11. Kapitel

Ferrari meldete sich am nächsten Vormittag bei der Zentrale ab und rief Nadine übers Handy an. Ein Umstand, der sie geradezu schockierte, dachte sie doch, es sei ein weiterer Mord passiert. Weshalb sonst würde Francesco zum mobilen Telefon greifen? Der Grund war ein anderer. Der Kommissär hatte unter der Dusche spontan entschieden, Gregor Hartmann aufzusuchen. Ein kurzer Anruf genügte, um ihn zu verständigen. Überrascht klang er nicht, vielmehr schien er darauf gewartet zu haben. Nadine traf einen leicht verkaterten Kommissär beim St. Jakob-Park. Die Fahrt mit dem Uraltmodell der Basler Verkehrsbetriebe bekam Ferraris Kopfschmerzen nicht sonderlich. Vermutlich war die eine Flasche Aigle rouge des Guten zu viel gewesen … Der Buschauffeur schien seinen Beruf zu lieben, er raste wie ein Formel-1-Pilot den Stich vom St. Jakob-Park zum Dreispitz hoch, wo Ferrari und Nadine in den Elfer nach Reinach umstiegen.

«Die spinnen mit ihren alten Kisten! In so einem Bus bin ich zum letzten Mal in Bukarest gefahren. Vermutlich ist schon Munatius Plancus mit solch einem Gefährt in die Schlacht gezogen. Mir brummt der Schädel!»

«Hm.»

«Was hm?! Ich habe mir eben den Kopf an der Scheibe angeschlagen. Und weshalb stehen wir uns hier die Beine in den Leib? Der halbe Wagen ist leer. Setzen wir uns doch einfach hin», polterte der Kommissär wütend, denn sein Platz war besetzt und die alte Dame machte keinerlei Anstalten, das Feld zu räumen. Ganz im Gegenteil. Als er sich ganz nahe neben sie stellte, rollte sie ihm den schwer beladenen Einkaufswagen über den rechten Fuss. Natürlich aus Versehen. Abwarten, wir sehen uns bestimmt wieder. Ich habe vielleicht diese Schlacht verloren, aber noch lange nicht den Krieg …

Nadine und der Kommissär wurden von einer Krankenschwester Mitte oder Ende dreissig ins Wohnzimmer geführt. Der Anwalt sass in einem bequemen Ledersessel und deutete ihnen an, dass sie sich setzen sollten. Gregor Hartmann konnte trotz makelloser Kleidung und gepflegtem Aussehen seine Krankheit nicht verbergen. Eingefallenes, bleiches Gesicht, aus denen ihnen ganz zum Gegensatz dazu messerscharfe, wachsame Augen entgegenblickten.

«Darf ich Ihnen etwas anbieten?» Seine Stimme klang fest und freundlich.

«Einen Kaffee, wenn das nicht zu viele Umstände macht.»

«Das geht allemal. Alice, sei bitte so lieb und bring uns Kaffee. Danke. Und dann bin ich für niemanden zu sprechen, ich möchte mich mit Frau Kupfer und Herrn Ferrari in Ruhe unterhalten.»

Der Kommissär schaute sich um. An den Wänden hingen Werke von Basler Künstlern.

«Ein Peter Baer aus der Anfangszeit.»

«Sie kennen sich mit Kunst aus, Herr Kommissär?»

«Ein wenig. Ich ermittelte mal in der Kunstszene. Da habe ich das eine oder andere mitbekommen. Vor diesem Fall war ich ein absoluter Kunstmuffel. Der Lenz Klotz dort überm Kamin gefällt mir sehr gut.»

Hartmann lächelte milde.

«Es freut mich, mich mit einem kunstinteressierten und sachverständigen Kommissär unterhalten zu können. Wenn Sie wollen, führe ich Sie nach unserem Gespräch durchs Haus und zeige Ihnen meine ganze Sammlung.»

«Das wäre mir eine Ehre.»

«Ich habe übrigens schon viel von Ihnen gehört, Herr Ferrari.»

«Auch etwas Gutes?»

«Vorwiegend!» Er lachte. «Mit einer Ausnahme.»

«Und die wäre?»

