6. Kapitel

Am folgenden Morgen verliess Ferrari ungewohnt früh das Haus. Im Dorfkern von Birsfelden wartete er in einem Café auf Nadine.

«Scheisstram! Der Trottel von Tramchauffeur ist einfach vor meiner Nase abgefahren. Da musste ich aufs nächste warten.»

«Er hat dir vielleicht angesehen, dass du normalerweise mit einem Porsche rumrast.»

«Ich musste ein Ticket lösen und habe mich bei diesem neuen Automaten vertippt. Das wars. Er hat kurz gebimmelt und weg war das Tram.»

«Er hält nur seinen Fahrplan ein.»

«Na prima. Diese Tramfahrerei geht mir gehörig auf die Nerven.»

Sie fuhren mit einem der gelben Autobusse der Baselland Transport AG nach Füllinsdorf, um den pensionierten Kommissär zu treffen. Bernhard Meister hatte sich in den vergangenen Jahren, es waren sicher fünf Jahre her, seit Ferrari ihm zum letzten Mal begegnet war, praktisch nicht verändert. Nur die üppige Haarpracht, sein Markenzeichen, hatte sich gelichtet, während sich der früher schon vorhandene Bierbauch zu einer veritablen Trommel ausgedehnt hatte.

«Guten Tag, Bernie!»

«Ciao, Francesco. Und Sie müssen Nadine Kupfer sein!» Er reichte ihr die Hand. «Kommt rein. Wollen wir uns in den Garten setzen? Oder ist es euch zu kühl?»

«Garten ist perfekt. Es ist zwar noch früh, aber schon ziemlich warm.»

«Kaffee, etwas Kaltes oder lieber etwas Starkes?»

«Einen Kaffee, bitte.»

«Mir auch, Herr Meister.»

Sie setzten sich an einen runden Tisch im Garten. Hier liess es sich gut leben. Bernhard Meister klimperte in der Küche mit dem Geschirr.

«Soll ich Ihnen helfen?»

«Danke, es geht, Nadine. Ich darf Sie doch so nennen?»

«Ja, natürlich.»

Kurz darauf kam er mit einem Krug Kaffee und einigen Croissants in den Garten.

«Schön haben Sie es hier, Herr Meister.»

«Es gefällt uns. Unsere kleine Zufluchtsstätte.»

«Ist deine Frau nicht zu Hause?»

«Heidi ist mit einigen Freundinnen nach Wien geflogen. Weiberausflug! Da haben wir Männer nichts zu suchen. Das muss auch mal sein. Ich komme die paar Tage gut alleine zurecht. Aber nur einige Tage, dann beginnt das Chaos.»

Francesco musterte seinen Vorgänger. Mehr noch sein grosses Vorbild und das einer ganzen Generation von Ermittlern. Meisters geniale Schachzüge bei der Aufklärung schwieriger Mordfälle waren legendär, ebenso seine brillante Rhetorik. «Wenn ich euch so sehe, dann habe ich das Gefühl, meine Aktivzeit ist gar noch nicht so lange her», sinnierte Meister. «Und doch kommt es mir wie eine kleine Ewigkeit vor.»

«Fehlt dir das Ermitteln nicht?»

Meister überlegte lange, nahm gemächlich einen Schluck Kaffee, bevor er zur Antwort ansetzte.

«Manchmal, wenn ich von einem Fall in der Zeitung lese, juckt es mich in den Fingern. Aber nur kurz. Weisst du, Francesco, jeder Lebensabschnitt hat seine guten Seiten. Das hat der da oben», er zeigte zum Himmel hinauf, «ganz gut eingefädelt. Ich habe zum richtigen Zeitpunkt den Absprung geschafft. Es gibt nichts Schlimmeres, als diesen zu verpassen. Sich an etwas zu klammern, was eigentlich schon Vergangenheit ist. Heidi und ich hatten ein schönes Leben, was heisst hier hatten», korrigierte er sich, «wir haben ein schönes und zufriedenes Leben. Vielleicht, weil wir immer im richtigen Augenblick loslassen konnten, um einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen.»

