7. Kapitel

«Das habe ich mir einfacher vorgestellt!», platzte Nadine in Ferraris Büro.

«Was hast du dir einfacher vorgestellt?»

«Das mit den Adressen und den Infos über die drei. Ich dachte, ich rufe mal schnell beim Einwohneramt an. Bevölkerungsdienste und Migration wie der Bereich so schön heisst. Die werden mir sicher Auskunft geben. Pustekuchen! Die verkalkten Idioten lamentierten rum. Von wegen Datenschutz und so.»

«Tja, heutzutage sind Beamte vorsichtig. Die Daten könnten in falsche Hände geraten.»

«Ach was. Der Idiot war nur zu bequem, mir die Infos rauszusuchen. Inzwischen habe ich die Daten. Hat zwar länger gedauert, dafür ist es auch einiges mehr.»

«Doch noch übers Einwohneramt?»

«Nicht ganz. Das heisst nur Adresse und so», lachte Nadine. «Toni half mir weiter. Er verfügt über gute Verbindungen. Der Rest ist Betriebsgeheimnis.»

«Toni von der Sitte?»

«Genau der.»

Wenn Noldi wüsste, mit wem seine Nadine verkehrt, während er einsam in den Bergen weilt und vor Kummer in seinem Chalet vergeht.

«Was grinst du so blöd, Francesco?»

«Wie … was … ich meine … willst du dich nicht setzen? Kaffee?»

«Kaffee schon, bloss nicht aus deiner Thermoskanne. Der ist sicher schon einige Tage alt.»

«Ganz frisch … ich schwörs.»

«Nein, danke. Ich hole mir einen am Automaten. Du kannst inzwischen einen Blick auf meine Notizen werfen, sofern du meine Kralle lesen kannst.»

Ferrari schenkte sich demonstrativ einen aus seinem Thermoskrug ein, trank einen Schluck und verzog das Gesicht. Gut war anders. Definitiv. Mit dem Vorsatz, sich nichts anmerken zu lassen, vertiefte er sich in Nadines Unterlagen.

«Hier, ich habe dir auch einen mitgebracht. Du kannst ja doch nicht zugeben, dass dein Kaffee eine kalte, ungeniessbare Brühe ist.»

«Danke. So schlecht ist er gar nicht.»

Nadine lachte. Irgendwie mochte sie Ferraris Sturheit.

«Also, beginnen wir mit dem Toten. Arnold Gissler war ziemlich intelligent gemäss den Zeugnissen, die wir bei ihm gefunden haben. Immer ganz vorne. Aber letztendlich hat er nichts daraus gemacht.»

«Hat sich Peter schon gemeldet?»

«Der Autopsiebericht liegt …», Nadine schob eine leere Tüte zur Seite, «… hier unter deinen Croissant-Krümeln. Der Tote ist Gissler. Peter konnte einen Vergleich mit seinen Zähnen machen.»

«Mit seinen Zähnen?»

«Ja! Hörst du schlecht oder spielst du jetzt wieder mein Echo? Zurück zu den Zähnen. Die Spurensicherung fand bei Gissler eine Zahnarztrechnung. Anscheinend hatte er ziemlichen Nachholbedarf. Peter liess beim Zahnarzt ein Gipsmodell holen. Das passt perfekt zum Toten, also einwandfrei Gissler.»

«Du meinst mit achtundneunzigprozentiger Wahrscheinlichkeit.»

«So in etwa. Ganz klar mit vier Messerstichen umgebracht. Drei davon hätte er überlebt. Doch einer hat voll ins Herz getroffen.»

Der Kommissär blätterte die Unterlagen durch. Wirklich, Arnold Gissler hatte in jeder Schulstufe sehr gute Noten und ein abgeschlossenes Germanistikstudium.

«Lic. phil. Arnold Gissler!», sagte Ferrari anerkennend.

«Ja, nur gearbeitet hat er als Lagerist.»

«Eigenartig. Habt ihr irgendwelche privaten Aufzeichnungen gefunden? Ein Tagebuch vielleicht? Briefe? Ansichtskarten?»

