9. Kapitel
Auf dem Weg ins Kommissariat gönnte sich Ferrari eine Kleinigkeit. Schliesslich war Mittagszeit. Zuerst eine grosse Portion Pommes und zur Abrundung ein Vanillesofteis von «McDonald’s». Die erlesene Fastfoodkombination lag ihm danach schwer im Magen.
«Ich hätte vielleicht nur die Glace nehmen sollen», brummte Ferrari.
«Oder die Pommes mit Verstand und nicht im Tempo Teufel verdrücken. Wie ein kleines Kind, das Angst hat, jemand könnte sie wegschnappen», stellte Nadine trocken fest. Ihre Wahl war auf ein Birchermüesli mit frischen Früchten vom Sutter Begg gefallen. Im Büro angekommen, erwartete sie eine Überraschung.
«Du hast Besuch, Francesco», empfing sie ein Kollege.
«Ah ja, wer denn?»
«Eine attraktive Dame. Sie sitzt bei Stephan. Er ist ganz begeistert von ihr.»
«Und sie will zu mir?»
«Ja, so viel ich verstanden habe.»
«Übrigens, Nadine, ich soll dir von der Fahndung ausrichten, dass dieser Selm unauffindbar ist. Seine Schlummermutter liess die Kollegen in das Zimmer hinein. Es ist aufgeräumt. Keine Bilder an den Wänden und keine Pflanzen, ziemlich steril das Ganze. Wahrscheinlich macht er gerade Ferien.»
«Immerhin lag er nicht tot in einer Ecke. Danke.»
«Sie bleiben auf jeden Fall dran. Soll die Suche auf die anderen Kantone ausgedehnt werden?»
«Ja, schreibt ihn aus. Das kann nichts schaden.»
Nadine folgte Ferrari neugierig zu Kollege Stephan.
«Ah, da seid ihr ja endlich, Francesco. Darf ich dir …»
«Guten Tag, Frau Fahrner.»
Ferrari streckte Elisabeth Fahrner die Hand entgegen.
«Du kennst Frau Fahrner?»
Sie gab ihm irritiert die Hand.
«Nur von den Fotos, Stephan. Sie haben sich kaum verändert, Frau Fahrner.»
«Ist das ein Kompliment?»
«Das sollte es eigentlich sein. Vielen Dank, Stephan, dass du Frau Fahrner die Zeit verkürzt hast.»
«War mir ein besonderes Vergnügen.»
«Wenn es Sie nicht stört, dislozieren wir in mein Büro. Darf ich Ihnen meine Kollegin Nadine Kupfer vorstellen.»
«Sehr erfreut.»
«Guten Tag, Frau Fahrner.»
Elisabeth Fahrner war vor fünfzehn Jahren eine schöne junge Frau gewesen. Sie hatte sich nur wenig verändert. Einige kleine Falten um die Augen, die sie geschickt mit Make-up verdeckte, aber noch immer sehr attraktiv.
«Bitte nehmen Sie Platz. Wir hätten Sie demnächst ebenfalls aufgesucht.»
«Und nun bin ich Ihnen zuvorgekommen. Dafür gibt es einen Grund. Ich lebe mit meinen Eltern zusammen. Da beide krank sind, versuche ich, jegliche Aufregung vor ihnen fernzuhalten. Stephan …»
«Stephan?»
«Herr Moser orientierte mich darüber, dass Sie und Frau Kupfer den Fall untersuchen. Nun, da bin ich und Sie können mich verhören.»
Eine sehr selbstbewusste Dame!, dachte Ferrari, die ihnen da gegenüber sass. Und wahrscheinlich ein ziemlich harter Brocken, den es zu knacken galt. Insbesondere, wenn bereits die Kollegen wie Butter geschmolzen waren. Vorsichtig, Ferrari, mahnte seine innere Stimme.
«Dann wollen wir mal. Soviel ich weiss, ist bisher nichts von Gisslers Tod an die Öffentlichkeit gedrungen. Woher haben Sie Ihre Informationen?»
«Das ist mein kleines Geheimnis, Herr Kommissär», lächelte sie ihn entwaffnend an.
«Das dachte ich mir», antwortete Ferrari mit einem vielsagenden Blick zu Nadine.
«Damit Sie keinen falschen Verdacht hegen. Ich weiss es nicht von Stephan.»
