KAPITEL ACHTZEHN
Elizabeth Martin Ross
Ben erzählte mir am Abend alles. Wir saßen im Wohnzimmer vor dem Kaminfeuer, das sich störrisch weigerte, vernünftig zu brennen, und ich lauschte der ganzen traurigen Geschichte. Draußen in der Küche konnten wir Bessie hören, die mit Tellern und Töpfen klapperte. Ich war froh, dass er nicht die Einzelheiten vor mir verschwieg. Ich wollte alles wissen, auch wenn ich zugebe, dass mir Mrs. Scotts herzlose Andeutung zu schaffen machte, ich hätte den Tod von Isabella Marchwood mit zu verantworten, weil ich versucht hatte, sie draußen vor dem Saal der Temperenzbewegung zum Reden zu bringen und weil Pritchard mich dabei beobachtet hatte.
»Wenn ich gewusst hätte, dass Pritchard – oder sonst irgendjemand – mich beobachtet, dann wäre ich ihr ein Stück weit die Straße hinunter gefolgt, bevor ich sie angesprochen hätte«, sagte ich.
»Pritchard hätte dich trotzdem gesehen. Er folgte Isabella Marchwood und holte sie am Bahnhof von Waterloo ein.«
»Ich hätte dennoch energischer versuchen müssen, Miss Marchwood dazu zu bewegen, sich mir anzuvertrauen!«, platzte ich hervor. »Ich hätte sie zur Waterloo Station begleiten sollen und auf dem Weg dorthin versuchen müssen, ihr Vertrauen zu gewinnen. Bessie und ich hätten bei ihr bleiben können, bis sie in den Zug gestiegen war, und sie hätte keine Gelegenheit gefunden, diese Note an Mrs. Scott zu schreiben und Pritchard mitzugeben. Sie wäre am Montag nicht in den Zug nach Clapham gestiegen, und Pritchard hätte sie nicht verfolgt.«
»Komm schon, Lizzie«, sagte Ben zu mir und ergriff meine Hand. »Du warst eine Fremde für sie. Sie hätte dich nicht ins Vertrauen gezogen, bestimmt nicht. Ganz egal, wie sehr du dich bemüht hättest.«
»Ich hätte irgendetwas tun müssen!«, beharrte ich.
»Du hast etwas getan. Du hast gesehen, wie sie mit Jemima Scott gesprochen hat, und du hast gehört, wie Jemima Scott sie aufgefordert hat, sie in Clapham zu besuchen. Du hast mir davon erzählt, und diese Information, so unbedeutend sie dir erscheinen mag, war für unsere Ermittlungen von großer Bedeutung. Lizzie, Isabella Marchwood war von Anfang an dem Untergang geweiht. Von dem Moment an, als sie Allegra Benedict mit nach Wisteria Lodge nahm.«
Ben hatte vermutlich recht. Ich stieß einen Seufzer aus, aber dann kam mir ein neuer Gedanke. »Und dieser schreckliche Fawcett hat an allem überhaupt keine Schuld?«, fragte ich aufgebracht. »Er ist doch die Ursache für alles! Seine Lügen und seine Täuschung haben doch überhaupt erst dazu geführt, dass er als Redner in das Haus von Mrs. Scott eingeladen wurde und dass er dort Allegra Benedict kennenlernen konnte. Er hat die Affäre mit Allegra angefangen – und sag mir jetzt bloß nicht, dass er ein armer unschuldiger Kerl ist, der von einer äußerst raffinierten Frau verführt wurde! Dieser Mann weiß überhaupt nicht mehr, was Unschuld ist!«
»Es ist wirklich eine große Schande«, erwiderte Ben. »Zum ersten Mal in seinem Leben ging es ihm nicht in erster und einziger Linie um ihn selbst. Er begriff das Risiko, dass Benedict alles herausfinden könnte, und er hatte vor, London zu verlassen und unterzutauchen, wie er es früher in anderen Städten auch jedes Mal gemacht hatte, wenn die Dinge zu kompliziert geworden waren. Doch obwohl er wusste, dass er besser den Kopf eingezogen hätte und verschwunden wäre, gelang es ihm nicht, sich von Allegra zu trennen. Auf seine eigene Weise …«
»Nicht!«, unterbrach ich ihn heftig. »Ich flehe dich an, sag bloß nicht, dass er sie geliebt hat! Er ist überhaupt nicht imstande, einen anderen Menschen zu lieben!«
