KAPITEL ZWÖLF

 

Inspector Benjamin Ross

 

»Meiner Meinung nach besteht nicht der geringste Zweifel, dass dieser Fawcett ein Betrüger ist«, sagte ich am nächsten Morgen zu Dunn, nachdem ich ihm Lizzies Bericht ihres Besuchs in Clapham wiedergegeben hatte. »Diese Witwe, Mrs. Scott, ist ihm blindlings verfallen. Andere werden ihm genauso hörig sein. Wir müssen gegen ihn ermitteln.«

»Die Angelegenheit ist bereits in vollem Gang«, antwortete Dunn. »Ich habe mich mit mehreren anderen Polizeidirektionen in Verbindung gesetzt und die Beschreibung weitergeleitet, die Mrs. Ross von ihm gegeben hat. Wir müssen allerdings vorsichtig zu Werke gehen, oder er wird vermuten, dass sein Spiel in London durchschaut wurde, und sich zu neuen Gefilden aufmachen.«

»Dessen bin ich mir bewusst, Sir«, sagte ich trübselig.

Ich war frustriert, dass wir Fawcett und seinem profitablen Schwindel nicht auf der Stelle Einhalt gebieten konnten, doch der Superintendent hatte recht. Beim leisesten Anzeichen unseres Verdachts würde er sich unserem Zugriff entziehen. Er würde irgendwo anders von vorn anfangen, und wir konnten erst dann irgendetwas gegen ihn unternehmen, wenn er dort wieder bei der Polizei auffällig wurde. Es gab mehr als genug von seiner Sorte, die jahrzehntelang »im Geschäft« blieben, bevor das Gesetz ihrer endlich habhaft wurde. Und selbst dann war es stets äußerst schwierig, ihnen irgendetwas nachzuweisen. Häufig bestand das Problem darin, dass die Getäuschten nicht willens waren, vor Gericht gegen die Betrüger auszusagen und einzugestehen, dass man sie zum Narren gehalten hatte. Mrs. Scott zum Beispiel würde es niemals öffentlich zugeben, selbst wenn es uns irgendwann gelang, sie von seinen Betrügereien zu überzeugen. Ihr Stolz würde sie daran hindern, unter anderem. Die Fawcetts dieser Welt konnten überleben, weil sie ihren Opfern nicht nur Geld weggenommen hatten. Der Betrüger kann sich sicher wähnen, weil sein Opfer ihm etwas viel Kostbareres geschenkt hat: sein Vertrauen und mit ihm in gewisser Weise sein Herz. Für die Betrogenen ist die Erkenntnis der Wahrheit ein schwerer Schock – eher vergleichbar mit der Entdeckung der Untreue eines geliebten Menschen als mit gewöhnlichem Betrug. Wir als Polizisten können nichts weiter tun als hoffen, dass diese Erkenntnis in den Opfern genügend Wut freimacht, um wenigstens einige von ihnen zum Reden zu bringen.

Ich verließ Dunn in dem Gefühl, dass sich die Dinge nicht in unserem Sinn entwickelten. Doch wie so oft zeigte sich im Unerwarteten ein Hoffnungsschimmer.

»Wir haben ihn, Sir!«, erklärte Morris und stellte zur Abwechslung einmal ein breites Lächeln zur Schau. »Ich habe ihn gefunden, diesen Seymour! Genau wie Sie vermutet haben. Er steht bei der ›Agentur für gehobenes Hauspersonal‹ draußen in Northwood unter Kontrakt.« Morris schnaubte abschätzig. »Man braucht erst gar nicht hinzugehen, wenn man bloß eine Magd sucht. Gouvernanten, Gesellschafterinnen, die besten Kammerzofen, Herrendiener und Butler, das ist es, was man dort bekommt. Wie dem auch sei, Mr. Mortimer Seymour ist inzwischen Butler in einem Haushalt in der Nähe von Newmarket, bei einem Colonel Frey. Ich habe die Adresse hier.« Er winkte mit einem Blatt Papier. »Soll ich zu ihm fahren und mit ihm reden?«

Ich nahm das Blatt entgegen. »The Manor House«, las ich. »Wir müssen uns wahrscheinlich an seinen Herrn wenden, wenn wir mit ihm reden wollen. Besser, wenn ich selbst fahre. Der Colonel wird meinen Dienstrang erkennen.«

Morris nickte. »Sicher, Sir. Sie haben recht. Mich würde man doch nur gleich wieder zur Hintertür schicken.«

»Sie führen diese Ermittlungen offensichtlich per Eisenbahn durch«, brummte Dunn. »Wenn Sie Ihre täglichen Spesen überschreiten, kann ich Ihnen auch nicht weiterhelfen. Das Department verfügt nicht über unbeschränkte Mittel, und die meisten Ihrer Kollegen erledigen ihre Arbeit innerhalb der Stadtgrenzen zu Fuß. Hoffen wir, dass Sie diesmal irgendetwas Stichhaltiges finden.«

Das hoffte ich ebenfalls. Ich hatte reichlich Zeit, um mir eine Strategie zu überlegen, während der Zug mich durch die friedliche ostenglische Landschaft nach Newmarket beförderte. Es war nicht vorherzusehen, wie der Colonel reagieren würde, wenn ein Polizeibeamter vor seiner Haustür auftauchte und einen seiner Bediensteten zu befragen wünschte. Ich wollte nicht, dass Seymour deswegen seine Anstellung verlor. Ich überlegte, dass ich nach meiner Ankunft zunächst mit einer Droschke zu dem Dorf fahren würde, wo der Colonel lebte, und nach meiner Ankunft eine gut gehende Taverne aufsuchen würde oder ein kleines Hotel, falls es eines gab, um dort mein Mittagsmahl zu mir zu nehmen. Ich musste einen Weg finden, auch das in meiner Spesenabrechnung unterzubringen. Der Wirt beziehungsweise die Wirtin oder, falls diese nicht verfügbar waren, der Kellner im Speiseraum oder der Schankjunge konnten mir sicher mehr über einen einheimischen Grundbesitzer erzählen. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.

