10. Kapitel
Der Kommissär stieg an der Endstation des Dreiers aus und spazierte gemächlich am Waldrand entlang nach Hause. Heute Abend machen wir es uns gemütlich. Nur Monika, Nicole und ich. Keine Mutter, keine Schwiegermutter. Ferrari atmete tief durch. Es tat gut, ein paar Schritte zu gehen. Die Förster hatten überall Äste aufeinandergeschichtet. Zu welchem Zweck, war Ferrari nicht klar. Vielleicht, damit die Niederbrüter in Ruhe brüten konnten, geschützt vor neugierigen Blicken, spitzigen Katzenkrallen und gefährlichen Hundeschnauzen. Der Kommissär betrat das Haus und wurde bereits zum zweiten Mal an diesem Tag von Besuch überrascht.
«Oh, Francesco ist schon nach Hause gekommen. Komm doch zu uns», empfing ihn eine Freundin von Monika herzlich.
Aus mit dem gemütlichen Abend zu dritt! Da half nur noch die Flucht nach vorne. Wie hatte er nur vergessen können, dass heute der monatliche Hexenbasar stattfand. Die Vereinigung von fünf Akademikerinnen, die zusammen studiert hatten. Normalerweise blieb er einfach länger im Büro oder ging mit einem Freund essen und trudelte dann so gegen Mitternacht ein. Monika warnte ihn jeweils vor dem schrecklichsten Tag des Monats. Irgendwie hatte er ihn verdrängt. Mist, elender! Bald schon sass er mit einem Glas Wein in der Hand inmitten von Monikas Freundinnen und liess deren Geschichten über sich ergehen. Nach dem dritten Glas Aigle rouge fühlte er sich langsam wohl. Monikas strengen Blick übersah er geflissentlich.
«Und, ist wieder ein Mord geschehen, Francesco?», fragte Ursula Wüthrich, eine Tierärztin.
«Nicht nur einer. Ein Serientäter macht Basel unsicher. Aber pssst», er mimte den Verschwörer, «kein Sterbenswörtchen davon. Sonst bricht eine Panik aus.»
«Ein Serienmörder? Wie viele Menschen hat er denn schon getötet?», mischte sich Doris Schläpfer, Zahnärztin, in die Diskussion ein.
«Bisher wissen wir von einem Dutzend. Aber es werden laufend mehr.»
Ruth Kern lachte.
«Glaubt ihm doch den Käse nicht. Er nimmt uns auf die Schippe. Das wüssten wir doch längst.»
«Woher denn, meine Liebe?», verteidigte Ferrari seinen Serienmord.
«Wir sind doch eine eingeschworene Clique, Francesco. Wenn es einen Serienmörder gäbe, würde uns einer der Assistenten von Peter Strub längst informiert haben.»
«Bingo! Eins zu null für dich, Ruth. Nein, es ist im Augenblick ziemlich langweilig in Basel. Nur ein Toter in den vergangenen zwei Monaten. Manchmal habe ich sogar Angst, dass ich meine Stelle verliere, weil zu wenig gemordet wird.»
«Du kannst dich jederzeit an uns wenden. Wir würden einen perfekten Mord für dich begehen, Francesco», lachte Ruth Kern. «Mit der Aufklärung würdest du dich bis zu deiner Pensionierung die Zähne ausbeissen.»
«Das ist wirklich lieb von euch. Wenn ich hier schon die versammelte geistige Akademikerinnen-elite von Basel an einem Tisch habe, könnte ich doch ein oder zwei Fragen stellen …»
«Francesco, es ist genug. Pack dein Glas und nimm von mir aus eine Flasche mit», forderte Monika bestimmt.
«Das ist nicht fair, Monika. Lass deinen Schatz doch die Fragen stellen. Das ist echt spannend», bettelte Doris Schläpfer.
«Also gut, zwei Fragen und dann werfe ich dich raus.»
«Schon verstanden. Frage eins: Kennt jemand von euch, ausser Monika natürlich, Philippe Stähli und was haltet ihr von ihm?»
Die Damen schauten sich mit Verschwörermiene an. Ruth hatte sich zur Sprecherin erkoren.
«Der schöne Philippe. Die Frauen liegen ihm zu Füssen. Aber anscheinend liebt er seine Frau wirklich. Es hat ihn noch keine rumgekriegt. Oder er ist ein ganz Raffinierter.»
«Eine meiner besten Freundinnen war bei ihm in Behandlung. Er hat sie geheilt. Sie schwärmt in den höchsten Tönen von ihm. Er habe sich um sie gekümmert, als ob sie seine Frau wäre. Auf den schönen Philippe lässt sie nichts kommen», ergänzte Doris Schläpfer.
«Nichts Negatives, keine Skandale?»
Sie schüttelten nur den Kopf.
«Gut. Und Andreas Richter?»
Sie schauten sich gegenseitig fragend an. Iris Gubler, Kunsthistorikerin mit abgebrochenem Medizinstudium, die sich bisher an der Diskussion nicht beteiligt hatte, räusperte sich.
«Andreas ist Leiter einer Stiftung. Ein absolut integrer Mann, ein Gerechtigkeitsfanatiker. Ich sitze mit ihm im Stiftungsrat von Pro Vita. Die Stiftung vergibt Beiträge an ältere Menschen, die von ihrer Rente nicht leben können und die sich weigern, Sozialhilfe zu beantragen. Davon gibt es mehr, als ihr euch vorstellen könnt. Andreas versucht jedem zu helfen. Er geht sogar so weit, dass er sich mit den Behörden anlegt, um den Berechtigten Sozialhilfe zu verschaffen, ohne dass sie selbst etwas unternehmen müssen. Er lässt sich von ihnen eine Vollmacht geben und setzt sich dann bei den Ämtern durch.»
«Deshalb bezeichnest du ihn als Gerechtigkeitsfanatiker?»
«Nein. Wir hatten bei der Stiftung eine Ungereimtheit in den Finanzen. Es ging um keine grosse Summe. Aber Andreas liess nicht locker, obwohl wir anderen der Meinung waren, dass es keinen Sinn mache. Er bezahlte aus der eigenen Tasche einen externen Treuhänder, der dann auch fündig wurde. Unser Kassier hatte sich unrechtsmässig Geld genommen. Wie gesagt, es war nur eine kleine Summe. Doch die Ungereimtheit löste eine Lawine aus. Nachdem die Treuhandfirma weiterbohrte, kam heraus, dass Richters Stellvertreter eine halbe Million Franken veruntreut hatte. Das war das Verdienst von Andreas Richter.»
«Kam es zu einer Anzeige?»
«Das war dann wiederum komisch. Als das Ergebnis feststand, bat Andreas den Vorstand darauf zu verzichten. Er verlangte von den beiden, dass sie kündigten und die Schadenssumme zurückbezahlten. Damit waren sie natürlich einverstanden. Andreas begründete sein Verhalten damit, dass er nicht wolle, dass die Stiftung in ein falsches Licht gerate.»
«Scheint mir ein vernünftiger Mann zu sein, dieser Richter», stellte Ruth fest.
«So, jetzt ist die Fragestunde vorbei, Francesco. Ab mit dir nach oben.»
«Wo ist eigentlich Nicole?»
«Sie schläft bei einer Freundin.»
Wenigstens eine in der Familie hatte den Tag, als die Hexen kamen, nicht vergessen!