»Also schön«, räumte Ben widerspruchslos ein. »Sagen wir, er war in sie vernarrt. Er ist ein junger Mann, und sie war jung und eine wunderschöne Frau. Sie beging den Fehler, ihm zu vertrauen. Er beging den Fehler, sich an seine Beziehung mit ihr zu klammern … und beide wurden von einer Frau beobachtet, die auf ihre Weise ganz genauso besessen war von deinem Mr. Fawcett wie Allegra Benedict. Oder hältst du es für völlig unmöglich, Lizzie, dass Jemima Scott trotz des Altersunterschieds eine gewisse Leidenschaft für diesen Burschen entwickelt hat? Allegra war nicht nur eine Bedrohung für die Sache, für die Bewegung, wie Mrs. Scott es nennt, sie war eine Rivalin im Wettstreit um die Zuneigung des Predigers. Fawcett selbst hat mir verraten, wie viele Frauen es gibt, die sich in Männer mit Macht verlieben. Vielleicht ist das das Geheimnis hinter allem.«
Ich starrte Ben voller Entsetzen an. Der Gedanke war mir bisher noch gar nicht gekommen, dass Mrs. Scott viel mehr als nur eine eifrige Anhängerin von Joshua Fawcetts Kampagne gegen die Trunksucht gewesen sein könnte. Hatte sie sich wirklich in diesen Kerl verliebt? Der Gedanke, dass diese kalte Person heimliche Sehnsüchte entwickeln konnte … er ließ mich erschauern.
»Wenn das so ist«, rief ich, »dann kann sie unmöglich die Wahrheit sagen über den Plan, den sie mit Pritchard ausgeheckt hat! Nie im Leben hat sie bloß vorgehabt, Allegra zum Abbruch der Beziehung zu überreden. Hat sie wirklich nicht gewusst, dass er sie erdrosseln würde? Hat sie wirklich und wahrhaftig ihre Rivalin nicht für immer aus dem Weg räumen wollen?«
»Sie wird niemals zugeben, tiefere Gefühle für Fawcett oder eine persönliche Rivalität mit Allegra um seine Zuneigung gehabt zu haben«, erwiderte Ben. »Bleiben wir also erst einmal dabei und sagen, ihr einziger Wunsch war, Fawcett vor einem Skandal zu bewahren und ihn in die Lage zu versetzen, seine Arbeit fortzuführen. Ich glaube trotzdem, dass sie zusammen mit Pritchard geplant hat, Allegra Benedict zu töten. Sie war nicht im Geringsten überrascht, als sie erfuhr, dass er es getan hatte. Ich glaube nicht, dass sie so ruhig geblieben wäre, wenn sie nicht damit gerechnet hätte. Sie wäre wütend gewesen auf Pritchard und auf direktem Weg zur Polizei gegangen. Stattdessen hat sie im Anschluss an das erste Verbrechen vorsätzlich den Mörder gedeckt und weiter mit ihm konspiriert. Es dürfte ihr schwerfallen, das vor einem Gericht zu erklären.«
Ich musste an meinen eigenen Besuch in Wisteria Lodge denken, nachdem Isabella Marchwood ermordet worden war, und die gefasste Reaktion, mit der die Bewohnerin die Nachricht aufgenommen hatte. »Sie muss Nerven aus Stahl haben«, murmelte ich. »Und nicht eine Unze Mitleid. Vielleicht waren es diese beiden Eigenschaften, die sie die gefährlichen Tage des Aufstands in Indien überleben ließen.«
Ben stocherte mit dem Schürhaken im Feuer, dann nahm er die Zange und legte einen Brocken Kohle in die Glut. Es machte einen schwächlichen Versuch aufzuflackern. »Pritchard selbst behauptet, sie wusste, dass das Treffen arrangiert worden war zum Zweck der Ermordung von Allegra Benedict«, sagte er. »Es war nicht seine eigene Idee – es war ihre. Er befolgte lediglich ihre Instruktionen. Es gibt wenig Veranlassung für ihn, in dieser Hinsicht zu lügen, es sei denn, er bildet sich ein, seinen Kopf zu retten, indem er die Schuld auf mehrere verteilt. Das wird es nicht.«