Auf der Kutschfahrt zu meinem Bestimmungsort wurde mir bewusst, dass ich mich in einer Gegend befand, in der Pferderennen großgeschrieben wurden. Es gab reichlich Hinweise darauf, angefangen bei ganzen Herden von Vollblütern auf den Weiden bis hin zu den Namen der Pubs und Tavernen, die alle in einem mehr oder weniger direkten Zusammenhang mit dem Turf zu stehen schienen. Die Taverne, in der ich schließlich landete, war ein großes, komfortables Lokal mit dem Namen »Finishing Post«, Zielpfosten. Sehr komisch, dachte ich. Im Kamin brannte ein prasselndes Feuer, und die Speisekarte bot eine Auswahl Schweinekoteletts, Schnitzel oder Lammragout. Ich entschied mich für das Ragout, und kurze Zeit später kam der noch hübsch brodelnde Eintopf, in dem zwischen dem Fleisch Karotten, gelbe Rüben und silbrige Perlgraupen schwappten. Der Duft war betörend, und mir lief das Wasser im Mund zusammen.

»Alles in Bier gekocht, Sir«, versprach der Kellner, als er einen großzügig gefüllten Teller vor mir abstellte.

Ich begann ordentlich zu futtern, wie die beiden anderen Gäste, zwei Burschen mit grell karierten Jacken, deren Unterhaltung für mich unverständlich war. Ich habe mich nie für Pferderennen interessiert. Glücklicherweise waren die beiden vor mir fertig und gingen, sodass ich allein war, als der Kellner mir den Kaffee brachte.

»Können Sie mir vielleicht verraten, wie ich zu Manor House komme, dem Wohnsitz von Colonel Frey?«, erkundigte ich mich.

Die Miene des Kellners hellte sich auf. Er beugte sich verschwörerisch vor und flüsterte mit gesenkter Stimme, obwohl wir inzwischen alleine waren: »Sie müssen der Polizeibeamte vom Scotland Yard sein, Sir.«

Ich machte mir nicht die Mühe, ihn zu fragen, woran er mich als Polizeibeamten erkannt hatte, auch wenn das hier draußen auf dem Land überraschender kam als beispielsweise im Conquering Hero in London, als Jed Sparrow mich durchschaut hatte.

Doch die Art und Weise der Anrede verblüffte mich ganz beträchtlich, und es gelang mir nicht, dies zu verbergen. »Sie haben einen Beamten erwartet?«, fragte ich. Wie war das möglich? Es hatte doch wohl niemand voraustelegrafiert, dass ich unterwegs hierher war?

»Wir wissen alle, dass der Colonel nach einem Officer geschickt hat«, sagte der Kellner selbstgefällig.

»Tatsächlich?«, erwiderte ich, während ich mental meine gesamte Strategie bezüglich der Kontaktaufnahme zu diesem Colonel umsortierte. »Dann ist es also allgemein bekannt?«, fügte ich hinzu.

»Wir sind hier im Pferdeland, Sir, und das ist schon so seit den Zeiten des guten King Charles dem Zweiten. Wenn es um die Pferde geht, weiß jeder Bescheid.«

Die Pferde! Ich hätte es mir vielleicht denken können. Es ging nicht um irgendeinen grausigen Mord oder einen Raubüberfall, sondern es hatte irgendetwas mit Pferden und Stallungen zu tun. Was den Fröhlichen König anging, so tauchte er im Verlauf dieser Ermittlungen anscheinend überall auf. Wenn er nicht im Green Park spazieren ging und Bäume pflanzen ließ, dann hatte er offensichtlich hier draußen in Newmarket Pferderennen verfolgt.

»Eine unangenehme Geschichte«, sagte ich in vertraulichem Tonfall zu dem Kellner, passend zu seinem eigenen.

»Allerdings, Sir. Wenn es sich herumspricht, dass jemand bei den Pferden war … nun ja, die Sicherheitsmaßnahmen wurden bei sämtlichen Ställen erhöht. Der Colonel lässt ein paar seiner Leute Tag und Nacht die Stallungen patrouillieren. Mit Schrotgewehren! Allerdings habe ich gehört, dass er überlegt haben soll, die Polizei um Hilfe zu rufen.«

Mir wurde bewusst, dass ich an diesem Punkt vorsichtig sein musste. Ich wollte mich schließlich nicht dem herbeigerufenen Officer gegenüber wiederfinden und ihm und dem Colonel erklären müssen, warum ich mich für jemand anders ausgegeben hatte.

»Wir hätten nicht gedacht, dass Sie so schnell herkommen«, sagte der Kellner anerkennend. »Wir hatten Sie eigentlich erst nächste Woche erwartet.«

Na, Gott sei Dank, dachte ich.

»Deswegen ist der Colonel auch für ein paar Tage verreist«, sagte der Kellner. Er war ein ausgezeichneter Informant, keine Frage. Wir hätten ein paar von seiner Sorte in London gebrauchen können. Und der Colonel war nicht zu Hause? Es wurde immer besser. Liefen die Dinge nach so viel vergeblichen Mühen endlich einmal in unserem Sinne? Es wäre zu schön, um wahr zu sein.

»Er wird sicher bedauern, dass er Sie verpasst hat«, sagte der Kellner.

»Und seine, äh, Frau? Ist die Lady in Manor House?«, erkundigte ich mich.

»Mrs. Frey begleitet den Colonel. Ich glaube, sie besuchen ihren Sohn. Er ist an der Universität von Oxford«, informierte mich der Kellner. »Wir hatten eigentlich erwartet, dass der junge Master Frey nach Cambridge geht, aber sein Vater hat anders entschieden.«

Es gibt nicht viel Privatsphäre in solch kleinen Gemeinden, und es schien, als hätten der Colonel und Mrs. Frey keinerlei Geheimnisse vor den Einheimischen, zumindest nicht, was ihre allgemeinen Geschäfte und ihre Reisen anging.