«Nichts. Aber auch wirklich gar nichts. Nur diese Zeugnisse, einen Ordner mit Rechnungen und seine letzte Steuererklärung. Das lag fein säuberlich mit seinen amtlichen Dokumenten in einem Sideboard. Der hatte anscheinend überhaupt kein Privatleben. Keine Anzeichen von Freunden oder von einer Freundin.»

«Wie stehts mit seiner Familie? Eltern, Geschwister?»

«Kein Fotoalbum, keine Briefe, einfach nichts. Toni hat ein wenig nachgeforscht. Vater unbekannt, die Mutter ist vor zwei Jahren gestorben. Gissler war ein Einzelkind.»

«Das ist aber lieb von Toni.»

«Ha, ha! Toni ist eben charmant und hilfsbereit. Wäre da mehr, würde ich es dir zuletzt verraten.»

«So, so. Was ist mit den anderen Mietern?»

«Für die Nachbarn war er der ruhige Mitbewohner, der nie negativ auffiel, sich peinlich genau an die Hausordnung hielt. Zuvorkommend, höflich, fast schon die gute Seele des Hauses. Wenn es im Haus Streit gab, schlichtete er. Die anderen Mieter, bis jetzt konnten nur zwei der drei von den Kollegen befragt werden, dachten, dass er weggefahren sei. Der Mieter in der Dachwohnung, ein Spanier, macht zurzeit Ferien. Dieses Haus ist ein einziges Männerwohnheim!»

«Männerwohnheim?»

«Vier Etagen, vier berufstätige Männer und alle wohnen in Dreizimmerwohnungen. Schon ein wenig ungewöhnlich, dass keine einzige Frau im Haus wohnt.»

«Wem gehört es?»

«Dem Spanier. Er hat an der Güterstrasse einen Lebensmittelladen. Der ist wegen Betriebsferien geschlossen. Also stimmt das mit den Ferien.»

«Hast du auch in der Firma von Gissler nachgefragt?»

«Das gleiche Lied. Sein Chef war voll des Lobes. Er wollte ihn längst zu seinem Stellvertreter befördern. Gissler hatte dankend abgelehnt. Als der Chef sanft Druck ausübte, kündigte er.»

«Wann war das?»

«Vor zwei Jahren. Erst, als der Chef ihm hoch und heilig versprach, das Thema nie mehr auf den Tisch zu bringen, zog er die Kündigung zurück. Interessant ist, dass sein Boss danach den Gedanken verwarf, einen Stellvertreter einzusetzen. In der Folge übernahm Gissler diese Funktion unaufgefordert dank seiner natürlichen Autorität. Für alle im Betrieb war er die unbestrittene Nummer zwei. Nicht de jure, aber de facto. Wenn der Inhaber in die Ferien fuhr, überliess er seine Firma dem Schicksal. Gissler leitete den Betrieb ganz selbstverständlich.»

«Komischer Typ.»

«Die Kolleginnen und Kollegen loben ihn über den grünen Klee. Kein einziger, der etwas an ihm auszusetzen hat. Der Saubermann und ideale Kollege in einem.»

«Irgendjemand hatte aber trotzdem etwas gegen ihn. Wann wurde er ermordet?»

«Die Tatzeit ist nicht genau zu definieren. Peter meint, der Zustand der Leiche deute daraufhin, dass er etwa zehn Tage tot ist. Sicher ist er nicht. Die Wärme hat den Verfall beschleunigt. Du hast ihn ja gesehen.»

«Ich darf gar nicht daran denken!»

«Entweder Freitagabend oder Samstagvormittag vor einer Woche. Vermutlich Freitagabend. Am Morgen bringt man niemanden um.»

«So, so! Du musst es ja wissen.»

Ferrari nahm sich das nächste Notizblatt vor. Andreas Richter war verheiratet, Vater einer fünfjährigen Tochter und wohnte mit seiner Familie in der Pilgerstrasse.

«Wo ist die Pilgerstrasse, Nadine?»

«Für einen absoluten Basel-Kenner hast du aber wenig Ahnung, mein Lieber.»

«Danke, also wo?»

«Eine Querstrasse der Missionsstrasse. Wenn du mit dem Dreier vom Spalentor Richtung Burgfelderplatz fährst, kommst du zur Haltestelle Pilgerstrasse. Ziemlich genau in der Mitte der Missionsstrasse.»

