3. Kapitel
Nadine und der Kommissär gingen über die Bahnhofspasserelle und den Bahnhofsplatz zurück ins Kriminalkommissariat. Der Weg zum Waaghof war kurz, wie eigentlich meistens. Genau das liebte Ferrari an seiner Stadt, in gut einer halben Stunde konnte man das Zentrum von praktisch überall zu Fuss erreichen. Basel war keine Grossstadt, nein, absolut nicht, und das war auch gut so. Dafür überschaubar, gemütlich und liebenswert.
«Ziemlich viel los heute.»
«Wen wunderts. Ferienzeit ist Reisezeit.»
«Da fällt mir ein, wolltest du nicht mit Noldi nach Rhodos?»
«Tja, Pläne geändert. Noldi ist nach Haute Nendaz gefahren.»
«Ins Wallis? Da ist doch im Sommer nichts los.»
«Seine Eltern haben dort ein Chalet. Ich könne ja nachkommen, wenn ich wolle.»
Ferrari schaute sie von der Seite an. Es hätte ihn brennend interessiert, weshalb sie nicht nach Rhodos geflogen waren.
«Du kannst ja fragen!»
«Ich … ich … wieso seid ihr nicht nach Rhodos geflogen?»
«Das geht dich überhaupt nichts an!»
«Ich habe ja nur … ich meine … du hast mich aufgefordert …»
«Unsinn. Ich wollte nur wissen, ob du wieder einmal deine Nase in meine Angelegenheiten stecken willst. Und prompt bist du darauf reingefallen. Paps wollte heute früh auch wissen, was denn zwischen Noldi und mir schief läuft. Du bist genau gleich wie mein Vater. Zwei neugierige alte Männer!»
Ferrari verzog das Gesicht. Neugierig ja, alt nein! Anscheinend hatte Nationalrat Kupfer bereits sein Fett abbekommen. Jetzt war er an der Reihe.
«Gut, dann eben nicht. Ich habe es nur gut gemeint.»
«Darauf pfeife ich! Ich bin alt genug, um zu wissen, was ich tue. Und wenn Noldi meint, dass er mich in einen goldenen Käfig stecken muss, dann ist er bei mir an die Falsche geraten. Er soll sich doch so eine wie die neue Sekretärin von Borer anlachen. Diese dumme Gans mit ihrem Schlafzimmerblick. Die lässt sich bestimmt gern jeden Wunsch von den Lippen ablesen und von ihrem Märchenprinzen ins Reich der Träume entführen.»
Aha, daher weht der Wind! Habe ich es mir doch gedacht. Noldi ist und bleibt ein ewiger Romantiker. Nur kommt diese Tour bei seiner Angebeteten schlecht an. Die Raubkatze hat also ihre Krallen gezeigt und Noldi eins ausgewischt. Jetzt hockt er in seinem Chalet und leckt seine Wunden.
«Was grinst du so blöd, Francesco!»
Ferrari zog den Kopf ein. Imaginär zeichnete er einen Heiligenschein über seinem Kopf.
«Du und mein Vater! Was glaubt ihr eigentlich?»
Einzelne Passanten blieben stehen und harrten neugierig des Geschehens.
«Ich würde mich nicht wundern, wenn ihr hinter meinem Rücken miteinander telefoniert. Na, Francesco, wie geht es meinem kleinen Mädchen? Passt du auch gut auf sie auf?»
«Also, ich bitte dich, jetzt gehst du zu weit! Ich habe bloss ein oder zwei Mal mit deinem Vater telefoniert …»
«Ha! Jetzt gibst du es auch noch zu. Eine Frechheit! Eine absolute Unverschämtheit! Ihr unterhaltet euch hinter meinem Rücken über mich …»
Nadines Stimme überschlug sich. Sie holte tief Luft, doch bevor sie zu einem nächsten Rundumschlag ausholen konnte, nahm sie die belustigten Gesichter wahr, die gespannt auf eine Fortsetzung warteten.
«Habt ihr nichts Besseres zu tun, als uns anzuglotzen. Na los, zieht Leine!»
Sie ging auf eine junge Frau zu, die sich eilig entfernte. Dann liess Nadine den Kommissär einfach stehen. Keuchend versuchte er sie einzuholen.