«Was nicht allen gelingt.»

«Es braucht Mut, doch jedem Anfang wohnt ein Zauber inne. Ich halte es in dieser Beziehung ganz mit Hesse.»

«Wie jede Blüte welkt und jede Jugend dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe, blüht jede Weisheit auch und jede Tugend zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.»

«Ich bin beeindruckt, Francesco. Es lohnt sich, von Zeit zu Zeit aufzubrechen und eine neue Reise anzutreten. Viele Menschen verharren in ihren Gewohnheiten, in ihrer Bequemlichkeit. Mein Nachbar hier rechts um die Ecke», er deutete mit dem Kopf die Richtung an, «der ist inzwischen zweiundachtzig. Jeden Tag fährt er ins Geschäft. Sein Sohn geht auch schon auf die fünfzig zu. Wir hören oft, wie sich die beiden streiten. Aber der Alte kann einfach nicht loslassen. Die junge Generation muss Platz haben, sonst kann sie sich nicht entfalten. Sie muss atmen können.»

«Vielleicht kann er sich mit nichts anderem beschäftigen, hat keine Hobbys oder Interessen.»

«Schon möglich. Wahrscheinlich ist es so. Trotzdem müsste er einen Schritt weiter gehen, Stufe um Stufe. Aber ihr seid sicher nicht hier, um mit mir zu philosophieren, und einen guten Rat, was den Ruhestand angeht, braucht ihr auch erst in einigen Jahren. Und du in einigen Jahrzehnten, Nadine. Dann schau ich mir die Welt von unten an, vielleicht sitze ich auch auf einer Wolke und geniesse die Vogelperspektive. Wer weiss. Es freut mich übrigens, dass ich dich endlich kennenlerne, Nadine.»

Ferrari sah mit Freuden, dass sie errötete.

«Haben Sie denn schon von mir gehört?»

«Aber sicher doch! Wer sich mit Jakob Borer anlegt und wer einen einsamen Wolf wie Francesco an die Kandare nimmt, von dem wird gesprochen. Ausserdem siehst du verdammt gut aus, Mädchen. Eine gefährliche Mischung. Intelligent und attraktiv! Da hört sogar ein altes Schlachtross wie ich die Glocken läuten.»

Nadine lächelte verlegen.

«Pass auf, Nadine. Er ist ein alter Schwerenöter. Zu seiner Zeit war keine Frau im Kommissariat vor ihm sicher.»

«Nur Gerüchte, Nadine! Nichts als Gerüchte. Aber zurück zu eurem Besuchsgrund.»

«Wir möchten uns mit dir über einen deiner Fälle unterhalten.»

«Der Mord an Beat Fahrner», ergänzte Meister.

«Wie kommen Sie gerade auf diesen Fall?»

Meister lachte.

«So ganz weg bin ich halt doch noch nicht, Nadine. Ein Mäuschen hat mir gestern Abend zugeflüstert, dass Arnold Gissler ermordet wurde.»

Ferrari schüttelte irritiert den Kopf.

«Das wussten aber nur ganz wenige.»

«Keine Angst, Francesco, bei mir ist diese Information gut aufgehoben. Ich dachte mir, dass du heute oder spätestens morgen bei mir auftauchen würdest. Das hätte ich nämlich auch als Erstes getan. Und ehrlich gesagt, ich wäre schwer enttäuscht gewesen, wenn ihr nicht gekommen wärt.»

Ferrari musterte den ehemaligen Kommissär amüsiert.

«Es würde mich brennend interessieren, von wem du den Wink bekommen hast. Doch ich vermute, dass du mir das nicht sagen wirst.»

«Sicher nicht, mein Junge. Sonst versiegt meine Quelle, eine von mehreren Lebensquellen.»

«So, so! Nun, da du schon weisst, weshalb wir hier sind, kannst du uns bestimmt auch einiges erzählen.»

Meister lächelte, schmiegte sich in den Sessel, schloss die Augen und überlegte. Jetzt war er in seinem Element, ganz wie früher. Er genoss seine Überlegenheit, zelebrierte seine Antworten.