Ben zuckte die Schultern. »Ich persönlich glaube, dass die Scott es wusste und dass es von Anfang an ihr Plan war. Isabella Marchwood hatte keine Ahnung von ihren wahren Absichten, doch Jemima Scott und Owen Pritchard hatten entschieden, dass Allegra Benedict den Green Park nicht mehr lebend verlassen würde. Aber das zu beweisen …? Das ist eine ganz andere Sache. Die Scott ist eine sehr clevere Frau. Sie hat darauf geachtet, nicht am Tatort zu sein, als der Mord durchgeführt wurde. Die Note, die Isabella Marchwood auf der Rückseite eines Flugblatts an sie geschrieben und Pritchard gegeben hat, wanderte sicherlich noch am gleichen Abend ins Feuer. Sie ist zu clever, um abzustreiten, dass er zu ihr nach Hause kam. Ihre Haushälterin hätte sich vielleicht erinnert und es uns gesagt. Doch Jemima Scott besteht darauf, dass er nur zu ihr kam, um über seine Befürchtungen und Ängste zu reden. Und dass sie ihm gesagt hätte, sie würde in seinem Namen mit Isabella Marchwood reden und sie von der Notwendigkeit überzeugen, Stillschweigen zu bewahren. Mehr nicht.«
Wir schwiegen erneut, und ich starrte in die sich abmühenden Flammen, während Ben seinen eigenen Gedanken nachhing. Plötzlich ertönte aus der Küche ein besonders lautes Krachen, gefolgt von Bessies Stimme. »Keine Sorge, Missus, es ist nichts passiert!«
»Weißt du, Lizzie, als ich mit den Ermittlungen zu diesem Fall angefangen habe, dachte ich zuerst, wir hätten es mit zwei verschiedenen Mördern zu tun«, sagte Ben leise. »Einem, der sich als Phantom verkleidet an die Straßenmädchen heranmachte, wie zum Beispiel die arme Clarrie Brady, und einem anderen, der Allegra Benedict und hinterher Isabella Marchwood ermordet hatte.«
»Und in Wirklichkeit gab es die ganze Zeit nur einen, nämlich Pritchard, wie sich schließlich herausgestellt hat«, sagte ich.
»Es kommt darauf an, wie man es betrachtet, Lizzie. Es gab lediglich ein Paar Hände, nämlich die von Pritchard, der die Morde ausführte, aber es steckten zwei Gehirne hinter alledem. Das war es, wie ich heute weiß, was mich anfänglich auf eine falsche Spur geführt hat. Allein auf sich gestellt, hätte Pritchard weiterhin im Nebel die Straßen am Fluss unsicher gemacht und sich auf die Prostituierten beschränkt, deren Aktivitäten ihn so sehr beleidigten, bis wir ihn irgendwann geschnappt hätten. Er hatte keine Veranlassung, Allegra Benedict in den Park zu locken und zu töten. Er hat sie überhaupt nicht gekannt! Vergiss nicht, Pritchard wurde nie zu den Soireen nach Wisteria Lodge eingeladen, wo Fawcett und Allegra sich kennengelernt hatten. Allegra war nie bei den sonntäglichen Temperenzversammlungen. Pritchard hatte Allegra Benedict vor dem schicksalhaften Zusammentreffen im Green Park noch nie gesehen. Er wusste nur deswegen von der Liaison zwischen Fawcett und Allegra, weil Mrs. Scott es ihm gesagt und weil sie ihn überzeugt hatte, dass Allegra eine ernste Gefahr für den ›Geistlichen‹ wäre. Anschließend hatte sie nur noch wenig Mühe, ihm einzureden, dass die Gefahr aus dem Weg geräumt werden müsse. Ein Mann, aber zwei Gehirne, wie gesagt. Ein doppelköpfiges Monster, wenn du so willst.«
»Wird ein Richter oder eine Jury das glauben?«, fragte ich, fassungslos angesichts des Bildes, das Ben von den Verschwörern gezeichnet hatte.
»Sie werden das glauben, was der Anwalt der Krone in einem ordentlichen Prozess beweisen kann«, sagte Ben kleinlaut. »Wo sind die Beweise? Es gibt keine Zeugen für die Unterhaltungen zwischen Scott und ihrem Lakaien. Abgesehen von der Tatsache, dass sie Pritchard nach dem Mord an Allegra und auch nach dem Mord an Isabella Marchwood geschützt hat, steht Aussage gegen Aussage – die eines geständigen Mörders gegen ihre. Wegen dieser Strafvereitelung ist sie schuldig, aber das wiegt weniger schwer als Anstiftung oder gemeinschaftliche Verschwörung zum Mord.«
»Dann gibt es keine Gerechtigkeit?«, empörte ich mich.