»Ein weiterer Beamter wird vorbeikommen, wenn der Colonel zurück ist«, versicherte ich dem Kellner. »Einstweilen jedoch würde ich gerne zum Manor House und ein paar Erkundigungen einholen.«

»Anderthalb Meilen die Straße runter«, sagte der Kellner. »Nach rechts, wenn Sie rauskommen. Sie können es überhaupt nicht verfehlen.«

Gut, dass ich nicht vorhatte, die Pferde zu stehlen – und gut, dass mich die bewaffneten Wachen des Colonels nicht mehr überraschen konnten. Möglicherweise würde es schwieriger werden, an ihnen vorbeizukommen, als an all die Hintergrundinformationen zu gelangen, die mir der Kellner so bereitwillig geliefert hatte.

Manor House war tatsächlich nicht zu verfehlen. Am Straßenrand leuchtete ein weißes Schild und verkündete unübersehbar »Manor Stables«. Der Colonel war offensichtlich in den Ruhestand getreten und hatte sich als Pensionär entweder der Zucht oder der Ausbildung von Rennpferden gewidmet.

Ich bog in eine Auffahrt ein und näherte mich einem beträchtlichen Anwesen. Zu meiner Rechten lag das eigentliche Manor House, ein ausladendes, graues Steingebäude mit hohen Schornsteinen, das aussah, als stammte es aus der Zeit des guten King Charles II. Zu meiner Linken gab es mehrere Stallgebäude um einen großen Hof, und dahinter erspähte ich eine gepflegte Rennstrecke, die hinausführte in die Landschaft.

Ich hatte kaum Zeit gefunden, mich ein wenig umzusehen, als ein sehr dicker Mann mit einer Ehrfurcht gebietenden Donnerbüchse in den Händen, einem Bowler auf dem Kopf und Blumenkohlohren hinter einem Baum hervortrat und mir den Weg versperrte.

»Guten Tag, Sir!«, rief er mir entgegen. »Suchen Sie vielleicht jemanden?«

Die Worte klangen einigermaßen freundlich, doch die Donnerbüchse war es nicht.

»Ich bin Inspector Ross von Scotland Yard«, sagte ich hastig. »Wenn ich Ihnen meinen Ausweis zeigen darf?«

Ich reichte ihm das Dokument, und es wurde äußerst gründlich untersucht. Schließlich nickte er und gab es mir zurück. Zu meiner Erleichterung senkte er auch endlich den Lauf seiner Büchse.

»Wir haben Sie erwartet, Sir«, sagte er. »Allerdings ist der Colonel derzeit nicht zu Hause.«

»Das ist wirklich zu schade«, antwortete ich gefasst. »In diesem Fall dürfte ich vielleicht, da ich nun schon einmal von London hergekommen bin, den Stall sehen und mit dem Verwalter des Hofes sprechen? Einer meiner Kollegen wird nächste Woche noch einmal vorbeikommen, wenn der Colonel wieder zu Hause ist.«

»Der Verwalter heißt Mr. Smithers, Sir«, sagte der Mann. »Wenn Sie mir bitte folgen wollen.«

Ich tat wie gebeten, und wir kamen in den großen, sauber gefegten Hof, wo ein Knabe unter den strengen Blicken eines stämmigen, rotgesichtigen Mannes mit Gamaschen ein Pferd im Kreis herumführte.

»Wer ist das, Kelly?«, wollte der Rotgesichtige wissen, als ich mich mit meiner bewaffneten Eskorte näherte.

»Das ist Inspector Ross, Mr. Smithers, Sir. Vom Scotland Yard, genau wie der Colonel es angeordnet hat.«

So, so. Polizeibeamte sind Diener der Öffentlichkeit, und wenn Colonel Frey einen Detective herbestellt hatte – ich war da.

Der Rotgesichtige, dessen purpurne Nase eine gute Bekanntschaft mit starkem Weingeist vermuten ließ, drehte sich wieder zu dem Knaben um. »Los, Jim, führ ihn weiter. Immer im Kreis herum.«

Dann nickte er Kelly zu, der damit entlassen war, und wandte sich an mich. »Sie wollen sicher den Grundriss der gesamten Anlage sehen«, sagte er.

»In der Tat, Sir, danke sehr.«

Ich folgte ihm über das Anwesen, während ich ihm, wie ich hoffte, halbwegs angemessene Fragen stellte. Aus den Antworten schloss ich, dass Mitglieder einer berüchtigten Bande von Pferde-Dopern in der Gegend gesichtet worden waren.

»Wir wissen sogar, hinter welchem sie her sind«, vertraute Smithers mir an. »Es ist Seine Eminenz, hier.«

Ich sah ihn verwirrt an – was hatte ein Geistlicher damit zu tun? Doch dann ertönte ein Schnauben und Hufescharren, und der Kopf eines kastanienbraunen Pferdes erschien über einer Stalltür. Seine Eminenz stellte die Ohren auf und sah mich fragend an. Ich war froh, dass er nicht sprechen konnte – er sah intelligenter aus als seine Betreuer.

»Ist denn die Saison noch nicht vorbei?«, fragte ich.

»Nun ja, Sir, eigentlich schon. Aber ich dachte, der Colonel hätte erklärt, dass das nicht das Problem ist«, entgegnete Smithers mit aufflackerndem Misstrauen in den Augen.

»Ich habe nicht selbst mit Colonel Frey gesprochen«, beeilte ich mich zu sagen. »Ich bin lediglich informiert, dass es um illegales Dopen von Pferden geht.«

»Mehr als das, Sir«, sagte Smithers grimmig. »Es geht um Vergiften. Sie wollen Seine Eminenz töten, sagen sie jedenfalls, sollte sich der Colonel weigern zu bezahlen. Der Verlust Seiner Eminenz wäre ein schwerer Schlag. Die Deckgebühren, wenn Sie verstehen.«

»Also geht es um Erpressung!«, rief ich aus, als mir klar wurde, was Smithers gesagt hatte.

»Der Colonel hat alle Briefe zum Scotland Yard mitgenommen. Aber er denkt gar nicht daran zu zahlen, Sir!«

»Selbstverständlich nicht«, pflichtete ich ihm bei. »Man darf niemals nachgeben, unter keinen Umständen. Aber wir werden die Halunken schnappen, keine Angst.«

»Wer auch immer es ist, sie haben diese Doping-Gauner angeheuert, die die Drecksarbeit für sie erledigen«, informierte mich Smithers.