«Jakob hat sich im Rotarierclub mehrmals über Sie beschwert oder sagen wir gejammert. Das trifft es eher. Aber das hat mich nur in meinem positiven Urteil über Sie bestärkt. Jakob ist ein brillanter Taktierer, immer auf der Seite der Gewinner. Da passt es ihm natürlich nicht, wenn sein wichtigster Kommissär in Teichen fischt, die tabu sind. Und Sie, meine Liebe, scheinen auch nicht gerade Jakobs beste Freundin zu sein. Betrachten Sie das bitte als Kompliment.»

Alice Schneeberger brachte den Kaffee und schloss diskret die Tür.

«Sie kümmert sich rührend um mich. Einige meiner Freunde glauben, dass sie auf mein Erbe scharf ist. Das stimmt nicht. Sie weiss, dass sie nichts zu erwarten hat. Trotzdem kümmert sie sich um mich. Als ob ich ihr kranker Vater wäre. Sie könnte leicht eine andere Stelle finden, wo sie unter Gleichaltrigen ist. Aber sie hat sich für die Betreuung eines alten, kranken Mannes entschieden. Können Sie das verstehen?»

«Ich habe in meinem Beruf so viele verschiedene Menschen kennengelernt, dass ich es längst aufgegeben habe, alles verstehen zu wollen. Es ist doch schön, wenn ein junger Mensch ohne Eigennutz einem älteren Menschen hilft.»

«So habe ich mir meinen Lebensabend eigentlich nicht vorgestellt. Ich hatte noch viele Pläne und viele Ideen. Aber anscheinend will Gott es nicht, dass ich diese noch verwirkliche.»

«Darf ich fragen, wie es Ihnen gesundheitlich geht oder möchten Sie nicht darüber reden?»

«Über diesen Punkt bin ich längst hinaus, Frau Kupfer. Ich habe Krebs. Die Ärzte geben mir noch drei bis höchstens sechs Monate. Anfänglich war ich wie vom Blitz getroffen, eine Woche lang zu nichts fähig. Dann raffte ich mich auf. Ich hatte keine Zeit zu verlieren. Seither verbringe ich jeden Tag, wie wenn es mein letzter wäre.»

«Können Sie keine Therapie machen?»

«Der Tumor ist zu weit fortgeschritten. Es wäre nur noch eine Qual. Es ist besser so. Es geht mir gut. Noch komme ich ohne Morphium aus. Aber diese Zeit steht mir bevor. Schneller, als ich es mir wünsche.»

«Seit wann wissen Sie es?»

«Seit fünf Jahren kämpfe ich gegen die Krankheit. Dass ich diesen Kampf verlieren werde, weiss ich seit einem Monat. Es ging immer auf und ab, doch die letzte Chemotherapie brachte nichts. Deshalb entschied ich mich gegen weitere medizinische Massnahmen. Ich will das Ganze nicht unnötig verlängern.»

«Das ist … schrecklich. Es tut mir sehr leid», murmelte Ferrari.

Gregor Hartmann sah den Kommissär mit einem kritischen Blick an.

«Ich sehe, dass Sie es ernst meinen, Herr Kommissär. Ich danke Ihnen für Ihre Anteilnahme. Glauben Sie an das Schicksal?»

«An Gott?»

«Nicht unbedingt. Daran, dass das Schicksal vorbestimmt ist.»

«Ich glaube an eine höhere Macht, die über unser Schicksal wacht.»

«Wissen Sie, als Anwalt habe ich den einen oder anderen Verbrecher vor dem Gefängnis bewahrt, zum Teil hoffnungslose Fälle. Vielleicht ist dies nun meine gerechte Strafe. Als junger Mensch hatte ich viele Träume und hohe Ziele. Ich träumte etwa davon, ein zweiter Perry Mason zu werden. Sie kennen seine Geschichten?»

«Ich habe mir die Fernsehserie mit Raymond Burr in der Hauptrolle immer angeschaut.»

«Wunderbar! Eine Seelenverwandtschaft zwischen uns beiden. Mason war mein Vorbild. Aber die Schweiz ist nicht Amerika und so wurde aus mir nur ein ganz normaler Strafverteidiger mit weniger edlen Fällen.»