«Das war einer meiner grössten Reinfälle. Dabei habe ich den Staatsanwalt gewarnt, die Beweislage war äusserst fragwürdig. Aber die Öffentlichkeit wollte einen Prozess. Also gab man der Bevölkerung Brot und Spiele. Das Recht blieb dabei auf der Strecke.»

«Waren die vier schuldig?»

«Ich bin fest davon überzeugt, Nadine. Aber wir hätten mehr Zeit gebraucht, um sie zu kriegen. Die hatten wir nicht. Staatsanwalt Streck drängte auf die Anklage. Der Fall wurde uns praktisch entzogen, bevor die Ermittlungen abgeschlossen waren. All meine Proteste fruchteten nichts. Manchmal denke ich …»

«Was denkst du?»

«Es ist gefährlich, was ich dir jetzt anvertraue, Francesco. Ich habe noch mit niemandem darüber gesprochen. Manchmal denke ich, dass Streck den Prozess bewusst forciert hat. Er war ein alter Fuchs, er wusste ganz genau, dass wir untergehen würden. Und trotzdem wollte er den Prozess durchziehen.»

«Auf Druck der Öffentlichkeit?»

«Vordergründig ja. Ich bin den Fall immer und immer wieder durchgegangen. Ich bin sicher, dass Streck bewusst verloren hat.»

«Das ergibt keinen Sinn.»

«Streck wusste, dass wir kurz vor dem Durchbruch standen. Das wollte er verhindern.»

Ferrari runzelte die Stirn. Die Meinung eines frustrierten Polizisten, dem es nicht gelungen war, einen seiner wichtigsten Fälle zu lösen?

«Glaub mir, Francesco, ich bin nicht gaga. Streck wollte nicht, dass die vier Angeklagten überführt werden.»

«Weshalb nicht?»

«Philippe Stählis Vater war der beste Freund von Alexander Streck. Nur wusste ich dies zu jenem Zeitpunkt nicht. Ich erfuhr es erst sehr viel später. Die beiden verbrachten praktisch jede freie Minute zusammen. Streck hintertrieb meine Ermittlungen, um seinem besten Freund einen Gefallen zu erweisen.»

«Wenn das stimmt …»

«Es stimmt, mein Junge. Ich habe Streck einige Jahre später gestellt und ihn mit meiner Vermutung konfrontiert. Er lachte mich aus. Dann drohte er mir. Aber du hättest die Angst in seinen Augen sehen sollen, Francesco. Dann wüsstest du, dass ich keinen Unsinn erzähle.»

«Diesen Streck, wo finden wir ihn?»

«Auf dem Friedhof Hörnli, ganz in der Nähe vom Grab des alten Stähli.»

«Wahnsinn!»

«Wahnsinn mit Methode könnte man sagen, Nadine. Leider konnte ich nichts beweisen. Es gibt nicht nur weisse Schafe bei der Polizei und bei der Staatsanwaltschaft.»

«Das ist mir schon klar. Bloss sind jetzt alle unter der Erde.»

«Nicht alle. Drei der Täter laufen noch frei rum, Francesco.»

«Kannst du uns etwas genauer schildern, wie das Ganze damals ablief?»

«Die Fakten habt ihr sicher bereits in den Akten eingesehen.»

«Ja. Uns interessiert vor allem, was nicht in den Akten steht», präzisierte Nadine.

«Die Verbindung zwischen Streck und dem alten Stähli habe ich euch schon geschildert. Sinnigerweise war Hartmann der Dritte im Bunde. Ebenfalls ein guter Freund von Streck und Stähli. Er verteidigte alle vier potenziellen Täter, was unüblich ist. Dadurch konnte er eine einheitliche Strategie festlegen.

«Und das wurde von euch zugelassen?»