«Ach, die kleine Strasse links hoch. An der Ecke ist ein Secondhand-Kleiderladen.»

«Das weiss ich nun wiederum nicht. Wenn du vor dem Sportmuseum stehst, die Strasse rauf.»

«Sag ich doch. Alles klar.»

Ferrari vertiefte sich erneut in Nadines Notizen. Andreas Richter war Leiter einer karitativen Stiftung, die sich zum Ziel gesetzt hatte, älteren Menschen zu helfen. Einige Male hatte er sich mit der Regierung in Basel angelegt, wobei er von der Presse kräftig unterstützt wurde.

«Dieser Richter scheint die Interessen der älteren Leute recht gut zu vertreten.»

«Tonis Informant schwärmt in den höchsten Tönen von Richter. Übrigens, Dr. Andreas Richter, ein Akademiker. Keine Skandale, absolut bester Leumund. Noch nie mit dem Gesetz in Konflikt geraten.»

«Ausser damals …»

«Richtig. Ich korrigiere mich, danach nie mehr. Ich habe mich noch bei den Grauen Panthern über ihn erkundigt. War so eine Eingebung von mir, alte Menschen gleich Graue Panther. Logisch und ein Volltreffer. Die wollen ihn als neuen Präsidenten. Der jetzige Präsident, ein distinguierter, älterer Herr um die achtzig schwärmte in den höchsten Tönen von Richter. Er habe mehr für die alten Leute in der Region getan als alle Altersvereinigungen zusammen. Du musst wissen, Francesco, dass sich die Altersvereine bös in den Haaren liegen.»

«Alterssturheit.»

«Jeder kocht sein eigenes Süppchen. Nur in einem Punkt sind sich die Tattergreise einig, mit Andreas Richter würden sie vereint marschieren. Aber das will er auch nicht.»

«Noch einer, der sich verweigert.»

«Ich verstehe nicht?»

«Gissler wollte nicht Stellvertreter werden, Richter weigert sich, Präsident der Grauen Panther und der VAVBA zu werden.»

«VAVBA?»

«Vereinigte Altersvereine Basel. Klingt doch gut. Oder?»

Nadine schmunzelte.

«Ja, das will er nicht. Du solltest ihm den Namen vorschlagen. Vielleicht hat er nur keinen Namen für seinen Verein.»

«Er ist der dritte.»

«Du sprichst in Rätseln, Francesco. Geht es etwas präziser?»

«Ich meine, Andreas Richter wird als dritter ermordet. Ihr jungen Leute könnt einfach nicht so schnell denken», stichelte der Kommissär.

«Schon gut … Bitte keine Grundsatzdiskussion übers Alter. Ich stimme dir zu, sofern Bernhard Meister der Mörder ist.»

«Wovon du überzeugt bist, Nadine.»

«Sagen wir es so: Ich bin überzeugt davon, dass Meister in der Sache drin hängt. Ziemlich tief sogar.»

«Er weiss mehr, als er uns gestern erzählt hat. Aber nach wie vor bleibe ich dabei, mein Vorgänger ist kein Mörder.»

«Kein Mörder, nur ein Mann, der Schicksal spielt.»

«Hm!»

Der Kommissär vertiefte sich in die Notizen über Robert Selm.

«Der gibt nicht viel her, Nadine.»

«Noch so ein Einzelgänger. Niemand weiss etwas über ihn, keiner sorgt sich um ihn. Ich habe lange gebraucht, um seine Adresse rauszubekommen. Er lebt bei einer Schlummermutter in der Allschwilerstrasse. Sie putzt, bügelt und kocht für ihn. Aber die weiss auch nichts, nicht einmal, wo er arbeitet. Immerhin scheint er ebenfalls ein Biedermann zu sein.»

«Keine Freunde? Eine Freundin?»

«Nein. Einzig an der Uni konnten wir rausbekommen, dass er ebenfalls studiert hat. Abgeschlossenes Jurastudium. Was er danach aber trieb und vor allem, was er heute macht, steht in den Sternen.»

«Arbeitslos?»

«Nein, alles andere als arbeitslos.»

«Woher kommt nun diese Weisheit?»