«Sie untertreiben! Sie sind ein Staranwalt, wobei Ihr Ruf nicht überall der beste ist.»

«In der Tat, Frau Kupfer!», er lachte, dass ihm die Tränen über die Wangen liefen. «Sie beide sind wirklich eine Bereicherung für mich. Schade, dass wir uns nicht früher kennengelernt haben. Mein Ruf ist tatsächlich nicht der beste, aber gefürchtet. Von der Halbwelt mit Ehrfurcht ausgesprochen. Das ist doch auch etwas und sozusagen eine Lebensversicherung, wenn alle Stricke reissen. Wissen Sie, eine Persönlichkeit polarisiert. Die einen lieben mich, die anderen wünschen mich zur Hölle. Anscheinend haben die Letzteren Gehör gefunden.»

«Wegen einer Ihrer Fälle sind wir jetzt auch hier.»

«Ich weiss, der Fall Fahrner. Arnold Gissler ist tot.»

Ganz Basel schien von diesem Mord zu wissen, obwohl noch kein Sterbenswort durch die Presse ging.

«Sie sind gut informiert. Darf ich fragen von wem?»

«Aber sicher. Bernhard Meister hat es mir mitgeteilt.»

«Meister? In welchem Verhältnis stehen Sie zu ihm? Ich dachte, …»

«… dass wir uns hassen. Voll ins Schwarze getroffen. Bernie rief mich an, um mir mitzuteilen, dass es den ersten erwischt habe. Die anderen würden folgen und am Schluss käme ich an die Reihe. Diesen Zahn habe ich ihm jedoch rasch gezogen. Er war, zumindest, was mich betrifft, nicht auf dem Laufenden. Ob mich der Teufel einen Tag früher oder später holt, ist mir egal.»

Ferrari sass mit offenem Mund da. Das gibt es doch nicht! Mein Vorgänger Meister ruft einen seiner Feinde an, um den Anfang eines späten Siegs zu verkünden.

«Glauben Sie, dass der Mord an Gissler wirklich mit dem damaligen Prozess zu tun hat, Herr Ferrari?»

«Es ist eine These.»

«Die sich mit der nächsten Leiche erhärten wird.»

«Ein weiterer Mord muss unbedingt verhindert werden. Deshalb sind wir auch hier. Hand aufs Herz, sind die vier Angeklagten damals schuldig gewesen?»

«Schuld oder Unschuld – wer entscheidet darüber, Frau Kupfer? Ein menschliches Gericht basierend auf gewissen Moralvorstellungen. Ist ein Präsident, der ein anderes Land aus wirtschaftlichen Interessen annektiert, ein Held oder ein Mörder? Das ist Ansichtssache, eine Frage der Perspektive. Gelingt es ihm, zu überleben und Verbündete zu finden, ist er ein grosser Staatsmann. Denken Sie nur zum Beispiel an Saddam Hussein zurück. Ein Massenmörder. Wen hat das im Westen interessiert, solange er gut Freund gewesen ist. Da war er der gefeierte Held. Erst, als es ihm in den Kopf stieg, als er glaubte, dass ihn nichts und niemand bremsen könnte, verlor er den Westen als Freund. Das war sein Untergang. Sehr dumm von ihm. Der würde noch heute als gehätschelter Diktator im Irak an der Macht sitzen. Also, wer gibt den Moralkodex an? Nicht Gott legt die Regeln fest, sondern wir Menschen. Schuldig oder nicht schuldig, das ist immer die Kernfrage.»

«Im Fall von Beat Fahrner gab es Schuldige.»

«Niemand konnte beweisen, dass meine Klienten die Täter waren. Deshalb galt auch in dubio pro reo.»

«Es gab eine Zeugin und einer Ihrer Klienten hatte die Tat gestanden. Zumindest am Anfang des Prozesses. Später war sich die Zeugin nicht mehr sicher, ob sie einen der Angeklagten erkannt hatte, und der Geständige widerrief seine Aussage.»

«Richtig. Ergo gab es keine Belastungszeugen. Ein Fall, der nur auf Indizien aufgebaut war. Und das Gericht befand diese als unzureichend.»

«Waren und sind Sie von der Unschuld der vier Angeklagten überzeugt?»