«Ihr kennt euch schon länger?»
«Seit einer Stunde, Frau Kupfer», lächelte Frau Fahrner wieder. «Stephan hat mir nichts verraten. Sie können mich übrigens Elisabeth nennen.»
«Bleiben wir doch lieber bei Frau Fahrner», knurrte Ferrari. «Sie wissen also, dass Arnold Gissler tot ist.»
«Was mich freut, das gebe ich unumwunden zu. Es gibt mir eine gewisse Genugtuung.»
«Nur eine gewisse?»
«Wirklich zufrieden bin ich erst, wenn alle vier auf dem Hörnli liegen, Frau Kupfer.»
«Die vier Angeklagten wurden damals freigesprochen.»
«Ein abgekartetes Spiel. Vom alten Stähli eingefädelt, zogen seine Freunde Streck und Hartmann die Show brillant ab. Das muss ich zugeben. Alle, die an das Rechtssystem und an die Gerechtigkeit glauben, wurden hinters Licht geführt. Jetzt hat es endlich den ersten erwischt. Ich hoffe, dass er qualvoll sterben musste», sagte sie mit dem strahlendsten Lächeln der Welt.
«Sie sind ziemlich offen und sehr direkt, Frau Fahrner.»
«Stephan hat mir geraten, ohne Umschweife zur Sache zu kommen. Er meinte, Sie würden oft einen unbeholfenen Eindruck erwecken, aber der Schein trüge.»
So ist das. Ich bin ein verkalkter, verschrobener Trottel, der manchmal seine lichten Momente hat. Schöne Meinung haben die Kollegen von mir. Ferrari schaute zu Nadine hinüber, die das Gespräch sichtlich genoss.
«Meinen Eltern geht es nicht gut. Sie sollen ihre letzten Tage geniessen können, so gut das überhaupt möglich ist. Seit dem Tod von Beat ist kein Tag vergangen, ohne dass wir darüber gesprochen haben. Und jetzt wird alles erneut aufgewühlt. Sie und Ihre Kollegin werden sie verhören wollen. Nicht, weil Sie glauben, dass meine Eltern den Mistkerl umgebracht haben, wohl aber in der Hoffnung, irgendetwas zu erfahren. Verständlich. Dennoch – ich will nicht, dass Sie meine Eltern belästigen. Sie haben wirklich genug durchgemacht.»
Elisabeth Fahrner nestelte in ihrer Handtasche.
«Hier ist ein ärztliches Attest. Meine Eltern sind nicht vernehmungsfähig. Ich bitte Sie eindringlich, sich daran zu halten.» Ihre Stimme zitterte leicht. Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort. «Hoffentlich erfährt die Presse nichts davon.»
«Das ist nicht in unserem Sinn. Nur lässt es sich erfahrungsgemäss kaum verhindern. Früher oder später wird ein Journalist in der Vergangenheit wühlen und die gewonnenen Erkenntnisse der Öffentlichkeit mitteilen. Pressefreiheit, da sind wir machtlos … Gut, beginnen wir mit der wichtigsten Frage. Wo waren Sie am Freitagabend sowie am Samstagvormittag vor einer Woche?»
«Am 3. und 4. Juli?», sie sah auf ihr Handy und tippte etwas ein. «Am Freitagabend war ich mit Ständerat Markus Schneider in einem Konzert und am Samstagvormittag einkaufen. Für die Nacht von Freitag auf Samstag habe ich kein Alibi, da Markus nicht bei mir schlafen wollte.»
Ferrari zog die Augenbrauen hoch.
«Markus ist ein sehr guter Freund von mir, mein bester. Ab und zu mehr als ein Freund.»
«Ich verstehe. Sie sagten, dass Sie mit Ihren Eltern zusammen wohnen?»
«Ja. Ich habe das Haus selbst entworfen. So, dass es genügend Platz für uns alle hat und gleichzeitig die Intimsphären gewahrt bleiben. Mam und Pa wohnen im Parterre, damit sie keine Treppen steigen müssen und den Garten nutzen können. Ich habe mir in der ersten und zweiten Etage eine Maisonettewohnung eingerichtet.»
«Sie sagten damals nach dem Prozess vor laufender Kamera, dass die Mörder Ihres Bruders ihrem Schicksal nicht entgehen würden.»