»Wenn sie so einfach zu sehen und zu erkennen waren, dann würde ich sagen, es steckt Absicht dahinter«, sagte ich. »Der Erpresser will seiner Drohung Nachdruck verleihen, indem er den Colonel wissen lässt, dass seine angeheuerten Ganoven bereitstehen, sollte er nicht nachgeben.«

»Der Colonel wird nicht nachgeben, Sir. Er ist ein Militär.«

Leider war es an der Zeit, sich aus einem Fall zurückzuziehen, der äußerst interessant zu sein schien. Es war nicht mein Fall. Sobald ich wieder in London war, würde ich herausfinden, wer von meinen Kollegen dafür zuständig war, und ihn über meine Aktivitäten informieren sowie über die Freiheit, die ich mir zur eigenen Tarnung mit seinen Ermittlungen genommen hatte.

»Sie und Ihre Männer sind offensichtlich auf Draht und leisten ausgezeichnete Arbeit«, sagte ich anerkennend. »Aber was, wenn jemand im Haus irgendetwas Verdächtiges sieht? Geht er oder sie geradewegs zum Colonel?«

»Wohl eher zu Mr. Seymour, dem Butler, Sir. Und Mr. Seymour wird dem Colonel berichten, sollte er die Angelegenheit für ernst befinden.«

»Dann sollte ich mich vielleicht mit Mr. Seymour unterhalten, bevor ich abreise«, schlug ich unschuldig vor.

Und so fand ich mich kurze Zeit später in einem bequemen Sessel in der kleinen Wohnung der Haushälterin wieder. Blumentapeten schmückten die Wände, im Kamin knisterte ein Feuer, vor mir stand eine Tasse Tee, und mir gegenüber saß der schwer zu findende Mortimer Seymour, ehemals Butler im Haus von Sebastian Benedict.

Seymour war ein kleiner, gepflegter Mann mit hoher Stirn und glatt zurückgekämmtem schwarzem Haar. Seine Kleidung war steif und förmlich, und er erinnerte mich stark an ein kleines schwarz-weißes Kätzchen. Er beobachtete mich jedenfalls mit dem misstrauischen Blick einer Katze. Vermutlich ahnte er längst, dass ich wegen ganz anderer Dinge hier war, als der Drohungen eines Erpressers gegen den Colonel.

»Ich möchte offen zu Ihnen sein, Mr. Seymour«, begann ich, während ich meine Tasse abstellte. »Es gibt einen weiteren Grund für mein Hiersein, über den offensichtlichen hinaus.«

»Tatsächlich, Inspector?«, erwiderte er ausdruckslos.

»Vielleicht haben Sie ja sogar längst einen Besuch der Polizei erwartet. Ich will nicht unterstellen, dass Sie in irgendeiner Form in irgendwelche kriminellen Machenschaften verwickelt sind oder waren, Gott bewahre. Doch die jüngsten Ereignisse, die sicherlich nicht unbemerkt an Ihnen vorbeigegangen sind, haben in Ihnen vielleicht die Frage aufgeworfen, ob die Polizei nicht mit Ihnen zu sprechen wünscht. Ich rede nicht von der versuchten Erpressung des Colonels, Mr. Seymour. Ich spreche von den jüngsten Morden, die sich in London ereignet haben. Ich leite die diesbezüglichen Ermittlungen.«

»Das dachte ich mir bereits, Sir«, antwortete Seymour auf die für Butler typische gelassene, unaufgeregte Weise, als hätte ich eine Bemerkung zu einem unerwartet schlechten Wein von einem der Stammlieferanten des Colonels gemacht. Er neigte den Kopf ein wenig nach vorn. »Ich war überrascht, als Smithers sagte, Scotland Yard habe einen Inspector geschickt. Ich hatte nicht erwartet, dass jemand dieses Ranges zu uns kommt, um wegen der Drohbriefe zu ermitteln, die der Colonel erhalten hat. Weswegen ich folgerte, dass ein anderer, sehr viel schwerwiegenderer Grund Sie hierhergeführt haben muss.«

Der Butler war nicht auf den Kopf gefallen und um einiges aufgeweckter als der Stallbursche. Gut so.

»Dann sollten wir gleich zur Sache kommen«, sagte ich forsch. »Wenn ich recht informiert bin, haben Sie in Ihrer letzten Anstellung für einen Mr. Sebastian Benedict gearbeitet, in dessen Haus in der Nähe von Egham, in Surrey.«

Seymour nickte erneut und zeigte weder Überraschung noch Neugier angesichts meiner Worte. »Das ist richtig, Inspector.«

»Wie lange waren Sie bei Mr. Benedict?«

»Fast zehn Jahre, Sir.«

»War es eine gute Stelle?«

»Jawohl, Sir. Mr. Benedict war ein exzellenter gnädiger Herr.«

»Und Mrs. Benedict, die Dame des Hauses? Wie würden Sie sie beschreiben?« Ich wartete ungeduldig auf seine Antwort. Sie war der ganze Grund für mein Hiersein. Ich wollte nicht zum Scotland Yard und Superintendent Dunn zurückkehren und gestehen, dass ich eine Niete gezogen hatte.

»Als verstorben, Sir«, antwortete Seymour mit unerwartet trockenem Humor. »Ich habe in den Zeitungen von den erwähnten Ereignissen gelesen und gestehe, dass es mir sehr nahegegangen ist. Mrs. Benedict war eine äußerst liebenswürdige gnädige Herrin.«

»Der Tod ebenjener Lady ist das Ziel unserer Ermittlungen, wie Sie sich vielleicht denken können«, fuhr ich fort. »Wir hatten gehofft, dass ihre Gesellschafterin, Miss Isabella Marchwood, uns vielleicht nützliche Hintergrundinformationen liefern kann. Unglücklicherweise wurde sie ebenfalls ermordet, bevor sie eine Gelegenheit dazu bekam, und zwar in einem Zug. Haben Sie vielleicht auch davon gelesen?«

Seymour nickte, und sein wachsamer Gesichtsausdruck kehrte zurück.