«Das ist die falsche Frage, Herr Kommissär. Das Gericht musste die Schuld beweisen, und nicht die Angeklagten ihre Unschuld. Aber ja, ich war von der Unschuld überzeugt.»

«Wie standen Sie persönlich zu den vier?»

«Ich kannte nur Philippe Stähli. Sein Vater, den ich jetzt dann bald wieder im Jenseits treffen werde, war ein guter, ein sehr guter Freund von mir. Er bat mich, die Verteidigung seines Sohnes zu übernehmen.»

«Und die Verteidigung der anderen?»

«Philippe Stähli wünschte es. Er sagte damals, einer für alle, alle für einen.»

«Wie edel!»

«Jetzt werden Sie sarkastisch, Frau Kupfer. Letztendlich war es einer meiner einfachsten Fälle. Der Staat schlug sich selbst.»

«Wie meinen Sie das?»

«Die Ermittlungen waren noch nicht einmal richtig abgeschlossen, als Alexander Streck bereits Anklage erhob. Sie fragen mich jetzt bestimmt, ob das Ganze ein abgekartetes Spiel gewesen ist. Nicht von meiner Seite. Inwieweit Alexander und Justus Stähli einen Deal machten, bleibt ihr Geheimnis.»

«Wo bleibt die Gerechtigkeit?»

«So ist nun mal unser Rechtssystem. Die ethische Grundsatzdiskussion wird woanders geführt. Perry Mason hätte wohl viele meiner Fälle abgelehnt. Doch ich stand mitten in der Realität und seien wir ehrlich, wäre die Welt nur um einen Deut besser geworden?» Hartmann hielt einen kurzen Augenblick inne. «Natürlich verändern sich Ansichten, Ideologien und Visionen im Laufe eines Lebens. Damals hat es unheimlich Spass gemacht, das Recht mit all seinen Schwächen auszuloten. Es war ein faszinierendes Spiel. Damals …»

«Der schwarze Ritter im Kampf für die Verbrecher!»

Hartmann lachte.

«Ihr Humor gefällt mir, Frau Kupfer. Beinahe würde ich sagen, Sie sind nicht weit von mir entfernt. Lassen Sie mich die These aufstellen, dass Sie einen Menschen, den Sie mögen, sagen wir hier unseren Kommissär, selbst dann in Schutz nehmen, wenn Sie ihn für einen Mörder halten.»

«Das ist ganz etwas anderes», Nadines Stimme klang trotzig.

«Wirklich? Wie heissen Sie mit Vornamen, Herr Kommissär?»

«Francesco.»

«Also, würden Sie Ihren Partner Francesco an ein Gericht ausliefern, wenn Sie wüssten, dass er ein Mörder ist?»

«Francesco bringt niemanden um.»

«Das beantwortet meine Frage nicht. Vielleicht handelte er im Affekt oder hatte ein Blackout. Nun, meine Liebe, wie lautet Ihre Antwort?»

«Ich würde ihn nicht ausliefern», flüsterte Nadine.

«Aha! Sie würden ihn also beschützen, sich vor ihn stellen. Und ich vermute, das Gleiche gilt für den Kommissär im umgekehrten Fall. Interessant. Wo bleibt nun die Gerechtigkeit? Alles eine Frage der Perspektive oder anders formuliert: Wenn zwei das Gleiche tun, ist es nicht dasselbe.»

Nadine sah den feixenden, alten Anwalt mit funkelnden Augen an.

«Oh! Sie würden mir jetzt am liebsten an den Kragen gehen. Nur zu, meine Liebe.»

Ferrari gefiel der Verlauf des Gesprächs überhaupt nicht. Er musste das Schiff wieder auf Kurs bringen. Unbedingt.

«Das sind ja nur rein hypothetische Überlegungen. Zurück zu unserem eigentlichen Anliegen. Was können Sie uns über Arnold Gissler erzählen? Hatten Sie noch Kontakt mit ihm?»

«Ja, wir blieben auch nach dem Prozess in Kontakt. Gissler führte ein sinnloses Leben. Ging am Morgen zur Arbeit und am Abend nach Hause. Mehr war da nicht. Wohl die Folge seiner Schuldgefühle.»