«Meine Prophezeiung scheint ja nun einzutreffen, Frau Kupfer!», antwortete sie trocken.
«Haben Sie dabei etwas nachgeholfen?»
«Das herauszufinden, ist Ihre Aufgabe. Es scheint doch noch eine Gerechtigkeit zu geben.»
«Wir haben uns mit Philippe Stähli unterhalten.»
«Ein sehr guter Arzt mit grossartiger Karriere, die ich leider nicht verhindern konnte.»
«Dann stimmt es also, dass Sie gegen ihn mobil gemacht haben?»
«Ich bin von Pontius zu Pilatus gelaufen, um ihn fertigzumachen. Leider erfolglos. Das heisst nicht ganz.»
«Das müssen Sie mir etwas näher erklären», bat der Kommissär.
«Inzwischen bin ich in unserer Stadt ziemlich bekannt und habe einigen Einfluss. Ohne arrogant wirken zu wollen, mein Beziehungsnetz ist besser als jenes der Familie Stähli. Vor allem, seit der alte Stähli tot ist. Grosse Karrieresprünge liegen für Philippe Stähli im Kantonsspital nicht mehr drin.»
«Ich habe aber gehört, dass er Chefarzt werden soll.»
«Schön für ihn, Frau Kupfer. Aber sicher nicht hier in Basel.»
Ihre Augen funkelten erbarmungslos.
«Sie können uns bestimmt auch noch etwas über die anderen drei erzählen.»
«Bedaure. Stähli war der Anführer … dieser gottverdammten Sippe … Ohne seinen Vater und die korrupte Bande von Anwälten und Richtern sässen die vier im Gefängnis.
«Wohl jetzt nicht mehr.»
«Wie meinen Sie das, Herr Kommissär?»
«Vermutlich hätten sie im schlimmsten Fall zehn Jahre gekriegt und wären nach spätestens sieben wegen guter Führung entlassen worden.»
«Doch in Tat und Wahrheit sind sie schon nach der Untersuchungshaft wieder rausgekommen. Schöne Gerechtigkeit!»
«Sie haben also nie mehr etwas von den anderen gehört?»
«Doch, von diesem Richter. Seine Stiftung liess im Gellert einen Wohnkomplex bauen, den ausgerechnet mein Büro planen sollte.»
«Vielleicht ein Friedensangebot von Richter?»
«Und wenn schon. Ich habe seine Leute hochkant rausgeworfen. Ich bin nicht käuflich … Ich hoffe, dass sie den Mörder … die Person nicht erwischen, bevor alle vier tot sind. Noch besser, ich wünsche mir, dass Sie sie nie erwischen.»
«Wir kriegen jeden.»
«Ich kenne Ihren Ruf», schmunzelte Elisabeth Fahrner. «Falls Sie die Person wirklich fassen, die meinen Bruder rächt, dann werde ich ihr den besten Anwalt der Welt verschaffen und die ganze Staatsanwaltschaft mitsamt Richter bestechen. Das ist ja hier in Basel so üblich.»
Ferrari verzog das Gesicht.
«Sie erinnern sich bestimmt noch an Gregor Hartmann?»
«Lebt der noch?»
«Es geht ihm anscheinend nicht besonders gut.»
«Recht so. Er soll der Fünfte auf der Liste des Gerechten sein.»
«Das nimmt Ihnen das Schicksal vermutlich ab. Haben Sie sich schon einmal überlegt, was wäre, wenn die Ermordung von Gissler gar nichts mit dem Fall Fahrner zu tun hätte?»
«Das wäre schade und nicht zu hoffen. Dann müsste ich die Rache endlich selbst in die Hand nehmen.»
«Haben Sie das nicht schon?»
Sie lächelte Ferrari mit dem harmlosesten Lächeln der Welt an.
«Wie gesagt, Herr Kommissär, das müssen Sie herausfinden.»
Der Kommissär sah ihr tief in die Augen und nickte.
«Danke, dass Sie gekommen sind. Würden Sie mir bitte noch aufschreiben …», Ferrari schob einen Block über den Tisch, «wo wir Sie erreichen können? Am besten auch Ihre Handynummer. Falls wir noch Fragen haben, melden wir uns.»
«Was ist mit meinen Eltern?»
Der Kommissär blickte unsicher zu Nadine.