«He! Warte … auf … mich, Nadine.»
Erst auf der Höhe des Restaurants «Tapadera» holte er sie ein.
«Peace!»
Ferrari machte das Zeichen der Friedensbewegung. Nadine musste lachen. Sie küsste ihn auf die Wange.
«Ich kann dir einfach nicht böse sein, Francesco.»
Nochmals gut gegangen, dachte der Kommissär. Aber ich werde weiterhin ein Auge auf sie halten. Und vielleicht ist es gar keine schlechte Idee, mich demnächst einmal mit Nationalrat Kupfer zu treffen. Ganz unverbindlich. Einfach so von Mann zu Mann. Oder so.
«Untersteh dich, mit Paps zu sprechen!», zischte sie ihm zu, «und mach den Mund wieder zu. Es zieht. Du solltest doch langsam wissen, dass dein Gesicht Bände spricht.»
«Das war ein Glückstreffer. Ich bin weit herum bekannt für mein Pokerface. He, wieso bist du eigentlich zu Fuss unterwegs? Normalerweise machst du doch keinen Schritt ohne deinen geliebten Porsche.»
«Blechschaden.»
«Blechschaden?»
«Es ist mir so ein Idiot am Aeschenplatz in die Seite gefahren.»
«Du hast dich doch hoffentlich nicht verletzt?»
«Nein, mir geht es gut. Und schau mich nicht so dämlich an. Ich lebe ja noch, wie du siehst.»
«Gott sei Dank! Ist der Wagen in der Garage?»
«Wo denn sonst, auf dem Friedhof vielleicht?»
«Hm!»
«Der Idiot ist mir voll reingeschrammt.»
«Links?»
«Rechts!»
«Rechts?»
«Ja, rechts! Ich dachte, ich kriege noch vor ihm die Kurve. Der Trottel hat den Vortritt erzwungen und mich voll erwischt.»
«Hm!»
«Was hm?! Er hätte nur ein wenig abbremsen müssen. Dann wäre ich an ihm vorbei gewesen. Aber das Arschloch hat vorsätzlich gehandelt.»
«Gibt es Zeugen dafür? Ein Polizeiprotokoll?»
«War wohl nicht nötig», gab sie kleinlaut zu.
«Nicht nötig?»
«Was ist heute eigentlich los, Francesco? Bist du mein Echo? Schluss jetzt. Ich will nicht mehr darüber sprechen.»
Ich schon, dachte Ferrari. Meine schnelle Kollegin wollte also den Vortritt erzwingen. Wie des Öfteren. Nur dieses Mal ohne Erfolg. Einer hatte nicht nachgegeben, und zwar zu Recht. Das Resultat präsentierte sich in Form eines Blechschadens, der wohl eine hübsche Summe kosten wird. Bleibt zu hoffen, dass es ihr eine Lehre sein wird. Na ja …, ihre Miene verriet das pure Gegenteil. Keine Spur von Einsicht oder gar Reue. Was die Hoffnung betrifft, sie stirbt wirklich zuletzt.
Im Büro versuchte Ferrari verzweifelt, die Klimaanlage auszuschalten. Sie arbeitete auf Hochtouren. Lieber schwitze ich mir die Seele aus dem Leib, als hier drinnen im Hochsommer zu erfrieren. Seine technische Begabung reichte für dieses Unterfangen nicht aus. So blieb ihm nichts anderes übrig, als die Fenster zu öffnen. Hämisch dachte er darüber nach, dass die Klimaanlage wahrscheinlich nächstens kollabierte, weil sie mit der Wärme von draussen nicht fertig wurde.
Arnold Gissler … Gissler … was sagt mir nur der Name? Und in welchem Zusammenhang? Mit Sicherheit bestand keine Verbindung zu einem seiner Fälle. Das wäre ihm in Erinnerung geblieben.
Nadine hatte sich ins Archiv begeben, um eine allfällige Akte Gissler zu finden. Besser sie als ich. Der Archivar war kein besonders guter Freund von Ferrari. Er liess ihn oft bewusst auflaufen, verzögerte die Einsichtnahme in Unterlagen. Warum auch immer. Manche Menschen mag man einfach nicht. Wenigstens bestand diese Antipathie auf Gegenseitigkeit. Nadine würde ihn problemlos um den Finger wickeln.