«Was nichts anderes heisst, als dass er zusammen mit den anderen Beat Fahrner umgebracht hat. Hatten Sie nicht eben gesagt, Sie wären von der Unschuld überzeugt gewesen?»

«Exakt. War! Damals wusste ich es nicht. Die vier jungen Menschen hatten geschworen, dass sie nichts mit der Sache zu tun hätten … Wie gesagt, ich stand in Kontakt mit Arnold Gissler. Ich war sein einziger Ansprechpartner zur Aussenwelt. Im Laufe der Zeit intensivierte sich unsere Beziehung und Arnold wurde so etwas wie mein Mündel. Als ich ihm in Tranchen erzählte, wie es um mich steht, brach er in Tränen aus. Ich bat ihn, das Ganze nicht so ernst zu nehmen. Ein paar Tage später kam er ziemlich aufgelöst zu mir und gestand, dass sie mich systematisch belogen und Beat Fahrner umgebracht hatten. Nicht mit Absicht. Sie hätten ihn provoziert, beschimpft, geschlagen. Die Situation war rasch ausser Kontrolle geraten. Niemand wollte den jungen Mann ernsthaft verletzen. Jugendlicher Leichtsinn mit tödlichem Ausgang. Furchtbar. Gissler wollte angesichts meines nahen Todes reinen Tisch machen. Er bat mich um Verzeihung.»

«Haben Sie ihm verziehen?»

«Keine einfache Frage. Nein, ich denke nicht. Ich war sehr enttäuscht und habe ihn seit diesem Abend auch nicht mehr gesehen.»

«Wurde der Kontakt von Ihrer Seite abgebrochen?»

«Es war wohl gegenseitig.»

«Sie haben ein eigenartiges Moralempfinden.»

«Finden Sie, Frau Kupfer? Ich werde darüber nachdenken. Wenn mir am Himmelstor Petrus die Frage stellen würde, welcher deiner Klienten hat dich angelogen, dann könnte ich ihm spontan zwei oder drei Namen nennen. Aber niemals hätte ich an Arnold, Robert, Andreas und Philippe gedacht.»

Alice Schneeberger machte sich bemerkbar.

«Denkst du bitte daran, deine Tabletten zu nehmen, Gregor?»

«Danke, Alice. In einigen Minuten. Sobald Frau Kupfer und Herr Ferrari mit ihren Fragen fertig sind.»

Sie lächelte ihm verschmitzt zu.

«Du nimmst die Tabletten, ob du willst oder nicht, ob jetzt oder in ein paar Minuten.»

Sie schloss leise die Türe.

«Ich habe Alice gar nicht verdient. Als klar war, dass ich nicht mehr alleine zurechtkomme, habe ich eine Anzeige aufgegeben. Sie kam ohne Voranmeldung, stand einfach plötzlich da und sagte, dass sie keine Lust habe, sich lange in einem Gespräch zu bewerben. Sie legte mir ihre Zeugnisse auf den Tisch, stellte ihre Forderungen und fragte dann, was ist nun? Ich habe sie am gleichen Tag eingestellt und gebeten, bei mir einzuziehen. Wie sagte Caesar? Veni, vidi, vici. Das war knapp vor einem halben Jahr.»

«Vielleicht ein Engel, ein Geschenk des Himmels.»

Hartmann schmunzelte.

«Eine ungerechte Welt, Frau Kupfer, nicht wahr? Ein alter Gauner erhält am Ende seines Lebens Gesellschaft eines Engels, der ihn in die Hölle führen soll.»

«Oder ins Paradies, wer weiss.»

«Sie gefallen mir, Frau Kupfer. Entschuldigen Sie, dass ich Sie vorhin auf die Palme gebracht habe. Ich konnte dem Gedankenspiel nicht widerstehen. Wie zu meinen besten Zeiten im Gericht.»

«Sie haben mich ganz schön in die Enge getrieben.»

«Eine meiner Stärken. Ich bin ein analytischer Mensch und Sprache hat mich schon immer fasziniert. Kennen Sie den Tractatus logico-philosophicus von Ludwig Wittgenstein?»

«Es geht darum, dem Denken eine Grenze zu ziehen oder vielmehr dem Ausdruck der Gedanken, nicht eigentlich dem Denken selbst. Die Dinge können in verschiedenster Weise verbunden sein und bilden so verschiedene Sachverhalte.»

