13. Kapitel

Der zweite Tote war ebenfalls erstochen worden. Langsam, aber sicher schwand die Zufallstheorie. Jetzt waren es nur noch zwei … Der Mörder schien offensichtlich darauf aus zu sein, vier Menschen für ihre frühere Tat zu bestrafen. Falsch!, korrigierte sich Ferrari. Von Bestrafung kann keine Rede sein. Was auch immer in der Vergangenheit geschehen war, das hier war auch Mord. Kaltblütiger Mord sogar. Und bisher exakt in der Reihenfolge, wie es Bernhard Meister vorausgesehen hatte. Was wusste der alte Haudegen noch? Mit Sicherheit hatte er ihnen nicht alles erzählt. Nach einer kurzen Mittagspause fuhren sie in brütender Hitze zu Ferraris Vorgänger.

«Oh, hoher Besuch! Das freut mich. Kommt rein und setzt euch zu mir in den Garten.»

Sie folgten Meister durch die Küche hinaus zu einem Tisch ganz hinten am Ende des Gartens.

«Unter dem Baum ist es schön schattig.» Meister setzte sich einen Schlapphut auf, der nicht gerade vorteilhaft war. «Nicht schön, aber zweckmässig.»

Er schenkte den beiden, ohne zu fragen, eine gräulichgelbe Flüssigkeit ein.

«Limonensaft, ohne Alkohol, versteht sich. Das nimmt den Durst.»

Der Kommissär nippte daran.

«Hm, schmeckt gut.»

«Dann wollen wir doch gleich zur Sache kommen. Siehst du, Francesco, ich hatte recht!»

Wie in drei Teufels Namen wusste Meister schon wieder, dass sich ein Mord ereignet hatte? Wer war sein Informant? Oder …

«Der Nächste ist Andreas Richter. Wollen wir darauf wetten?»

«Eine makabre Wette. Ich wette darauf, dass ich den Mörder vorher zur Strecke bringe. Wie wärs damit, Bernie?»

Meister lachte.

«Die Wette gilt! Glaub mir, Francesco, du hast in diesem Mörder deinen Meister gefunden.»

Ferrari blickte irritiert. War das versteckte Wortspiel Absicht? Hatten sie in Meister den Meister gefunden? Wir werden sehen.

«Ein Mann, den ich immer bewundert habe, sagte mir einmal, dass alle Verbrecher irgendwann einen Fehler begehen. Die einen aus Unvorsichtigkeit …»

«… die anderen, weil ihnen das perfekte Verbrechen gelungen ist. Sie machen absichtlich Fehler, um der ganzen Welt zu zeigen, wie genial sie sind.»

«So ist es.»

Ferrari leerte das Glas in einem Zug.

«Wirklich gut.»

Meister schaute ihn fragend an.

«Das Getränk oder der Mörder?»

«Ein Mörder ist nie gut, sondern krank. Unsere Aufgabe ist es, die Gesellschaft vor solchen Krankheiten zu schützen. Und mehr noch, sie auszurotten», brachte sich Nadine ins Gespräch ein.

«Wie genau willst du dies tun? Oder konkreter, wie willst du verhindern, dass die anderen zwei bestraft werden?»

«Ermordet werden!», korrigierte der Kommissär. «Ganz einfach, wir werden sie unter Personenschutz stellen.»

«Mach dich nicht lächerlich, Francesco. Eine Woche vielleicht. Dann werdet ihr zurückgepfiffen. Der Gerechte hat Zeit.»

«Weshalb sind Sie so sicher, dass es sich um einen Mörder handelt und nicht um eine Mörderin?»

«Weil es die Handschrift eines Mannes ist. Eine Frau tötet anders, Nadine. Sie vergiftet ihr Opfer, greift vielleicht zur Pistole oder sticht allenfalls ein Mal zu, aber nicht drei oder vier Mal.»

«Du kannst uns nicht einen kleinen Hinweis auf den Täter geben?»

«Nicht die Bohne!» Er lehnte sich zurück und zupfte ein Blatt vom Baum, mit dem er spielte. «Ich bin nur noch ein alter, verkalkter, pensionierter Kommissär, der sich so einiges zusammenreimt. Mehr nicht.»

«Wie stehst du zu Gregor Hartmann?»

Meister zog die Stirn in Falten.

«Ihr habt ihn tatsächlich aufgesucht? Ein todkranker Mann. Ein armes Schwein, Francesco, niemand kümmert sich um ihn. Nur eine Krankenschwester, die es auf sein Geld abgesehen hat. Er erzählt zwar überall, dass sie nichts erben werde. Da kann ich nur lachen. Im Alter wird man entweder stur, geizig oder senil. Zuweilen auch alles zusammen. Hartmann ist senil geworden. Seine Krankheit hat ihm den Rest gegeben, ihm bleibt nur noch wenig Zeit.»

«Das beantwortet meine Frage nicht. Wie stehst du zu ihm?»

«Du meinst, ob ich noch Kontakt zu ihm habe? Das weisst du doch. Er hat dir sicher erzählt, dass ich ihn über den Tod von Gissler informiert habe. Und vor einer halben Stunde über den von Selm.»

«Was bezweckst du damit?»

«Er soll erfahren, dass die Gerechtigkeit doch noch siegt. Wenn auch spät.»

«Das ist krank!»

«Die ganze Menschheit ist krank, Nadine. Und wenn jemand für Gerechtigkeit sorgt, bin ich auf seiner Seite.»