»Wir haben aus diesem Grund unser Netz weiter ausgeworfen, auf der Suche nach besagten Informationen. Als Butler, der so lange Jahre im Haushalt der Benedicts gearbeitet hat, müssen Sie doch sicher der meisten Dinge gewahr gewesen sein, die dort vorgegangen sind, richtig?«

»Es ist meine Aufgabe, Bescheid zu wissen über das, was das Personal tut«, antwortete Seymour vorsichtig. »Es ist nicht meine Aufgabe, im Privatleben meines gnädigen Herrn herumzuschnüffeln.«

»Kommen Sie, Seymour«, drängte ich. »Wir versuchen einen Doppelmörder zu finden. Wie viele Frauen wollen Sie denn noch auf diese grausige Art ermordet sehen?«

Seymour errötete, und sein förmliches Benehmen wurde leicht aufgeregt. »Keine, Inspector! Um Himmels willen, was denken Sie denn? Ich habe Miss Marchwood bewundert! Sie war eine Frau aus respektabelstem Hause, die in Bedrängnis geraten war und nur aus diesem Grund Anstellungen als Gesellschafterin annahm. Sie ist niemandem zu nahe getreten, und ich weiß beim besten Willen nicht, warum man sie in diesem Zug ermordet hat! Ich nehme an, Sie können ausschließen, dass der Mörder die Identität verwechselt hat? Dass er sie für eine andere Person gehalten hat? Oder dass es sich um einen Raubüberfall gehandelt hat, der außer Kontrolle geraten ist?«

In seiner Stimme schwang jetzt definitiv ein verzweifelter Unterton mit. Aha!, dachte ich. Mr. Mortimer Seymour weiß etwas. Er würde es mir lieber nicht verraten, aber er muss es tun, und ich denke, sobald es ihm klar geworden ist, wird er es auch.

»Völlig unmöglich, Sir«, antwortete ich. »Es handelt sich hier um einen vorsätzlichen Mord an einem ausgewählten Opfer. Der Pompadour der Dame wurde im Abteil des Waggons gefunden, und alles Geld war noch darin. Es gibt noch weitere Details, die tun jedoch im Augenblick nichts zur Sache.«

Seymour stieß einen Seufzer aus.

»Sie haben soeben von Ihrer Arbeit und Ihren Aufgaben gesprochen«, fuhr ich fort. »Sehen Sie, auch ich habe eine Arbeit und Aufgaben. Sie unterscheiden sich von Ihren, doch sie stellen gleichermaßen Verpflichtungen für mich dar. Oft muss ich Dinge tun, die ich lieber nicht tun würde, und Fragen stellen, die mich selbst verlegen machen. Aber ich bin fest entschlossen, diesen Mörder zu finden. Und dazu benötige ich alle Hilfe, die ich kriegen kann. Vielleicht kann ich Ihnen ein wenig entgegenkommen. Mir ist bewusst, dass es einen größeren Altersunterschied zwischen Mr. Benedict und seiner jungen Frau gegeben hat, dass sie keine Britin war und aller Wahrscheinlichkeit nach auch nicht sehr glücklich in ihrer Ehe. Würden Sie mir darin zustimmen?«

»Ja, Inspector«, sagte Seymour nach einigen Sekunden des Schweigens.

»Sie sind sehr plötzlich aus den Diensten von Mr. Benedict ausgeschieden. Mr. Benedict war sehr erbost darüber. Er hat noch niemanden eingestellt, um Sie zu ersetzen.«

Jetzt blickte Seymour entschieden gequält drein. »Tatsächlich nicht? Das tut mir leid zu hören, Sir. Ich hätte Mr. Benedict gewiss nicht so hängen lassen, wenn ich nur hätte bleiben können. Aber es war mir unmöglich geworden.«

»Weil Sie, genau wie ich, Dinge erfahren hatten, die Sie lieber nicht gewusst hätten?«

Er seufzte und nickte. »Das ist richtig, Inspector. Wie ich bereits sagte, es war nicht an mir, mich für das Privatleben von Mr. Benedict zu interessieren. Doch angesichts meiner Position in seinem Haushalt war es nahezu unmöglich, nicht über gewisse Dinge zu stolpern.« Er zögerte, während er nach Worten suchte. Ich setzte ihn nicht unter Druck. Er hatte sich zum Reden entschlossen, und er würde reden.

»Das Hauspersonal hier untersteht mir«, sagte er dann. »Sie haben vorhin gefragt, wenn ich das richtig sehe, ob jemand vom Personal, der etwas Verdächtiges um das Haus herum beobachtet hat, dies dem Colonel berichten würde, und Smithers hat Sie informiert, dass ich derjenige bin, an den man sich zuerst wendet.«

»Ja«, räumte ich ein. »Und ich wäre Ihnen zu Dank verbunden, wenn Sie weiterhin vorgeben würden, dass ich einzig und allein wegen der erpresserischen Drohungen gegen den Colonel hergekommen bin.«

»Das käme mir ebenfalls gelegen«, räumte Seymour offen ein. »Ein Mord versetzt die Menschen in Aufregung. Ich habe niemandem vom hiesigen Personal erzählt, dass ich Butler im Haushalt der ermordeten Frauen war. Der Colonel weiß von meiner vorherigen Arbeitsstelle, nicht zuletzt, weil Mr. Benedict so liebenswürdig war, mir ein Empfehlungsschreiben mitzugeben. Doch der Colonel ist gegenwärtig voll und ganz mit dem Erpressungsversuch beschäftigt, und ich bezweifle sehr, dass ihm die Gleichheit der Namen des Opfers und meines früheren gnädigen Herrn aufgefallen ist.«

»Also abgemacht.« Ich lächelte ihn ermutigend an.