«Alle Achtung, Herr Kommissär. Und das Bestehen und Nichtbestehen von Sachverhalten ist die Wirklichkeit. Ihre und meine. Wittgensteins philosophische Abhandlung ist einfach wunderbar.» Hartmann blickte auf seine Uhr. «Haben Sie noch weitere Fragen oder wollen wir uns der Kunst zuwenden?»

«Noch eine Frage. Wer hat Arnold Gissler umgebracht und aus welchem Grund?»

«Ich weiss es nicht. Allerdings bin ich für einmal mit Bernhard Meister einer Meinung, Herr Kommissär – die Lösung liegt in der Vergangenheit. Es hängt mit dem damaligen Prozess zusammen und ich bin sicher, weitere Morde werden folgen oder zumindest Mordversuche.»

Die Kunstsammlung von Gregor Hartmann war beachtlich. Von Jean Tinguely bis Samuel Buri gab es nichts, was fehlte. Besonders ein Gemälde hatte es Ferrari angetan, «Basel, Wettsteinbrücke», um 1930, von Irène Zurkinden. Basel, das war die Lebensmitte der Künstlerin. Von dieser Stadt gingen alle ihre Wege aus und hierher kam sie auch immer wieder zurück. Hier versorgte sie den bürgerlichen Geschmack mit sehnsüchtigen Bildern aus dem sinnlichen Paris. Hier zeichnete sie die Fähre über den Rhein, als gäbe es kein anderes Fahrzeug auf dem Fluss. Diese tiefe Liebe zu Basel spiegelte sich in ihrer Kunst und verzauberte den Kommissär. Eine ganz wunderbare Frau und eine aussergewöhnliche Malerin und Zeichnerin, da waren sich die Betrachter einig. Hartmann betonte, dass der Wert der Sammlung nicht gross sei, da es sich nur um Basler Künstler handle. Er habe nie auf die Bedeutung der Sammlung geachtet, sondern immer nur jene Kunst gekauft, die ihm gefiel. Dass das eine oder andere Bild inzwischen einen beachtlichen Wert habe, sei für ihn Nebensache. Ferrari lag es auf den Lippen, zu fragen, wer denn das alles erbe? Aber aus Pietätsgründen hütete er sich davor, diese Frage zu stellen. Der Kommissär wusste, dass Hartmann keine Nachkommen hatte. Alice Schneeberger schied ebenfalls aus, wie er eingangs erklärt hatte. Wer also war als Erbe eingesetzt?

An der Tramhaltestelle hoffte Ferrari inständig, erneut auf die Alte zu treffen. Schliesslich war noch eine Rechnung zu begleichen. Er stieg wie ein Schaffner ganz hinten ein und durchquerte den ganzen Tramzug.

«Was soll das, spinnst du?»

«Ich suche jemanden.»

«Die Alte mit dem Einkaufswagen von vorhin? Ich glaube langsam, dass du einen Knall hast, Francesco. Von mir aus kannst du zig Mal durch das Tram watscheln. Ich setze mich jetzt hier hin. Das ist doch voll peinlich.»

Etwas Unverständliches vor sich hin brummend, setzte er sich neben Nadine.

«Ich hätte zu gerne …»

«Ja, ja! Der private Krieg unter Tramfahrern! In einer Woche kann ich endlich meinen Wagen wieder holen. Dann ist Schluss mit diesem Mist. Weisst du, Hartmann fasziniert mich. Er hat mich mit einigen wenigen Sätzen in die Defensive gedrängt. Das gelingt sonst niemandem so schnell.»

«Ganz fair war sein Verhalten ja nicht. Aber es ist schön, zu wissen, dass ich als Mörder nichts zu befürchten habe.»

«Bild dir nur nichts darauf ein!», zischte Nadine. «Aber du würdest ja das Gleiche für mich tun.»

Zwanzig Minuten später stiegen sie am Barfüsserplatz aus. Als der Elfer an ihnen vorbeirollte, traute Ferrari seinen Augen nicht.

«Das gibts doch nicht!»

Auf seinem Platz sass die alte Dame und winkte ihm lächelnd zu!