«Wenn einer dreihundertfünfzigtausend Franken Einkommen versteuert, würde ich ihn nicht als arbeitslos bezeichnen.»

Ferrari schaute überrascht von den Notizen auf.

«Und das ohne geregelte Arbeit?»

«Er ist selbstständig erwerbend. Die Steuerverwaltung zeigte sich einigermassen kooperativ. Allerdings wollen sie noch eine offizielle Bescheinigung von der Staatsanwaltschaft, dass wir gegen ihn ermitteln. Dann kriegen wir alle Unterlagen.»

«Du hast denen gesagt, dass wir gegen ihn ermitteln?», krächzte der Kommissär.

«Ich musste doch etwas sagen. Hallo! Willkommen in der Realität. Oder glaubst du, dass die nur auf Anrufe warten, um ihre Daten unter die Leute zu bringen?»

«Hm. Wie sieht die familiäre Situation aus?»

«Ebenfalls ein Einzelkind wie Gissler. Aber die Eltern leben noch, sind vor Jahren nach Menorca ausgewandert.»

«Woher weisst du das?»

«Von der AHV. Die überweisen die monatliche Rente nach San Xoriguer, ein kleines Nest am Meer.»

Fehlte nur noch Philippe Stähli. Ferrari war sehr gespannt, was Nadine über den Kopf der Viererbande herausgefunden hatte. Philippe Stähli wohnte in Riehen, war verheiratet und Vater zweier Kinder. Medizinstudium wie sein Vater und Grossvater. Abschluss mit höchster Auszeichnung und einer von der Fachwelt überschwänglich gelobten Dissertation über die Früherkennung von Brustkrebs. Ein sehr erfolgreicher Arzt im Kantonsspital.

«Er wird der jüngste Chefarzt von Basel, sagt man», ergänzte Nadine. «Eine Koryphäe auf seinem Gebiet. Seine Eltern leben beide nicht mehr und die ältere Schwester ist nach Australien ausgewandert.»

«Über ihn wissen wir am meisten.»

«Das lässt sich leicht erklären. Stähli ist Staatsangestellter und an diese Personaldossiers kommt Toni gut ran.»

«Skandale?»

«Keine Skandale, nicht einmal eine Parkbusse. Alles astrein. Eine Bilderbuchkarriere. Er ist der Vorzeigearzt der Stadt mit einer grossen Anzahl von Privatpatientinnen. Betonung auf Patientinnen, die sich alle von ihm auf Brustkrebs untersuchen lassen.»

«Schwingt da Sarkasmus mit?»

«Nein, ich meine es ernst. Er scheint ein Genie zu sein. Sieht zudem noch gut aus. Also nicht verwunderlich, dass die Patientinnen Schlange stehen. Fürs Kantonsspital übrigens kein schlechtes Geschäft, habe ich mir sagen lassen.»

«Wie das?»

«Er behandelt auch seine Privatpatienten im Kantonsspital. Und das sind nicht wenige. Alle sind erster Klasse versichert. Das bringt dem Spital einiges an Geld ein. Ihm natürlich auch. Eine Win-win-Situation sozusagen.»

«Ist er in irgendwelchen Vereinen?»

«Im Vorstand des Volleyballclubs Riehen. Wahrscheinlich aber nur, weil seine Schwägerin dort spielt. Sonst keine Aktivitäten.»

«Politik?»

«Ist mir nicht bekannt. Bei den anderen drei übrigens auch nicht.»

Ferrari legte seine zum Gebet verschränkten Hände auf Nadines Notizen.

«Wir müssen uns mit den vier, ich meine natürlich drei, einzeln unterhalten. Ist dir bei deinen Ausführungen etwas aufgefallen?»

«Nein … hätte mir was auffallen müssen?»

«Die vier sind klinisch sauber. Ehrenmänner, Stützen der Gesellschaft. Keiner hat sich seit dem Gerichtsfall auch nur das Geringste zu Schulden kommen lassen.»

«Jetzt, wo du es sagst …»

«Mit wem unterhalten wir uns zuerst?»

«Mit Selm. Er ist gemäss Bernhard Meister das nächste Opfer. Dann Richter und zum Schluss Stähli. Der ist dann deine Kragenweite. Schickimicki und so.»