«Im Augenblick sehen wir keinen Grund, mit Ihren Eltern zu sprechen. Falls es aber dazu kommen muss, werde ich Sie vorher informieren, damit Sie beim Gespräch dabei sein können.»
«Danke, Frau Kupfer. Sie halten mich für eiskalt, nicht wahr?»
«Eiskalt ist vielleicht nicht das richtige Wort, aber … wie soll ich sagen …»
Sie lachte und zeigte dabei ihre strahlend weissen, ebenmässigen Zähne.
«Wenn Sie geheucheltes Mitleid erwarten, sind Sie bei mir an der falschen Adresse. Haben Sie Geschwister?»
«Nein.»
«Ich habe meinen kleinen Bruder vergöttert, abgöttisch geliebt. Beat war ein intelligenter, fröhlicher und herzensguter Mensch. Strahlte ungeheure Lebensfreude aus, hatte viele Interessen und noch so viele Pläne …», sie atmete tief durch. «Musik und Literatur waren seine Steckenpferde. Er spielte ziemlich gut Gitarre und besuchte beinahe jede Theatervorstellung. Opern waren nicht sein Ding, aber für ein Schauspiel hat er die halbe Schweiz bereist … Sie denken jetzt, dass sei das verklärte Geschwätz der grossen Schwester. Fragen Sie in seinem Bekanntenkreis nach, er war sehr beliebt … ‹Du hast jeden Raum mit Sonne geflutet, hast jeden Verdruss ins Gegenteil verkehrt. Nordisch nobel, deine sanftmütige Güte, dein unbändiger Stolz, das Leben ist nicht fair.› …» Mit Mühe bezwang sie ihre Tränen. «Er ist einen so sinnlosen Tod gestorben. Bloss, weil er im falschen Moment am falschen Ort gewesen ist – auf dem Heimweg vom Stadttheater. Wir haben damals am Rheinsprung gewohnt. Beat hat seine Mörder nicht einmal gekannt …»
Nadine und Ferrari sassen schweigend da. Betroffenheit machte sich breit.
«Vor Gericht hat Hartmann die These aufgestellt, dass mein Bruder die vier unbekannten jungen Männer provoziert haben könnte. Was für ein Hohn! Beat hat nie jemanden provoziert, er verabscheute Gewalt.» Sie fuhr sich durch eine Stirnlocke und warf mit einer Kopfbewegung die Haare zurück. «Ich hoffe wirklich, dass Gissler nicht zufälligerweise umgebracht wurde, und bete inständig, dass es erst der Anfang ist.»
«Das hoffen wir nicht. Wir werden unser Möglichstes tun, um dies zu verhindern.»
«Das ist Ihre Pflicht, Herr Kommissär. Doch der gerechte Gott wird meine Gebete erhören. Wenn Sie mich nicht länger benötigen, möchte ich jetzt gern gehen.»
Während Nadine Elisabeth Fahrner zum Ausgang begleitete, versuchte Ferrari seine Gedanken zu ordnen. Wie man an einem Tag in die Abgründe verschiedener Menschen blicken kann. Die vier Täter, er hielt das Wort Mörder in diesem Zusammenhang für falsch, die einen anderen jungen Menschen brutal erschlugen. Eine sinnlose Mutprobe jugendlichen Leichtsinns. Vermutlich hatten sie sich gegenseitig hochgeschaukelt, keiner konnte als Feigling da stehen. Das Opfer wehrt sich, zuerst nur verbal. Ein Wort gibt das andere. Dann folgen schreckliche Taten. Sekunden später ist die Entscheidung über Leben und Tod gefallen. Beat Fahrner hatte nicht den Hauch einer Chance. Was für ein Wahnsinn! Der Kommissär schüttelte den Kopf. Das Leben ist nicht fair, hatte Elisabeth Fahrner aus einem Lied von Grönemeyer zitiert. Nein, das war es wirklich nicht.
Zwei der vier Täter ziehen sich vollkommen zurück. Sie wollen keine Verantwortung übernehmen, haben keine Freunde, keine Familie. Ein Leben im Nichts. Der Dritte stellt sich in den Dienst der Menschheit, kämpft erfolgreich für die Rechte von Senioren. Der Kopf der Gruppe wird ein renommierter Arzt, der unzählige Leben rettet. Nur dieses eine bleibt für immer verloren. Dieser tragische Moment vor fünfzehn Jahren brennt sich für immer in die Seelen der Täter ein. Ein Vergessen, ein Entrinnen ist unmöglich. Die Schuld wiegt zu schwer.