«Irgendwie ging ich den Fall viel zu naiv an. Aber ich dachte nicht, dass jemand in den eigenen Reihen ein mieses Spiel treibt. Es wurde mir erst nach dem Prozess bewusst. Hartmann hielt alle auf dem Laufenden. Als Selm gestand, wurde dieser so lange von ihm bearbeitet, eine richtige Gehirnwäsche, bis er am Prozess seine Aussage widerrief. Glaubt mir, es war ein gut eingefädelter Komplott, ein abgekartetes Spiel, mit einem alten Idioten als Kommissär, über den sich die Beteiligten den Ranzen voll lachten.»

«Entschuldige, Bernie. Ist das wirklich alles so abgelaufen?»

«Ich schwöre es. Du glaubst sicher, dass ich nur meinen Frust rauslasse, weder sachlich noch objektiv bin. Ich gebe zu, abgeschlossen oder besser gesagt verarbeitet, habe ich diesen Fall noch immer nicht. Wenn ich nur daran denke, läuft bei mir innerlich ein Film ab. Am meisten kaue ich daran, dass mich der Staatsanwalt derart hintergangen hat und dass dieses verdammte Dreckspiel funktionierte. Die alten Fahrners tun mir sehr leid und die Schwester des Ermordeten, die alle Hebel in Bewegung gesetzt hatte, um die vier hinter Schloss und Riegel zu bringen.»

«Glaubst du, dass der Mord an Gissler mit den Vorgängen vor fünfzehn Jahren zusammenhängt?»

Meister dachte lange nach.

«Nein … wahrscheinlich nicht. Weshalb wartet jemand so lange, bis er sich rächt? Das ergibt keinen Sinn.»

«Genau das Gleiche denken wir auch.»

«Wenn aber demnächst noch einer der Viererbande umgebracht wird, Nadine, würde ich meine Meinung revidieren.»

«Mal nicht den Teufel an die Wand, Bernie!»

«Späte Rache gab es schon immer, Francesco.»

«Wer käme dafür in Frage?»

«Eigentlich nicht viele. Am ehesten Fahrners Eltern oder seine Schwester Elisabeth. Ihr würde ich das zutrauen. Ich habe selten einen Menschen gesehen, der so voller Hass gewesen ist.»

«Gab es nach dem Prozess irgendwelche Drohungen?»

«Elisabeth Fahrner sagte vor laufender Kamera, die vier würden ihrem Schicksal nicht entgehen. Wenn es einen gerechten Gott gäbe, würde dieser die Tat sühnen. Fahrners Vater könnte es auch gewesen sein. Aber, wie gesagt, es ist fünfzehn Jahre her. Es gibt keine plausible Erklärung, warum jetzt gerade … Andererseits wäre es nur gerecht, wenn die Täter ihre verdiente Strafe bekämen.»

«Das meinen Sie nicht im Ernst, oder?»

«Aus vollster Überzeugung, Nadine. Die vier haben den jungen Fahrner kaltblütig ermordet. Sie kannten ihn ja nicht einmal. Es war einfach ein Spiel, ein brutales und tödliches Spiel.»

«Kannst du uns die Angeklagten beschreiben, Bernie?»

«Ja, natürlich. Fangen wir mit Arnold Gissler an. Intelligent und sadistisch, ohne eigene Meinung, will immer dabei sein – der Prototyp eines Mitläufers. Macht auf sich aufmerksam, indem er dem Anführer imponiert. Ein ausführendes Organ.»

«Nehmen wir an, die Theorie stimmt und jemand will alle vier umbringen, weshalb erwischt es Gissler zuerst?»

«Weil er sich als Versuchsobjekt hervorragend eignet, Nadine. Für ihn kam es wohl am überraschendsten. Eine gute Wahl, ihn zuerst zur Strecke zu bringen.»

«Wen würdest du anschliessend umbringen?»

«Selm! Ganz eindeutig Robert Selm.»

«Warum?»

«Ein weiterer Mitläufer. Aber einer, der immer auf der Hut ist. Ein vorsichtiger Taktierer. Im Vergleich zu Gissler genau abwägend, ob er mitmachen will oder nicht. Die Hintertüre lässt er offen, damit er bei drohender Gefahr rechtzeitig einen Abgang machen kann. Auf ihn habe ich mich damals eingeschossen und zu Recht. Als ihm klar wurde, dass es keinen Ausweg geben würde, hat er gestanden und die anderen in die Pfanne gehauen. Ich versprach, ihn in ein besonderes Zeugenschutzprogramm aufzunehmen. Garantierte ihm praktisch Straffreiheit, wenn er die anderen ans Messer liefern würde. Das ging so lange gut, bis ihm Hartmann einen besseren Vorschlag unterbreitet oder ihm mehr Angst gemacht hat.»