Ferrari wusste ganz genau, worauf Nadine anspielte. Seit der Lösung seines ersten grossen Falls, der sich im Kreise alter Basler Patrizierfamilien abgespielt hatte, verfolgte ihn der Ruf des Schickimicki-Kommissärs. Insbesondere, weil er seitdem über Olivia Vischer, Tochter eines Pharmaindustriellen, direkten Zugang zum «Daig» hatte. Tja, alles hatte seine Schattenseiten. Manchmal war es jedoch ein Vorteil, sich in diesen Kreisen bewegen zu können. Allein die Erwähnung eines Namens, am besten ganz beiläufig, öffnete verschlossene Türen und ungeahnte Möglichkeiten. Trotzdem ärgerte er sich über die süffisanten Bemerkungen seiner Kollegen. Na wartet!

«Gut. Dann gehen wir auf die Pirsch. In genau der Reihenfolge, die du vorgeschlagen hast. Und das mit dem Schickimicki-Kommissär kriegst du hundert Mal, was sage ich, tausend Mal zurück. Ich muss noch kurz was erledigen, wir sehen uns in einer Viertelstunde.»

Nadine schlenderte pfeifend aus dem Raum, der Faust, die Ferrari drohend erhob, schenkte sie keinerlei Beachtung.

Bevor Ferrari mit Nadine das Kommissariat verliess, folgte er einer Eingebung. Er klopfte ans Büro des Staatsanwalts und trat ein.

«Darf ich reinkommen, Herr Staatsanwalt?»

«Ah! Sie sind es, Ferrari. Das passt jetzt ganz schlecht, ich wollte soeben weg. Wenn es nicht zu lange dauert …»

«Nur eine Minute.»

Bevor es sich Jakob Borer anders überlegen konnte, setzte sich Ferrari auf einen Stuhl.

«Nehmen Sie nur Platz», brummte Borer.

«Danke, das habe ich bereits. Wie gesagt, ich will Ihre Zeit nicht lange in Anspruch nehmen. Ich komme gleich zur Sache. Was können Sie mir über Ihren ehemaligen Kollegen Alexander Streck sagen?»

«Streck?», wiederholte Borer misstrauisch. «Weshalb interessieren Sie sich für den Kollegen Streck, Ferrari?»

«Der Name fiel in Zusammenhang mit dem Mordfall Arnold Gissler.»

«Hm. Ich hatte nur dieses eine Mal mit ihm zu tun, im unsäglichen Fall Fahrner. Ich kannte Kollege Streck nicht besonders gut.»

«Kommen Sie, Herr Staatsanwalt. Sie sind ein schlechter Lügner. Sie verschweigen mir doch etwas.»

Der Staatsanwalt spielte mit seinem Kugelschreiber.

«Streck … man munkelte da so einiges … nichts Konkretes.»

«Wo Rauch ist, brennt meistens auch ein kleines Feuer.»

Borer sah sich wie ein Verschwörer um.

«Aber es bleibt unter uns, Ferrari!», flüsterte er. «Versprochen?»

«Mein Ehrenwort!»

«Bei diesem Prozess damals mit den vier jungen Leuten soll nicht alles mit rechten Dingen zu- und hergegangen sein. Sie müssen wissen, dass Streck mit dem Vater des einen Jungen befreundet gewesen ist.»

«Stähli.»

«Das wissen Sie? Weshalb fragen Sie dann?»

«Mehr weiss ich leider nicht.»

«Die klebten anscheinend wie siamesische Zwillinge aneinander. Böse Zungen behaupten, dass Streck mich und Ihren Vorgänger voll verarscht habe. Entschuldigen Sie diese harte Bezeichnung, aber ich kann es nicht treffender formulieren. Mehr noch, er habe sogar die polizeilichen Ermittlungen behindert. Einzig und allein mit dem Ziel, den Prozess zu verlieren. Da gibt es noch etwas …»

«Jetzt bin ich aber gespannt», der Kommissär duckte sich instinktiv.

Jakob Borer stand auf und setzte sich auf die Tischkante.

«Die Akten, Ferrari, ein Teil der Prozessakten sind auf unerklärliche Weise verschwunden.»

«Das ist höchst interessant. Woher wissen Sie das?»