Beinahe hätte er zurückgelächelt. »Danke sehr, Sir. Sie haben Miss Marchwood erwähnt. Sie war eine sehr fromme Person. Irgendwie kam sie mit einer der verschiedenen Temperenzbewegungen in London in Kontakt. Sie fuhr jeden Sonntag zu diesen Treffen und lernte dabei eine gewisse Mrs. Scott kennen. Der … der Prediger bei diesen Treffen war ein Mr. Joshua Fawcett. Mr. Fawcett hat auch häufig auf privaten Versammlungen im Haus von Mrs. Scott gesprochen. Mrs. Scott wohnt, wenn ich richtig informiert bin, in Clapham. Meines Wissens ist Mrs. Benedict nie zu den sonntäglichen Versammlungen in London mitgefahren, aber sie war mehrmals zusammen mit Miss Marchwood bei einer der privaten Veranstaltungen von Mrs. Scott in Clapham. Ich nehme an, sie ist nur mitgefahren, um aus dem Haus zu kommen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie sich für die Temperenzbewegung interessiert hat. Doch Sie haben recht, Sir. Mrs. Benedict war einsam und unglücklich. Wir alle konnten es sehen, das gesamte Personal.«

Er seufzte. »Mrs. Benedict war von diesem Fawcett ziemlich beeindruckt. Ich bin ihm nie begegnet, aber wie ich höre, soll er eine sehr einnehmende Persönlichkeit besitzen. Miss Marchwood war ebenfalls von ihm beeindruckt und ließ uns dies wissen. Miss Marchwood war normalerweise eine sehr nüchterne Person, Inspector. Wenn sie schon jede Vernunft fahren ließ in Bezug auf diesen Fawcett, dann kam es nicht überraschend, dass es Mrs. Benedict genauso erging. Mrs. Benedict kam als sehr junge Frau und Braut in dieses Land. Sie war naiv und unerfahren, und ich will ehrlich sein – Mr. Benedict schirmte sie auch mehr oder weniger vor allem ab in seinem Heim. Ich bin sicher, es geschah ausschließlich in bester Absicht. Er wollte sie vor den Gefahren der menschlichen Gesellschaft schützen. Und genau deswegen war sie verwundbar gegenüber Individuen wie diesem Fawcett. Verstehen Sie das, Inspector?«

»Ich verstehe Sie vollkommen, Mr. Seymour«, versicherte ich ihm. Ich hatte Benedicts eifersüchtige Bewachung seiner wunderschönen jungen Frau auf Besitzgier zurückgeführt. Seymour hatte eine freundlichere Interpretation seines Verhaltens geliefert. Wie es auch sein mochte, im Ergebnis war Allegra verletzlich gewesen.

Seymour hob in einer Geste der Resignation die Hand und ließ sie wieder fallen. »Sie sind ein Mann, der sich auskennt im Leben, Inspector. Sie können sich sicher denken, was dabei herausgekommen ist. Ein schmutziges Verhältnis. Ich zweifle nicht daran, dass es Mrs. Benedict als eine wunderbare Liebesgeschichte erschienen sein muss. Die arme Frau war vollkommen hingerissen. Sie dachte nicht eine Sekunde an die Zukunft und daran, wohin das alles führen musste. Denn es konnte nur in einem Desaster enden, und sie stürzte sich kopfüber in ihr Verderben!«

Ein Bild kam mir in den Sinn, »Der Triumph des Todes«, jenes grausige Meisterwerk, das Sebastian Benedict mir gezeigt hatte. Allegra war genau wie die jungen Männer auf dem Bild vor dem Unausweichlichen geflüchtet – mitten hinein in den trügerischen Schutz von Fawcetts ausgebreiteten Armen.

»Wenn ich Isabella Marchwood etwas vorwerfen kann, dann ist es die Tatsache, dass sie die Gefahr ebenfalls nicht erkannt hat«, fuhr Seymour traurig fort. »Wir alle sahen die Veränderungen im Verhalten von Mrs. Benedict. Sie war glücklich, Sir. Wirklich und wahrhaftig glücklich und aufgeregt wie ein Kind. Es gab Briefe … Miss Marchwood beförderte sie persönlich oder brachte sie zur Post. Und er antwortete … diese Briefe kamen definitiv nicht mit der Post, denn sie wären viel zu leicht in die Hände von Mr. Benedict gefallen. Miss Marchwood muss sie eigenhändig überbracht haben. Ich kann nicht verstehen, dass sie sich auf diese Weise mitschuldig gemacht hat! Sie war doch ansonsten eine so aufrechte Frau.« Seymour hob erneut die Hände und ließ sie todunglücklich wieder fallen.

»Frauen wie Miss Marchwood sind häufig die Ersten, die einem Mann wie Joshua Fawcett verfallen«, informierte ich ihn. »Sie sind durch und durch gut und sehen in anderen auch nur das Gute. Aber diese Briefe, die Fawcett und Mrs. Benedict einander geschrieben haben – Sie haben sie mit eigenen Augen gesehen?«

»Henderson, die Zofe von Mrs. Benedict, hat sie gesehen. Sie kam zweimal hinzu, als Mrs. Benedict sie las, und einmal kniete die gnädige Herrin in ihrem Schlafzimmer vor dem Kamin und verbrannte sie. Und dann …« Seymour errötete und presste die Lippen aufeinander.

»Sprechen Sie weiter«, sagte ich behutsam.

»Mr. Benedict wird von alledem erfahren, nehme ich an?«, fragte er und sah mich resigniert an.

»Ich schätze, er kann es sich bereits denken. Doch vielleicht erfährt Mr. Benedict nichts von den Einzelheiten, die Sie mir erzählen. Ich kann Ihnen allerdings nichts versprechen.«

»Es ist eine elende Geschichte!«, platzte Seymour hervor. »Können Sie jetzt verstehen, warum ich meine Stelle überstürzt quittiert habe? Warum ich nicht mehr bleiben konnte, nachdem ich informiert worden war?«

»Von Henderson, nehme ich an, der Zofe.«

»Ja. Und wie ich bereits erklärte, sie kam zu mir in meiner Eigenschaft als Ranghöchster des Personals und bat mich um meinen Rat. Sie wusste nicht, was sie machen sollte. Sie war verängstigt, nervös … Die meiste Wäsche des Hauses wurde nach Egham gebracht, zu einer Waschfrau. Doch einige von Mrs. Benedicts persönlichen und delikaten Stücken wurden von Henderson gewaschen. Einschließlich ihrer … ihrer Unterwäsche.«

Seymour war inzwischen so untröstlich, dass ich ihn aufmuntern musste. »Ich verstehe, was Sie mir sagen wollen, Sir, und wie schwierig es für Sie sein muss. Doch Sie verstehen sicherlich, dass ich als Ermittler, der Beweise sammelt, hören muss, wie Sie es sagen. Es reicht nicht, wenn ich mir denken kann, was Sie sagen wollen.«