«Und wie würdest du ihn töten?»

«Spielt das Wie eine Rolle, Francesco? Die Frage ist doch eher, wann der passende Zeitpunkt dafür ist. Da muss ich passen. Aber, das sage ich dir, wenn es den vier an den Kragen geht und der Täter ein Insider ist, dann erwischt es Selm mit Sicherheit als Nächsten.»

«Hm … bist du sicher, dass du nicht der Mörder bist?»

Meister lachte.

«Was habe ich dir zu Beginn deiner Karriere einmal gesagt, Francesco?»

«Versetze dich in den Täter und du bringst ihn zur Strecke.»

«Genau. Und nichts anderes machen wir im Augenblick.»

«Gut. Setzen wir unser Gedankenspiel fort. Zwei sind tot. Wer folgt den beiden?»

«Richter ist jetzt an der Reihe, denn er war die Nummer zwei, Stählis Stellvertreter. Kalt, berechnend, ohne Skrupel. Immer für eine Schandtat bereit und sehr intelligent. Eine starke Persönlichkeit …», Bernhard Meister versank in Gedanken, rührte mechanisch mit einem kleinen Löffel im Kaffee. Nach einer Weile nahm er das Gespräch wieder auf. «Wisst ihr eigentlich, was aus ihnen geworden ist?»

«Wir klären es im Moment ab. Stähli ist Arzt und arbeitet im Kantonsspital, ziemlich erfolgreich. So viel wissen wir schon.»

«Wundert mit nicht. Der Mann ist genial.»

«Weshalb Stähli zu guter Letzt?»

«Er war der Anführer. Eher introvertiert, die Fäden aus dem Hintergrund ziehend. Es dauerte seine Zeit, bis ich dies begriff. Ich dachte zuerst, dass Richter die Gruppe anführe. Aber es war eindeutig Stähli. Sogar aus der Zelle heraus, über den Anwalt, der seine Anweisungen ausführte und die anderen bei der Stange hielt. Ich würde ihn als Letzten umbringen. Einerseits, weil ich mir den fettesten Braten bis zum Schluss aufbewahren möchte. Andererseits …», Meister machte eine Kunstpause, «andererseits, weil es ein Spiel ist.»

«Ein Spiel? Ich verstehe nicht ganz», wunderte sich Nadine.

«Stähli weiss inzwischen, dass es jemand auf ihn abgesehen hat. Der Mörder spielt mit ihm Katz und Maus. Es liegt ihm viel daran, Stähli leiden zu sehen. Tag für Tag. Denn überall sieht Stähli seinen potenziellen, ihm vermutlich unbekannten Mörder. Vielleicht bringt er ihn gar nicht um, sondern treibt ihn gezielt in den Wahnsinn.»

«Nochmals, bist du sicher, dass du Gissler nicht ermordet hast?»

«Wenn es so wäre, würdet ihr mich nicht erwischen. In jedem von uns steckt kriminelle Energie. Wer das ganze Leben lang auf der guten Seite gestanden hat, all die Ungerechtigkeiten mit ansehen, die Machtlosigkeit im Namen des viel gepriesenen Gesetzes spüren musste, der möchte vielleicht für einmal zu den Bösen gehören. Hast du diesen Wunsch noch nie verspürt, Francesco? Sei mal ganz ehrlich.»

Ferrari sass nachdenklich da. Natürlich kannte er diese Gedanken. Graue Schwaden, die leise und meist unbemerkt aufzogen. Die Versuchung des Überlaufens, der Reiz des Bösen … Das Gespräch lief aus dem Ruder, drohte erneut ins Philosophische abzudriften. Was war real? Wurde möglicherweise aus einem Gedankenspiel brutale Realität?