Diese verhängnisvolle Nacht zieht weitere Kreise. Da ist ein Vater, der instinktiv und mit aller Macht sein Kind schützen will, sein alter Freund, der Staatsanwalt, und ein brillanter Strafverteidiger. Alle verfolgen sie dasselbe Ziel: den Freispruch der Angeklagten. Gewonnen hat am Ende niemand. Schon gar nicht Kommissär Meister, der die Täter fasst und sie wieder frei lassen muss. Wie sich Meister gefühlt hat und immer noch fühlt, konnte sich Ferrari vorstellen. Nicht auszudenken, wie er reagiert hätte … Der Assistentin Anita Brogli mit ihrem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und ihren unorthodoxen Methoden kostete es die Karriere.
Und die Familie des Opfers? Eltern, die sich Tag für Tag hintersinnen, nur mit Mühe weiterleben können, die Schuld bei sich suchen und unaufhaltsam zerbrechen. Die Schuld – sie liegt immer bei den Eltern. Die Frage nach der Wahrheit stellt sich nicht, weil sie im entscheidenden Augenblick ihr Kind nicht beschützt haben. Bleibt noch die Schwester des Toten, die ganz offen auf Rache sinnt. Kalt und berechnend den passenden Moment abwartet, um zuzuschlagen? Oder um zuschlagen zu lassen?
Für Ferrari lag eine ungeheure Dramatik in diesem Fall. Mit dem Tod von Gissler wurde die Vergangenheit lebendig. Die unterschiedlichsten Gefühle brachen auf, traten aus tiefem Innern ans Tageslicht. Fünfzehn Jahre kochte das Vergangene auf Sparflamme und plötzlich loderte das Feuer wieder wild auf.
«In Gedanken versunken?»
«Komm rein, Stephan. Hast du deine neue Freundin anständig verabschiedet?»
«Höre ich da eine Spur von Sarkasmus in deiner Stimme, Francesco?»
Stephan Moser setzte sich lässig auf einen Stuhl.
«Na ja, du gibst ziemlich Gas. Wann ist man schon nach zwanzig Minuten mit einer attraktiven Frau per Du?», stichelte der Kommissär.
«Sie hat mich total überrumpelt. Zu deiner Beruhigung, sie war in Begleitung von …»
«Markus Schneider. Ist er nicht mit raufgekommen?»
«Doch. Aber sie wollte ihn nicht dabei haben. Eine Wahnsinnsfrau!»
«Was habt ihr mit Schneider angestellt?»
«Er sass draussen an einem Tisch und las Zeitung.»
Nadine war zurückgekommen und blieb am Fenster stehen.
«Von wem sprecht ihr?»
«Von Ständerat Schneider.»
«Also draussen sitzt niemand. Das wäre mir aufgefallen. Frau Fahrner hat auch nichts erwähnt. Übrigens eine starke Frau!»
«Meine Rede, Nadine. Eine super Frau!»
«Gut, dass ihr einer Meinung seid. Dann wäre jetzt nur noch das Problem Schneider zu lösen. Wo steckt er?»
«Vielleicht ist er in der Kantine.»
«Eher bei unserem Staatsanwalt», überlegte Nadine.
«Du meinst, er schlägt schon mal einen Pfahl ein.»
«Würde mich nicht wundern. Borer liebäugelt doch schon lange mit einer politischen Karriere, und unter guten Freunden …»
«Sauhäfeli, Saudeckeli!»
«Vermutlich wird sich Borer demnächst sehr intensiv um den Fall bemühen. Ich könnte mir jetzt auch vorstellen, woher der Tipp kam.»
«Von Schneider. Borer wird es ihm gesteckt haben. Wer weiss, vielleicht sind sie zusammen bei den Rotariern oder Parteifreunde. Kannst du dich an Anita Brogli erinnern, Stephan?»
«Stiefelchen?»
«Exakt. Den Spitznamen hatte ich ganz vergessen.»
«Weshalb gerade Stiefelchen?», fragte Nadine nach.
«Weil sie immer in hohen Stiefeln rumlief. Ich habe mir oft vorgestellt, wie sie in ihren Stiefeln Verdächtige quält.»