»Sie haben vollkommen recht, Inspector. Ich verstehe das. Ich mache eine Aussage, nicht wahr? Nun denn … Henderson war schockiert, weil sie … weil sie Flecken in der Unterwäsche der gnädigen Herrin gefunden hatte nach einer ihrer Einkaufsfahrten nach London. Oder besser gesagt, ihrer sogenannten Einkaufsfahrten«, verbesserte sich Seymour bitter. »Denken Sie nicht, Inspector, dass ich einfach meine Koffer gepackt hätte und davongelaufen wäre, ohne zumindest zu versuchen, die Geschichte in Ordnung zu bringen. Ich hatte ein ernstes Gespräch mit Miss Marchwood. Ich bettelte, ich flehte sie an – vergebens! Sie steckte bereits viel zu tief in der Geschichte drin. Mrs. Benedict bildete sich ein, diesen Mann zu lieben. Sie wollte nicht von Fawcett lassen, und Miss Marchwood blieb nichts anderes übrig, als dabeizustehen und die Dinge bis zum unglückseligen Ende laufen zu lassen. Sie hatte Angst – natürlich hatte sie Angst. Sie hatte viel zu spät erst angefangen zu begreifen … Wie dem auch sei, sie wollte nichts unternehmen, und ich konnte nichts unternehmen. Und so reichte ich mit großem Bedauern meinen Abschied ein.«

Seymour verstummte. Nach einem Moment zog er sein Taschentuch hervor und wischte sich die Stirn.

»Sie haben alles getan, was in Ihrer Macht stand, Mr. Seymour«, versuchte ich den sterbenselenden Mann zu trösten. Seine Situation war unerträglich gewesen.

»Ich konnte nicht mit Mr. Benedict reden. Wie hätte ich das tun können? Es wäre das Ende meiner Anstellung gewesen, ob er mir geglaubt hätte oder nicht.« Er fuchtelte hilflos mit dem Taschentuch herum.

»Mr. Seymour!«, drängte ich. »Ich kann nur wiederholen, Sie haben alles getan, was vernünftigerweise von Ihnen verlangt werden konnte. Sie konnten weder mit Mr. Benedict noch mit seiner Frau direkt sprechen, und Miss Marchwood war Ihre einzige Hoffnung. Sie hat Sie im Stich gelassen.«

Seymour steckte sein Taschentuch weg, und ein Teil seiner früheren steifen Haltung kehrte zurück.

»Sie hat Mrs. Benedict im Stich gelassen«, sagte er gepresst.

Ich war schockiert, wie weit Isabella Marchwoods Komplizenschaft gegangen war. Nicht nur heimliche Stelldicheins in den Parks. Nicht nur mädchenhafte Liebesbriefe. Kein Wunder, dass die Gesellschafterin nicht mit der Polizei hatte reden wollen oder dass Seymours Bitten zu spät gekommen waren. Sebastian Benedicts Zorn hätte keine Grenzen gekannt. Isabella Marchwoods Ruf wäre ruiniert gewesen. Niemand hätte sie jemals wieder als Gesellschafterin eingestellt. Nicht nur Allegra war ihrem Verderben entgegengeeilt. Die unglückselige Gesellschafterin war sehenden Auges hinter ihr hergetaumelt.

»Sagen Sie mir, Inspector«, begann Seymour leise, »glauben Sie, dass dieser Schuft, dieser Fawcett, Mrs. Benedict ermordet hat, um seinen eigenen traurigen Ruf zu schützen?«

»Ich weiß es nicht, Mr. Seymour«, antwortete ich rundheraus.

Ich wusste es tatsächlich nicht. Es wäre nicht das erste Mal, dass eine Geliebte zu einer gefährlichen Belastung geworden war, die aus dem Weg geräumt werden musste, koste es, was es wolle. Doch ich hielt es nicht für wahrscheinlich, dass Isabella Marchwood, wie groß die Angst um die eigene Zukunft auch sein mochte, Allegra Benedict wissentlich zu einem Treffen mit ihrem Mörder begleitet hatte. Zu einem Treffen sicherlich, höchstwahrscheinlich einem Stelldichein unter der alten Eiche im Green Park. Nein, hier gab es noch ein weiteres Element, das wir bisher nicht gefunden hatten.

Und das war mehr oder weniger auch der Kernpunkt dessen, was ich nach meiner Rückkehr zum Scotland Yard Superintendent Dunn berichtete.

Dunn hatte zu meinem Schrecken nichts anderes zu tun, als Benedict sofort aus dem engeren Kreis der Verdächtigen auszuschließen und Fawcett an seine Stelle zu heben. Wir hatten unseren Mann! Daran bestand kein Zweifel mehr! Dunn war völlig aus dem Häuschen vor Aufregung und raufte sich die Haare, bis sein Schopf aussah wie ein Igelrücken, während er in seinem Büro auf und ab marschierte.

»Wir werden den Burschen herbringen und verhören. Wir wissen jetzt, dass er und die tote Benedict eine Affäre hatten. Er hatte ein Motiv, ein starkes Motiv sogar, Ross!«

»Das ist richtig, Sir, dennoch bin ich nicht überzeugt, dass er unser Mann ist. Ich halte ihn für einen geistesgegenwärtigen, genialen Trickbetrüger und Schwindler – aber würde er morden? Wäre er zu einer so krassen Tat fähig? Er ist ein Denker, Sir, kein Schläger.«

»Wenn er in die Ecke gedrängt wurde, wieso nicht? Mord ist schließlich nicht das Vorrecht der Thugs. Wie viele stille, anscheinend harmlose Männer, respektierte Persönlichkeiten in ihrem Bekanntenkreis, haben Sie schon wegen Mordes hängen sehen? Und wie viele strahlende Lebemänner, die sich in eine harmlose Affäre verstrickt haben, sahen nur noch den letztmöglichen Ausweg, um sich ihres Problems zu entledigen? Mehr als nur ein paar, wie Sie und ich sehr wohl wissen. Würde das nicht auch Fawcett beschreiben? Er ist ein Spieler, und früher oder später ist sein Glück am Ende.« Dunn schnippte mit den Fingern und lehnte sich zufrieden über seine eigene Argumentation in seinem Sessel zurück.