«Ich wäre im Übrigen kein Mörder, Francesco. Sondern ein Richter, der die vier Mörder ihrer gerechten Strafe zuführt. Kennst du den Film ‹Ein Richter sieht rot› mit Michael Douglas?», unterbrach Meister die Stille.

«Bin mir nicht sicher. Sind das die Richter, die im Geheimen Täter verurteilen und umbringen lassen, die durch die Maschen des Gesetzes gefallen sind?»

«Exakt. In unserem Fall müsste es heissen: ‹Ein Polizist sieht rot›. Kommissäre, die in Rente sind, bilden einen geheimen Zirkel. Nehmen alte, ungeklärte Fälle auf und üben Selbstjustiz.»

«Du machst mir Angst, Bernie.»

«Ach was, Francesco. Das ist doch nur ein Spass. Du nimmst noch immer alles zu ernst.»

«Nochmals zurück zu den möglichen Tätern. Wer kommt in Frage?»

«Wie gesagt, die Fahrners, allen voran Elisabeth. Oder es hat nichts mit dem Fall vor fünfzehn Jahren zu tun und Gissler wurde aus anderen Gründen ermordet.»

Ferrari erhob sich. Er trank im Stehen den längst kalt gewordenen Kaffee aus.

«Vielen Dank für deine Zeit, Bernie. Dein Geist hat nichts an Schärfe eingebüsst. Alle Achtung. Es wäre schön, wenn ich das eines Tages von mir auch sagen könnte.»

Meister drückte ihm fest die Hand.

«Es war eine meiner besten Taten, dich als meinen Nachfolger vorzuschlagen, Francesco. Wir sollten uns öfters treffen und fachsimpeln. Das hat mir wirklich gut getan. Besucht mich wieder, wenn ihr mehr in Erfahrung gebracht habt.»

Nadine und der Kommissär unterhielten sich angeregt und stiegen in den erstbesten Bus, den sie erwischten. Prompt fuhren sie in die falsche Richtung.

«Ha! Du benutzt doch andauernd die viel gepriesenen öffentlichen Verkehrsmittel. Dass ich nicht lache. Weshalb haben wir keinen Streifenwagen genommen?»

«Weil ich nicht daran gedacht habe.»

«Na prima. So verlöffeln wir praktisch den halben Tag. Wohin fahren wir jetzt eigentlich?»

«Nach Liestal. Dort lösen wir zwei Bahntickets und fahren zum Bahnhof SBB zurück. Alles halb so wild.»

Es war ein gutes Gefühl, im Zug sitzend die Landschaft an sich vorüberziehen zu lassen. Ferrari gab sich seinen Gedanken hin. Wenn Bernhard Meister recht hatte, müsste die Polizei die anderen drei unter Polizeischutz stellen, falls sie aufgefunden werden konnten. Was ist, wenn Meister selbst etwas mit dem Mord an Gissler zu tun hat? Unsinn! Er hat ein Leben lang für die Gerechtigkeit gekämpft, war stets integer. Über jeden Zweifel erhaben. Da wird er nicht gegen Lebensende die Seite wechseln. Wäre es denn aus seiner Sicht überhaupt ein Wechsel? Will er sein angefangenes Werk einfach vollenden und der Gerechtigkeit endlich zum Sieg verhelfen? Die klaren Gedanken, die präzisen Vorstellungen des alten Mannes beeindruckten und verwirrten den Kommissär zugleich. Hat er sich nur nochmals ins Zeug gelegt, um zu beweisen, dass er noch lange nicht zum alten Eisen gehört?

«Haben wir soeben die Choreografie eines Rachefeldzuges gehört, Francesco?», nahm Nadine den Gesprächsfaden auf.

«Eher die Spinnereien eines pensionierten Kommissärs, der uns imponieren wollte.»

«Diesen Eindruck hatte ich überhaupt nicht. Vielmehr hat er uns überaus glaubwürdig den Ablauf einer zukünftigen Mordserie geschildert.»

«Du denkst wirklich, dass Bernie in den Mord verwickelt ist?»