«Das geht jetzt aber zu weit, Stephan», brummte Ferrari. Aber der Vergleich war nicht von der Hand zu weisen.
«Welchen Kosenamen habt ihr mir verpasst?»
«Kratzbürste!», rutschte es Stephan Moser heraus.
«Wie bitte? Immerhin besser als Stiefelchen.»
«Ich glaube, Anita Brogli wusste, wie wir sie nannten. Das berührte sie überhaupt nicht, es war ihr absolut egal. Die hat schon das eine oder andere Ding abgezogen, hart an der Grenze. Dann hats geknallt. Einem Disziplinarverfahren ist sie nur knapp entgangen. Und weg war sie.»
«Weisst du, wo sie jetzt ist und was sie macht?»
«Sie ist irgendwo in Graubünden. Ich habe sie vor drei Jahren an einem Weiterbildungsseminar getroffen. Hat in den Bergen ziemlich Karriere gemacht. Wenn mich nicht alles täuscht, ist sie Polizeichefin von Chur oder so. Was hat Stiefelchen mit eurem Fall zu tun?»
«Sie war damals die Assistentin von Meister und hat einem der Angeklagten nach dem Prozess gedroht.»
«Typisch Brogli!», schmunzelte Moser. «Für die gab es keine halben Sachen. Schuldige in den Bau. Zudem war sie eine Verfechterin der Todesstrafe.»
«Und Unschuldige nahm sie so lange in die Mangel, bis sie alles gestanden … oder starben.»
«Tja, sie ist oft über das Ziel hinausgeschossen, Nadine. Aber sie ist eine gute Polizistin gewesen.»
Was sind die Kriterien für einen guten Polizisten?, überlegte Ferrari, als er mit Nadine wieder allein war. Zeichnet sich ein guter Polizist dadurch aus, dass er Härte zeigt, stundenlange Verhöre führt, bis der Verdächtige gesteht? So wie Anita Brogli? Mag sein. Wenn Stephan sie als gute Polizistin bezeichnet, was sind dann wir? Mit Sicherheit zu anständig. Ferrari schmunzelte und wippte in seinem Sessel hin und her. Es gibt auch andere Methoden, zum Beispiel unsere! Vielleicht bin ich oft eine Spur zu menschlich. Andere würden wohl sagen zu weich. Da ist Nadine schon härter. Deshalb sind wir ja auch ein echt gutes Team, wir ergänzen uns perfekt. Genau. Ein guter Polizist zeichnet sich also durch analytisches Denken, Hartnäckigkeit, Einfühlungsvermögen und Intuition aus. Man darf sein Ziel nie aus den Augen verlieren, aber auch nicht darüber hinausschiessen. Wahrscheinlich bin ich in den Augen meiner Kollegen kein guter Polizist. Nur einer, der auf der Sonnenseite des Lebens steht, der das Glück gepachtet hat. Der italienische Schickimicki-Bulle von Basel!, dachte Ferrari amüsiert.
«Nadine an Francesco … bist du da? Hallo?»
«Wie … was? Entschuldige. Ich habe ein wenig sinniert. Über Polizeimethoden. Was ist richtig? Was ist falsch?»
«So, wie wir es angehen, ist es richtig, Francesco. Basta!»
«Da denken andere ganz anders, du Kratzbürste!»
«So eine Frechheit! Kratzbürste! Wenn ich erfahre, wer mir diesen Namen verpasst hat, dem reisse ich den Arsch auf. Du weisst es bestimmt.»
«Nein, nein und nochmals nein. Ich schwöre es. Bei allem, was mir heilig ist.»
«Ich kann Elisabeth Fahrner verstehen, dass sie Stähli und Co. den Tod wünscht.»
«Und weil ihr das auf natürliche Art und Weise zu lange dauert, legt sie selbst ein wenig Hand an.»
«Du glaubst, dass sie in den Mord verwickelt ist?»
«Sagen wir, sie gehört zum Kreis der Verdächtigen. Genau wie Anita Brogli. Ich finde übrigens die Bezeichnung recht passend. Gut getroffen.»
«Welche Bezeichnung?»
«Das mit der Kratzbürste.»
Getroffen wurde daraufhin Ferrari, von einem auf dem Tisch liegenden Aktenordner.