»Er wird sich absetzen und verschwinden«, sagte ich. »Wir haben nicht genug gegen ihn in der Hand, um ihn festzuhalten. Wir können ihn verhören, aber mehr auch nicht. Welche Beweise haben wir gegen ihn in der Hand? Reichen ein paar Briefe aus, die die kaum des Lesens fähige Kammerzofe flüchtig gesehen hat? Oder Flecken unbekannter Herkunft in der Unterwäsche? Wir können einigermaßen sicher sein, dass Allegra Benedict einen Liebhaber hatte, falls Fawcett jedoch abstreitet, dieser Liebhaber gewesen zu sein, wie können wir ihm das Gegenteil beweisen? Die einzige Person, die uns alles hätte erzählen können, war Isabella Marchwood, und sie kann nicht mehr reden, die arme Frau. Glauben Sie, er hat die Marchwood ebenfalls umgebracht, genau wie seine Geliebte?«

Dunn beugte sich vor und grinste entschieden bösartig. »Das erste Mal zu morden ist schwer, Ross, aber das zweite oder das dritte Mal … das ist eine ganz andere Sache. Es wird bei jedem Mal leichter, insbesondere, wenn der Killer das Gefühl hat, dass er so einfach mit seiner Tat davonkommt.«

»Er wird flüchten«, wiederholte ich beharrlich. »Wir wissen, dass er geübt darin ist, sich selbst neu zu erschaffen. Zweifellos hat er sein gegenwärtiges Spiel schon woanders gespielt. Sie haben keine Nachricht von Ihren Kollegen bei anderen Behörden, nehme ich an?«

»Hätte ich welche, würde ich Ihnen das längst mitgeteilt haben«, erwiderte Dunn in scharfem Ton. »Nein, ich habe noch nichts. Aber ich vertraue darauf, dass sich die Kosten für die vielen abgeschickten telegrafischen Depeschen amortisieren werden.« Er setzte sich wieder und legte die dicken Finger auf die Schreibtischplatte. »Abgesehen davon werden wir ihn nicht wegen seiner Aktivitäten in der Temperenzbewegung verhören. Wir werden ihn wegen eines Mordes verhören, und wenn er dann flüchtet, sieht er definitiv schuldig aus.«

Es war zwecklos, mit Dunn noch länger darüber zu streiten. Ich hielt es immer noch für voreilig, Fawcett zum Verhör zu bestellen. Gleichzeitig war ich, wie ich gestehen muss, neugierig, den Burschen endlich einmal zu sehen. Wie dem auch sei, es war an Dunn, die Entscheidung zu fällen, und er hatte sie gefällt.

Ich verließ das Büro des Superintendents und machte mich auf die Suche nach dem Kollegen, der den Auftrag erhalten hatte, bezüglich der versuchten Erpressung von Colonel Frey zu ermitteln. Sein Name war Phipps. Ich berichtete ihm von meiner Fahrt nach Newmarket und dass man mich für jemanden gehalten hatte, der von ihm geschickt worden war.

»Ich hoffe, ich habe Ihre eigenen Ermittlungen dadurch nicht gefährdet«, sagte ich. »Ich hatte nicht vor, mich unter falschem Namen einzuschleichen. Es ist nur, sie gingen einfach davon aus … und ich habe nicht widersprochen. Ich hätte mich sonst allem und jedem erklären müssen. Ich wollte Seymour nicht erschrecken, und ich wollte dem Colonel nicht gegenübertreten, wenn ich es irgendwie vermeiden konnte. Die Gelegenheit bot sich, und ich ergriff sie, wie es so schön heißt, beim Schopf.«

»Wenn Sie Colonel Frey kennenlernen wollten, hätten Sie das vor ein paar Tagen hier am Yard haben können«, sagte Phipps gereizt. »Er ist ein energischer alter Knochen. Er kam mit einem Bündel Briefen hereinmarschiert und redete mit mir, als wäre ich ein Untergebener. Es sind ziemlich unbeholfene Briefe, nebenbei bemerkt. Ich empfahl ihm, auf keinen Fall zu antworten, nicht zu zahlen und bewaffnete Wachen vor den Ställen zu postieren, was er offensichtlich getan hat. Was erwartet er von uns? Ich hole Erkundigungen bei sämtlichen bekannten Schiebern ein. Möglich, dass wir den Briefeschreiber finden. Aber wenn ich raten sollte, würde ich sagen, falls es sich als zu schwierig erweist, an das Pferd heranzukommen oder den Colonel einzuschüchtern, dann lassen die Kerle die Finger davon. Außerdem halten sie sich bedeckt, nachdem es inzwischen dort von Beamten des Scotland Yard nur so wimmelt.«

Er bedachte mich mit einem vielsagenden Blick.

Ich entschuldigte mich erneut.

»Ehrlich gesagt, ich hätte es an Ihrer Stelle genauso gemacht«, räumte Phipps schließlich großzügig ein. »Es ist tatsächlich so, dass man nicht mit dem Colonel sprechen möchte, wenn man nicht muss. Es war richtig von Ihnen, ihm aus dem Weg zu gehen. Ich werde den Beamten informieren, den ich nächste Woche hinschicken werde. Er wird Ihre Geschichte unterstützen. Es kann schließlich nicht schaden, wenn der gute Colonel und die Erpresser denken, Scotland Yard schickt jeden verfügbaren Mann.«

Erleichtert, dass Phipps meine Einmischung so gnädig hingenommen hatte, verließ ich sein Büro und kehrte in mein eigenes zurück, wo ich Constable Biddle vorfand, der bereits ganz ungeduldig auf mich wartete.

»Mr. Ross, Sir!«, rief er aufgeregt, kaum dass ich die Tür geöffnet hatte. »Wir haben das Mädchen gefunden, diese Clarrie Brady!«

»Gott sei Dank!«, rief ich erleichtert. »Wo?«

»Im Fluss«, antwortete Biddle.