«Wundern würde es mich nicht. Ich habe ihn beobachtet, als er mit der Aufzählung begann. Zuerst Selm, dann Richter und zum Schluss Stähli. Das hat er sich nicht einfach so aus den Fingern gesogen. Das war genau durchdacht. Keine Improvisation.»

«Das war sein Beruf, Nadine. Und den beherrschte er wirklich gut. Man versetzt sich in den Mörder, spielt den Mordfall oder mögliche Abläufe aus dessen Perspektive durch. Manchmal funktioniert es, und zwar öfters, als du glaubst. Das hat Meister noch immer perfekt drauf, so etwas verlernt man nicht.»

«Wenn es so ist, dann klang es sehr plausibel.»

Ferrari sah zum Fenster hinaus. Felder, Wiesen, Häuser huschten vorbei. Und wenn Nadine recht hat, wenn Meister wirklich hinter dem Mord steckt? Nicht auszudenken … Sobald der Autopsiebericht vorliegt, muss ich ihn nach seinem Alibi fragen.

«Es will mir nicht in den Kopf, dass Bernhard Meister ein Mörder sein könnte», dachte Ferrari laut.

«Er sieht das ganz anders. Er ist ein Rächer im Namen des Gesetzes. Richter und Vollstrecker in einem. Ein Mann, der nach fünfzehn Jahren eine brutale Tat sühnt.»

«Und weshalb hat er so lange gewartet? Das macht doch keinen Sinn. Inzwischen ist er dreiundsiebzig, also nicht mehr der Jüngste. Die vier, nennen wir sie mutmassliche Opfer, sind Mitte dreissig. Ein ungleicher Kampf. Spätestens jetzt, nachdem Gissler tot ist, werden die anderen vorsichtig sein.»

«Vielleicht hat er einen Komplizen oder eine Komplizin.»

«Elisabeth Fahrner?»

«Nicht abwegig. Kannst du dich an die Worte von Borer erinnern?»

«Meister hatte intensiven Kontakt zu den Fahrners.»

«Er sprach sogar von Verbrüderung. Was ist, wenn sie gemeinsam auf dem Rachefeldzug sind?»

«Schön und gut. Bleibt die Frage, wieso gerade jetzt? Du kannst mir sagen, was du willst, aber mit jedem Jahr lässt der Hass nach, wird etwas leiser. Elisabeth Fahrner hätte doch schon längst zugeschlagen und nicht über ein Jahrzehnt auf eine passende Gelegenheit gewartet. Dann noch etwas: Aus welchem Grund würde uns der angebliche Mörder erzählen, in welcher Reihenfolge die Morde geschehen werden?»

«Die Schachpartie ist eröffnet, Francesco. Wir haben ihn aufgesucht, nachdem ein Bauer sein Leben verloren hat. Er verriet uns die Reihenfolge seiner Züge, bis hin zum krönenden Abschluss, der Ermordung von Philippe Stähli, weil er sich absolut sicher fühlt oder um uns in die Irre zu führen.»

«Du spinnst, Nadine! Du hast zu viele Edgar Wallace gesehen.»

«Wer ist Edgar Wallace?»

«Ein Krimiautor … dafür bist du zu jung. Das waren noch Schwarz-Weiss-Filme. … Du siehst Gespenster, Nadine. Bernie ist kein Mörder. Glaub mir.»

Den Nachmittag nutzte Nadine, um so viele Informationen wie möglich zu sammeln. Währenddessen verschanzte sich Ferrari in seinem Büro. Was er genau tat, blieb sein Geheimnis. Die Rede war von Altlasten. Nadine ahnte, dass er noch einigen Bürokram zu erledigen hatte, und liess ihn wohlweislich in Ruhe. Morgen war auch noch ein Tag und die Wahrscheinlichkeit, einen besser gelaunten Chef anzutreffen, um einiges grösser. Bevor Kommissär Ferrari nach Hause fuhr, kaufte er sich die DVD «Ein Richter sieht rot». Wer weiss, vielleicht brachte ihn der Film einen Schritt weiter.