«Spinnst du, Francesco! Mach sofort die Fenster zu.»
«Weshalb?»
«Die Klimaanlage arbeitet auf Hochtouren.»
«Ich finde es so richtig angenehm.»
Nadine schloss die Fenster.
«He, das ist mein Büro!»
«Wenn dir das Klimagerät auf den Wecker geht, kannst du es doch einfach ausschalten.»
«Aha! Und wie das?»
«Hier …» Nadine drückte auf einen Knopf rechts vom Lichtschalter. «Ganz einfach. Wenn du hier draufdrückst, ist die Anlage aus. Und wenn die Anlage an ist, kannst du den Schalter drehen, von Minimal bis Maximal.»
«Ist sie jetzt ganz aus?»
«Ja.»
«Gut, dann kannst du die Fenster wieder öffnen und frische Luft reinlassen.»
Kopfschüttelnd öffnete Nadine die Fenster.
«Du bist ein sturer Bock, Francesco.»
«Danke für das Kompliment.»
«Nur dein Gedächtnis funktioniert nicht mehr richtig. Von Gissler existiert keine Akte.»
«Komisch. Ich hätte schwören können, dass er Dreck am Stecken hat. Trotzdem, der Name kommt mir bekannt vor.»
«Was hingegen wiederum stimmt.»
«Also doch jemand, der schon mit uns zu tun hatte?»
«Kannst du dich an die Fahrner-Tragödie vor fünfzehn Jahren erinnern?»
«Fahrner … Fahrner? Nein, das sagt mir nichts.»
«Ein junger Mann, den man mit inneren Verletzungen in der Augustinergasse fand. Auf dem Weg ins Spital starb er.»
«Ja, genau, jetzt dämmert es mir. Waren da nicht Freunde von ihm mit im Spiel?»
«Gar nicht schlecht, dein Gedächtnis. Angeblich wurde er von vier Gleichaltrigen praktisch zu Tode geprügelt. Allerdings waren es keine Freunde, sie kannten sich nicht.»
«Weshalb haben sie ihn zusammengeschlagen?»
«Grundlos. Heute würde man das wohl ‹Happy Slapping› nennen.»
«Meist jugendliche Angreifer schlagen auf einen Unbekannten ein, filmen es mit dem Handy und stellen es ins Netz oder verbreiten es übers Mobiltelefon.»
«Manchmal überraschst du mich. In einigen Dingen bist du absolut weltfremd, in anderen wiederum auf dem neusten Stand. Chapeau.»
«Schliesslich lese ich Zeitungen und schau mir die ‹Tagesschau› an.»
«Arnold Gissler war einer der vier jungen Leute.» Nadine legte eine Akte auf den Tisch. «Du solltest einen Blick darauf werfen.»
In den folgenden zwei Stunden vertiefte sich der Kommissär in die Gerichtsakten. Am 17. Oktober 1994, um zweiundzwanzig Uhr, wurde die Polizei von Passanten alarmiert. In der Augustinergasse beim Brunnen lag ein bewusstloser junger Mann. Obwohl umgehend ein Rettungswagen aufgeboten wurde, erlag das Opfer noch während des Transports seinen inneren Verletzungen. Geleitet wurden die damaligen Ermittlungen von Ferraris Vorgänger, Kommissär Bernhard Meister, der kurz darauf in Pension gegangen war.
Nach drei Tagen erfolgte ein Zugriff. Robert Selm, einer der vier jungen Männer, wurde verhaftet. Er bestritt die Tat, verwickelte sich aber in immer neue Widersprüche. Meister gelang es nach und nach, die Namen der drei anderen aus ihm herauszulocken, die mit ihm an jenem Abend zusammen waren: Arnold Gissler, Philippe Stähli und Andreas Richter. Die tagelangen Verhöre brachten keine neuen Erkenntnisse, die vier mutmasslichen Täter bestritten alles und gaben sich gegenseitig ein Alibi. Wochen später gelang dennoch der Durchbruch. Das schwächste Glied in der Kette, Robert Selm, gestand die Tat. Sie hätten sich einen Spass daraus gemacht, einen Unbekannten zu verprügeln, aber sie hätten ihn ganz bestimmt nicht töten wollen. Die anderen drei blieben bei ihren Aussagen. Auf Druck der Bevölkerung, vor allem die Eltern und die ältere Schwester von Beat Fahrner mobilisierten die Basler Medien, entschloss sich die Staatsanwaltschaft gegen die Empfehlung des Kommissärs Anklage zu erheben. Bernhard Meister befürchtete nämlich, dass Selms Geständnis nur für dessen Verurteilung reichen würde.
