. Und per te, Francesco?»
«Dasselbe. Und keinen Wein.»
«Oh, oh! Du haben, wie man sagen, hier in die Kopf?»
«Kopfschmerzen, Vittorio. Der Kommissär ist nämlich gestern abgestürzt.»
«Oh, oh! Das nicht sein gut, Francesco! Das nicht sein serio.»
Ferrari schenkte Mineralwasser ein.
«Danke für deine Mitteilungssucht, Nadine.»
«Gern geschehen. Ich habe gar nicht gewusst, dass du Vittorio kennst. In Zukunft muss ich hier nicht mehr reservieren. Ich kann mich sicher auf dich beziehen.»
«Vittorio ist ein alter Bekannter. Er war einmal in einen Fall verwickelt. Nichts Tragisches. Ich konnte ihm einen kleinen Gefallen erweisen, und jetzt meint er, dass er mir ein Leben lang dankbar sein muss. Deshalb komme ich auch nicht oft her.»
«Typisch Ferrari.»
Der Kommissär erhob sein Glas.
«Nun, Frau stellvertretende Direktorin, stossen wir auf Ihre Beförderung an. Prost!»
Ferrari erzählte von Monika und Nicole, von seinem Beruf und seinen Visionen. Iris Okaz taute langsam auf, stellte ab und zu eine Frage und begann während des Hauptgangs von sich zu erzählen.
«Es war nicht immer leicht als Kurdin. In der Schule wurde ich praktisch von allen geschnitten. Mit der Zeit ging es dann besser. Nicht meine Kameraden waren das Problem, sondern deren Eltern. Ich durfte nie zu ihnen nach Hause.»
«Meistens sind die Eltern das Übel.»
«Stimmt. Nach der Schulzeit bekam ich meine Chance und habe sie genutzt. Lehre, Auslandaufenthalt, Festanstellung im ‹Central›. Meine Arbeit bedeutet mir sehr sehr viel. Es lief alles so gut. Vielleicht zu gut. Die Entlassung hat mich wie ein Schlag getroffen, ich stand plötzlich vor dem Nichts. Zum Glück ist dieser Alptraum vorbei. Seltsam, obwohl wir uns erst seit einigen Tagen kennen, sind Sie bereits gute Freunde geworden. Dafür danke ich Ihnen.»
Ferrari merkte, dass er errötete.
«Keine Komplimente! Sonst werde ich noch ganz verlegen.»
«Ich wollte Ihnen noch etwas sagen. Ich habe darüber nachgedacht, wie ich Ihnen helfen könnte. Es gibt da etwas. Vielleicht ist es wichtig.»
«Und das wäre?»
«Vor einigen Wochen hatte Robert Besuch von einem Mann. Es ist wahrscheinlich ein älterer Mann gewesen, Nadine.»
«Wie alt?»
«Das kann ich nicht sagen. Ich habe ihn nur von hinten gesehen. Er stand vor Roberts Tür, als ich vom Einkaufen zurückkam. Etwa so gross wie Sie, Herr Ferrari.»
«Wie kommen Sie darauf, dass es ein älterer Mann gewesen ist?»
«Ich …»
«Keine Sorge Frau Okaz, wir behandeln dieses Gespräch vertraulich.»
«Es war das erste Mal, dass Robert Besuch bekam. Ich habe durch den Türspion geschaut. Aus reiner Neugier. Ich wollte wissen, wer ihn besucht. Sie haben sich aber ziemlich lange unterhalten. Da habe ich die Geduld verloren. Als er dann ging, habe ich meinen Einsatz verpasst. Ich hörte nur noch, wie die Tür zuschlug», sie kicherte wie ein kleines Mädchen. «Dann bin ich zum Fenster gerannt und habe rausgeschaut. Roberts Besucher ging wie ein alter Mann die Strasse entlang. Nicht irgendwie gebückt, eher langsam. Eben halt so, wie sich alte Menschen bewegen. Hilft Ihnen das?»
«Im Augenblick sind wir für jeden Strohhalm dankbar, an den wir uns klammern können. Haben Sie ihn mehrmals gesehen?»
«Nur einmal. Ich habe Robert später darauf angesprochen. Er winkte ab, meinte nur das sei seine Vergangenheit gewesen.»
«Hm. Jemand aus seiner Vergangenheit hat ihn aufgesucht. Jemand, über den er nicht sprechen wollte. Wer könnte das gewesen sein?»
«Ein ehemaliger Gegenspieler!»
Iris Okaz sah Nadine und den Kommissär verständnislos an. Das Essen war hervorragend. Nur auf die Predigt von Vittorio, der ihm bei jedem Gang zu verstehen gab, dass er seine nächtlichen Eskapaden zutiefst missbillige, hätte Ferrari verzichten können. Ganz im Gegensatz zu Nadine, die es sichtlich genoss.