Ferrari schaute sich im Garten um. Hier war alles so friedlich. Zwei Schmetterlinge flogen um die Wette und in der Astkrone eines Baumes zwitscherte eine Amsel vergnügt vor sich hin. Ein leichter Wind liess die Blätter tanzen. Herrlich. So musste es im Paradies gewesen sein. Wie würde wohl die Gegenwart aussehen, wenn Eva nicht der Versuchung erlegen wäre? Vielleicht gäbe es keinen Streit, keine Feindschaften, keinen Hass, keine Verbrechen, keine Morde. Die Amsel verstummte. Tiere sind anders als wir Menschen. Sie töten zwar auch, aber nur zum Überleben. Liegt des Übels Anfang wirklich im viel zitierten Sündenfall? Oder sind wir eine Fehlgeburt der Natur? Ein Irrläufer, den die Schöpfung so gar nicht vorgesehen hatte?

«Wo waren Sie gestern Nacht, Herr Meister?», holte Nadine den Kommissär wieder in die Realität zurück.

«Bitte nenn mich doch Bernhard oder Bernie.»

«Ja, gern. Wo warst du gestern Nacht, Bernhard?»

«Zuerst habe ich mir etwas gekocht, dann die Talkshow im Schweizer Fernsehen angeschaut. Es ging um das Bankgeheimnis. Ich bin während der Sendung eingeschlafen. Als ich aufwachte, war es bereits ein Uhr.»

«Kann das jemand bezeugen?»

«Nein. Aber das muss auch niemand. Ihr werdet doch nicht einen alten pensionierten Kommissär verdächtigen», fragte Meister mit dem harmlosesten Lächeln der Welt.

«Hm. Noch eine Frage. Nein, noch zwei Fragen. Hast du Kontakt zu Elisabeth Fahrner?»

«Nein.»

«Und zu Anita Brogli?»

«Zu Stiefelchen? Sie ruft mich ein Mal pro Woche an, um zu fragen, wie es mir geht. Die Kleine hat ziemlich Karriere gemacht. War Kommissarin in Chur.»

«War?»

«Sie kann noch immer ihre Gefühle nicht im Zaun halten. Du erinnerst dich sicher noch an den Fall, der ihr in Basel das Genick gebrochen hat. Jetzt ist ihr im Bündnerland etwas Ähnliches passiert. Bei einer Kindesentführung. Sie war der festen Überzeugung, dass sie den richtigen Täter geschnappt hatte. Ich warnte sie eindringlich, riet ihr, sie solle mehr mit dem Verstand und weniger mit dem Herzen an die Sache rangehen. Leider ohne Erfolg. Sie nahm den mutmasslichen Entführer so in die Mangel, dass er einen Zusammenbruch erlitt. Ein Déjà-vu-Erlebnis! Zum Glück starb der Mann dieses Mal nicht. Dank eines Zufalls stellte sich wenig später heraus, dass sie tatsächlich den richtigen Täter erwischt hatte. Das rettete ihr zwar die Ehre, nicht aber den Kopf. Auf politischen Druck hin musste sie zurücktreten.»

«Und wo ist sie jetzt? Und was macht sie?»

«Sie war eine Zeit lang arbeitslos. Seit zwei Monaten ist sie wieder in der Gegend. Aber frag mich nicht, was sie im Augenblick tut.»

«Weisst du es nicht oder willst du es uns nicht sagen?»

«Irgendetwas müsst ihr ja auch noch für euer Geld tun. Ich weiss es aber wirklich nicht, Francesco. Sie ruft mich zwar an und fragt mich, wie es mir geht. Aber sobald ich sie nach ihrer Arbeit frage, weicht sie mir aus. Wahrscheinlich schämt sie sich, dass sie irgendeinen Job annehmen musste, der unter ihrer Würde ist. Ehrlich gesagt, sei jetzt bitte nicht beleidigt, Francesco, hat sie einen besseren kriminalistischen Instinkt als du. Wäre sie nicht gestrauchelt, sässe sie jetzt vor mir, nicht du.»

Das war nichts Neues für Ferrari. Seine Beförderung hatte er letztendlich dem Fehler von Anita Brogli zu verdanken.

«Es läuft eben nicht immer so, wie man es sich vorstellt, Bernie. Danke, dass du Zeit für uns hattest.»

Elisabeth Fahrner, Anita Brogli und Bernhard Meister. Ein Trio infernale, verbunden durch den Tod von Beat Fahrner vor fünfzehn Jahren? Möglich. Verbindungen bestehen heute wie damals und alle haben sie noch eine Rechnung offen. Stellt sich einmal mehr die Frage, weshalb diese erst jetzt beglichen werden soll? War diese Antwort etwa der Schlüssel zur Lösung? Ferraris Gedanken drehten sich im Kreis. Bernhard Meister hatte in einem Punkt mit Sicherheit gelogen.

«Er hat Kontakt zu Elisabeth Fahrner. Sein Nein war ein wenig vorschnell», wandte er sich Nadine zu.

«Das denke ich auch. Gerade viel haben wir ja nicht erfahren. Ich hatte mir mehr erhofft.»

«Meister hat nur das wiedergegeben, was er von einem unserer Leute weiss. Er ist raffiniert, ein Meister eben. Ich bleibe dabei, er weiss mehr, als er uns erzählt. Aber ein Mörder ist er nicht.»

«Ich weiss nicht so recht, meines Erachtens könnte er der Mörder sein. Auf jeden Fall spielt er mit uns. Wir müssen uns unbedingt mehr Informationen beschaffen, Francesco. Sobald wir im Kommissariat sind, nehme ich mir Selm vor. Er hat doch sicher einige Spuren hinterlassen. Jeder hinterlässt welche.»