Es wurde einer der grössten Schauprozesse der Stadt. Medienleute aus ganz Europa berichteten darüber. Bei Prozessbeginn widerrief Robert Selm durch seinen Anwalt, Dr. Gregor Hartmann, seine Aussage. Er sei zu diesem Zeitpunkt von der Polizei derart unter Druck gesetzt worden, dass er gestanden habe, um endlich in Ruhe gelassen zu werden. Der Prozess wurde daraufhin zur Farce. Alle vier erklärten, zum angegebenen Zeitpunkt nicht in der Nähe der Augustinergasse gewesen zu sein. Auch die Zeugin, die bisher ausgesagt hatte, einen der Angeklagten gesehen zu haben, kippte um. Dem Richter blieb nichts anderes übrig, als die vier freizusprechen.
Den Akten lag ein Foto bei, das die vier Jungs mit Siegermienen vor dem Gerichtsgebäude zeigte, in der Mitte stand der strahlende Verteidiger, Dr. Gregor Hartmann. Ein weiteres Bild zeigte die Eltern und die Schwester von Beat Fahrner. Die Schwester tröstete die am Rande eines Nervenzusammenbruchs stehende Mutter. Der Vater machte einen gefassten Eindruck. Ferrari holte eine Lupe aus der obersten Schublade seines Schreibtischs und konzentrierte sich auf den Vater. Es ist kein gefasster Eindruck, den er vermittelt. Wahrscheinlich starrt er zu den vier jungen Männern hin. Der Blick des Mannes wirkt wie eingefroren, so als ob dies noch längst nicht das Ende des Prozesses bedeuten würde. Eigenartig.
Ferrari klappte den Aktendeckel zu. Hat sich der Vater nach fünfzehn Jahren an einem der mutmasslichen Mörder seines Sohnes gerächt? Weshalb erst jetzt, nach so langer Zeit? Und weshalb gerade an Gissler? Gissler – Richter – Selm – Stähli. Alphabetisch? Dann ist Richter vielleicht der Nächste? Reine Spekulation. Wahrscheinlich wurde Gissler aus einem ganz anderen Grund ermordet. Aber zumindest ist es eine erste Spur.
Francesco Ferrari überquerte den Flur und klopfte an Nadines Bürotür.
«Hast du den Bericht gelesen?»
«Ja, ein Toter mit dunkler Vergangenheit. Warst du damals schon im Dienst?»
«Als Wachtmeister.»
«Wow! Und kennst du diesen Bernhard Meister, der die Ermittlungen leitete?»
«Er ist mein Vorgänger. Kurze Zeit später, als der Fall abgeschlossen war, ging er in den Ruhestand.»
«Mit fünfundsechzig?»
«Nein, mit achtundfünfzig. Er hatte die notwendige Anzahl Dienstjahre erreicht, um mit voller Pension in Rente gehen zu können. Der Fall gab ihm damals den Rest.»
«Aber es lag ja nicht an ihm, dass die Jungs wieder auf freien Fuss kamen.»
«Die Beweislage war sehr mager. Einer hat die Tat gestanden, drei haben sie bestritten. Mit dem Auftauchen von Staranwalt Hartmann war die Sache gelaufen.»
«Ein Staranwalt? Wer hat den bezahlt?»
«Ich nehme an, dass einer der vier oder sogar mehrere aus reichem Haus stammen. Dieser Hartmann hat dafür gesorgt, dass Selm seine Aussage zurückzog. Das war die grosse Sensation. Wenn ich mich nicht irre, gehörte Borer bereits zum Team des Ersten Staatsanwalts. Doch Dr. Gregor Hartmann zog alle Register und gewann.»
Nadine erhob sich.
«Dann gehen wir mal rüber.»
«Wohin?»
«Zu unserem verehrten Staatsanwalt.»