«Na ja, damals war ich noch jung. Mit der Niederlage konnte ich mich nicht abfinden. Ich verliere nicht gerne! Nach dem Prozess bin ich ins Archiv gegangen, um mir die Akten nochmals vorzunehmen. Einzelne Akten waren verschwunden. Ich dachte zuerst, dass sie vielleicht noch bei Streck lägen. Als er dann in Pension ging, liess ich mir die gesamten Akten bringen. Aber es fehlten noch immer einzelne Teile.»

«Und welche?»

«Einige der Einvernahmen, die Bernhard Meister gemacht hat.»

«Das haben Sie sicher dem zuständigen Regierungsrat gemeldet.»

«Wo denken Sie hin! Ich liess die Akten zurückbringen. Es hat sich niemand mehr für den Fall interessiert. Weshalb sollte ich schlafende Hunde wecken?»

Genau. Weshalb solltest du dich in die Nesseln setzen, dachte Ferrari. Einen Kollegen im Nachhinein in die Pfanne hauen, brachte sowieso nichts. Und als Kollegenschwein dazustehen, war für die Karriere nun auch nicht gerade förderlich.

«Meister wollte den Fall wieder aufrollen. Ich habe ihm davon abgeraten», ergänzte Borer.

«Obwohl Sie wussten, dass etwas faul war?»

«Meister stand kurz vor der Pensionierung. Die Polizei stand im Kreuzfeuer der Kritik. Ebenso die Staatsanwaltschaft. Das war nicht der Moment, um Öl aufs Feuer zu giessen.»

«Wer wurde eigentlich Strecks Nachfolger?»

«Sebastian Kolb, der jetzige Erste Staatsanwalt. Und, um gleich Ihre nächste Frage zu beantworten, ich habe Kolbs Posten bekommen.»

«Dann hat sich Ihr Schweigen ja bestens bezahlt gemacht.»

«Was erlauben Sie sich?!», polterte Borer.

«Wie würden Sie es denn sonst nennen?»

Der Staatsanwalt wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiss von der Stirn. Die nächsten Sekunden wird er über eine mögliche Antwort nachdenken. Er nahm eine Auszeit, wie er selbst zu formulieren pflegte. Ferrari liess ihn nicht aus den Augen. Was kommt noch alles zum Vorschein? Ein karrierebesessener junger Staatsanwalt, der weiss, dass etwas faul ist, aber nicht den Mut hat, die vorgesetzte Behörde zu informieren. Ein alternder Kommissär, der weiss, dass man ihn als Marionette missbraucht, aber nicht mehr die Kraft aufbringt, gegen Windmühlen zu kämpfen. Er streicht die Segel, lässt sich frühzeitig pensionieren. Eine Männerfreundschaft zwischen einem Anwalt, einem Arzt und dem Ersten Staatsanwalt, die alle drei das gleiche Ziel verfolgen: vier Mörder zu decken. Was ihnen allem Anschein nach auch gelungen war. So viel zu unserem Justizsystem.

«Was sollte ich denn Ihrer Meinung nach unternehmen, Ferrari?», hörte der Kommissär den Staatsanwalt lamentieren. «Mich gegen den Ersten Staatsanwalt stellen, gegen Hartmann und Stähli? Nein, mein Lieber! Und alles anhand einer wackligen Beweislage, auf Hypothesen aufgebaut, nein, nicht einmal das – auf reiner Spekulation. Es gab keine Beweise dafür, dass Streck ein falsches Spiel gespielt hat.»

«Aber Sie sind überzeugt davon, dass der Prozess von Streck bewusst sabotiert wurde.»

«Harte Worte … sabotiert … also … unter uns», flüsterte Borer. «Streck hat den Prozess bewusst verloren, um den jungen Stähli rauszuhauen. Ja, davon bin ich überzeugt.»

«Klare Worte, Herr Staatsanwalt. Vielen Dank für Ihre Offenheit.»

«Das bleibt aber in diesem Raum, wie besprochen … Ferrari, ich warne Sie …»

«Sie können sich auf mich verlassen. Noch eine letzte Frage. Kennen Sie auch den Verteidiger der vier?»

«Ja sicher, Gregor Hartmann. Wir sind zusammen in der gleichen Rotary-Sektion.»