Er zuckte die Schultern. »Hast du die Zeitungen gelesen?«
»Heute noch nicht«, gestand ich.
»Wenn du es tust, wirst du sehen, dass die Presse Jemima Scotts Vergangenheit während des Indischen Aufstands recherchiert hat. Sie schreibt von den Entbehrungen, die sie und andere während der fünfmonatigen Belagerung ertragen mussten, und wie ihr Mann starb, trotz all ihrer Bemühungen, sein Leben zu retten. Ein oder zwei Zeichner haben die Szene sogar illustriert … der sterbende Major Scott in den Armen seiner liebenden Frau.« Er lächelte bitter. »Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass ein Richter seine schwarze Mütze überstreift und eine Heldin von Lucknow zum Tode verurteilt.«
»Ich denke, Bessie hat jegliches Interesse an der Temperenzbewegung verloren«, beendete ich das lange Schweigen, das sich an diese Worte anschloss.
»Gott sei Dank«, sagte Ben. »Vielleicht kann ich jetzt endlich wieder in Ruhe ein Glas Porter zum Abendessen trinken.«
Inspector Benjamin Ross
Ein paar Tage nach meiner Unterhaltung mit Bessie war ich erneut unterwegs über die Waterloo Bridge. Es war ein heller, freundlicher Tag und die Luft ganz klar. Ich pfiff leise vor mich hin, denn letzten Endes hatten wir den Mord im Green Park aufgeklärt (und den in der Eisenbahn obendrein, nicht zu vergessen den an der armen Clarissa Brady), und obwohl die Fälle noch vor Gericht verhandelt werden mussten, waren wir erfolgreich gewesen. (Lizzie würde zwar niemals zufrieden sein, aber daran konnte ich nichts ändern. Als Polizeibeamter ist man sehr oft unzufrieden mit dem Ergebnis einer Gerichtsverhandlung, doch man weiß auch, dass diese Dinge letzten Endes von Anwälten entschieden werden.)
Selbst ein Fall, den ich nicht geleitet hatte, war aufgeklärt worden. Als ich am vorangegangenen Abend das Gebäude von Scotland Yard verlassen hatte, war ich meinem Kollegen Inspector Phipps begegnet, in Begleitung eines cholerisch aussehenden Gentlemans mit einem prachtvollen Backenbart und einem Monokel, das an einem Band von seinem Hals baumelte.
»Ah, Ross«, sagte Phipps mit einem süffisanten Grinsen. »Es wird Sie freuen zu erfahren, dass wir die Bande geschnappt haben, die so dumm war, Colonel Frey hier zu bedrohen. Es gibt keine Ehre unter Dieben, besagt das Sprichwort, und einer von ihnen beschloss, sich als Kronzeuge zur Verfügung zu stellen, nachdem er erfahren hatte, dass Scotland Yard an dem Fall dran war.« An seinen Begleiter gewandt fügte er hinzu: »Das ist übrigens Inspector Ross, Colonel, der erste Beamte, der die Ermittlungen auf Ihrem Gestüt aufgenommen hat. Sie waren zum damaligen Zeitpunkt unterwegs, wenn ich richtig informiert bin, und haben ihn nicht kennengelernt.«
Der Colonel schraubte sich das Monokel ins Auge und musterte mich eingehend. »Ah, ganz recht. Gute Arbeit, äh … Ross. Gute Arbeit.«
»Es war Inspector Phipps’ Arbeit, Sir. Ich habe ihn nur vertreten an diesem einen Tag«, erklärte ich mit angemessener Bescheidenheit.
»Nichtsdestotrotz, Sie haben Ihren Teil beigetragen, keine Frage. Guter Mann!«
Mit einem Nicken stapfte der Colonel an mir vorbei. Phipps folgte ihm auf dem Fuß und zwinkerte mir im Vorbeigehen zu.
Ich dachte noch immer an diese Begegnung und lächelte vor mich hin, als ich eine vertraute Gestalt bemerkte, die mir über die Brücke entgegenkam, mit munter hüpfenden Federn auf der Haube.
»Ei, hallo Mr. Ross!«, begrüßte mich Daisy fröhlich.