«Was können Sie mir über ihn erzählen?»

«Ein ausgezeichneter Strafverteidiger. Ich bin froh, dass ich nie gegen ihn antreten musste.»

«Ich werde Herrn Hartmann einen Besuch abstatten», entschied Ferrari.

«Wenn er Sie überhaupt empfängt.»

«Wenn nicht, dann laden wir ihn vor.»

«Das wird ihn kaum beeindrucken. Gregor ist unheilbar erkrankt. Die Ärzte geben ihm keine sechs Monate mehr.»

«Ist er im Spital?»

«Nein. Er will die ihm verbleibende Zeit zu Hause verbringen. Eine Krankenschwester pflegt ihn. Sie sollten es auf die sanfte Tour bei ihm versuchen, wenn ich Ihnen einen gut gemeinten Rat geben darf. Wenn Sie Druck ausüben, wird er starrköpfig.»

«Weshalb sind Sie so gut über Hartmann informiert, Herr Staatsanwalt?»

«Wir hatten gestern Abend einen Rotarier-Treff. Gregor fehlt praktisch nie. Dr. Sommer von der juristischen Fakultät hat ihn entschuldigt und dann langatmig erzählt, wie schlecht es Gregor geht. Schon seit Monaten. Das war beinahe ein Nachruf. Ich persönlich habe keinen Kontakt zu ihm, falls Sie das meinen.»

«Nochmals danke, Herr Staatsanwalt. Sie waren mir eine grosse Hilfe.»

«Keine Ursache. Halten Sie mich bitte auf dem Laufenden, Ferrari. Und finden Sie den Mörder, bevor noch Schlimmeres passiert.»

Nadine wartete bereits ungeduldig am Ausgang.

«Noch ein kleines Nickerchen gemacht?»

«Nein. Einen Abstecher zum Staatsanwalt. Er hat mir einiges ins Ohr geflüstert.»

Nadine hörte gespannt zu.

«Borer hat den gleichen Verdacht wie Meister. Interessant. Ich habe den Kerl vom ersten Augenblick an richtig eingeschätzt.»

«Wen meinst du?»

«Borer natürlich! Ein karrieresüchtiges, kleinkariertes Arschloch. Ohne Mumm in den Knochen. Oder hättest du wegen deiner Karriere auch alles vertuscht, Francesco?»

«Schwierig zu sagen. Zum Glück bin ich noch nie in eine solche Situation geraten.»

«Blödsinn! Du würdest den Stier bei den Hörnern packen und alles in Bewegung setzen, damit der Skandal auffliegt. Also hör gefälligst auf, dich vor Borer zu stellen! Er ist und bleibt eine Flasche. Ich habe es mir übrigens anders überlegt.»

«Was anders? Du sprichst in Rätseln.»

«Ich bin dafür, dass wir zuerst Stähli einen Besuch abstatten. Er war der Kopf der Bande. Wenn wir die anderen aufsuchen, rufen sie ihn an. Dann ist er gewappnet und kann sich seine Antworten zusammenbasteln. Was hältst du davon?»

Ferraris Begeisterung hielt sich in engen, sehr engen Grenzen.

«Ein bisschen mehr Enthusiasmus ist nicht verboten, Francesco.»

Der Kommissär blieb beim Heuwaage-Denkmal stehen.

«Kein gutes Omen, Francesco!»

Er schaute sie fragend an.

«Hier haben wir uns bei einem Fall total gezankt. Kannst du dich nicht mehr daran erinnern?»

«Die Devils!»

«Genau hier sind die Fetzen geflogen. Vielleicht sollten wir die Strasse überqueren.»

Was solls, dachte Ferrari. Vielleicht ist es richtig, wenn wir uns zuerst einmal mit dem Anführer unterhalten. Du wirst alt, mein Lieber! Sonst hättest du nicht das Bedürfnis, dich auf den Besuch beim Arzt vorzubereiten. Früher warst du spontaner. Noch ein, zwei Jahre und Nadine übernimmt das Kommando und du läufst wie ein Dackel hinter ihr her.

«Na, was ist jetzt? Richter, Selm oder Stähli?»

«Stähli!», beschloss Ferrari und trottete hinter Nadine her.