»Guten Tag auch Ihnen, Daisy. Ist das ein neuer Hut?«
»Das … ach nein.« Daisy hob die Hand und betastete das Gebilde, das ihre roten Haare zierte. »Es ist immer noch der gleiche Hut, aber ich hab ein paar neue Federn, um die zu ersetzen, die Lily Spraggs abgebrochen hat. Ich hab sie von einem Geflügelhändler auf dem Markt. Sie sind von einem Pfauenschwanz. Hübsch, nicht wahr?«
»Sehr elegant«, sagte ich.
»Die Mädchen sind alle sehr erleichtert, dass das Phantom geschnappt wurde«, informierte mich Daisy. »Jetzt müssen sie keine Angst mehr haben, dass es sie in jeder nebligen Nacht aus den Schatten heraus anspringt.«
»Daisy«, sagte ich verlegen, »Sie wissen sicher, dass es ständig neue Gefahren für Sie und Ihre … Freundinnen gibt, auch wenn eine gebannt wurde? Dieses Gewerbe, das Sie ausüben, hat Sie vielleicht vor dem Arbeitshaus bewahrt, dennoch birgt es viele Risiken. Mädchen wie Sie werden von ihren Kunden angegriffen und von ihren Zuhältern, Männern wie Jed Sparrow. Dann sind da die gesundheitlichen Gefahren, die mit diesem Gewerbe in Verbindung stehen, und all die anderen schädlichen körperlichen Auswirkungen. Sie können jederzeit von der Straße weg verhaftet und einer Zwangsuntersuchung unterzogen werden. Falls sich herausstellt, dass Sie eine Krankheit haben, werden Sie eingesperrt, bis Sie nicht mehr ansteckend sind. Andererseits gibt es mehr als genug Kunden, die Sie anstecken. Es gibt Bedrohungen genug, auch ohne Männer wie Pritchard, die den Mädchen aus irgendwelchen nur ihnen bekannten Gründen auflauern. Und die Jed Sparrows, die versuchen, Ihnen Ihr Geld abzunehmen. Und über alledem, verzeihen Sie, selbst wenn Sie dem Ganzen und den Verheerungen der Syphilis entgehen – Sie werden nicht immer jung und hübsch sein. Was werden Sie tun …«
»Sie halten mir doch wohl keine Predigt, oder?«, unterbrach sie mich.
»Keine Predigt, nein, ich weise Sie lediglich darauf hin, als ein Freund und jemand, der sehr in Ihrer Schuld steht, weil Sie meine Frau gerettet haben, dass Sie ernsthaft darüber nachdenken sollten, dieses Leben an den Nagel zu hängen. Sie wollen doch nicht eines Tages wie Ihre unglückliche Freundin Clarrie enden, im Fluss?«
»Es ist das Einzige, was ich kann«, sagte Daisy nach einem Moment.
»Aber Sie könnten etwas Neues lernen. Meine Frau kennt eine Organisation in Marylebone. Sie hat zum Ziel, Mädchen von der Straße zu holen. Sie lehrt diese Mädchen Dinge, die sie in die Lage versetzen, eine Arbeit zu finden.«
»Ich kenne mich aus mit diesen Organisationen!«, rief Daisy mit verächtlichem Schnauben. »Sie bringen einem bei, als Hausmädchen zu arbeiten. Was denn, soll ich den Rest meines Lebens damit verbringen, zu schrubben und abzustauben, und alle fünf Minuten läutet irgendeine alte Frau eine Klingel und erwartet, dass ich herbeigerannt komme und frage, was sie wünscht? Ganz bestimmt nicht, Mr. Ross! Machen Sie sich keine Gedanken um mich, und sagen Sie auch Ihrer Frau, dass sie sich nicht sorgen soll. Ich bin froh, dass ich und diese lustige Person, die bei Ihnen arbeitet, rechtzeitig hinzugekommen sind, um das Phantom von ihr zu zerren.« Sie grinste niederträchtig. »Sehen Sie, Ihre Frau ist eine sehr respektable Person, und trotzdem wurde sie von dem alten Phantom in seinem Kostüm angegriffen, oder etwa nicht? Es ist nicht das Leben draußen auf der Straße, das so riskant ist für uns. Es reicht schon, eine Frau zu sein, das reicht völlig aus.«
Sie lachte laut auf, winkte mir ein letztes Mal zu und ging an mir vorbei über die Brücke. Ich drehte mich um und sah den Pfauenfedern hinterher, die tapfer auf ihrem renovierten Hut tanzten.