KAPITEL VIER
Inspector Benjamin Ross
Morris und ich hatten keine Probleme, uns zum Haus der Benedicts durchzufragen, einem stattlichen Anwesen mit Namen The Cedars. Der Stationsvorsteher von Egham kannte Haus und Besitzer und verriet uns nicht nur den Weg, sondern auch, dass das Haus außerhalb der Ortschaft lag.
»Sie finden es ganz oben auf dem Hügel, direkt vor dem kleinen Ort Englefield Green. Es geht eine halbe Stunde lang steil bergauf, Gentlemen – besser, Sie suchen sich eine Kutsche.«
»Wo denn?«, grollte Morris.
»Billy Cooper steht draußen mit seinem Pferdewagen«, sagte der Vorsteher. »Wenn Sie sich beeilen, heißt das. Er hat immer viel zu tun.«
Wir hatten Glück. Draußen vor dem Bahnhof fanden wir einen offenen Einspänner mit einem Pony auf Kundschaft warten. Wir riefen den Fahrer eine Sekunde vor einem stämmigen Gentleman mit einem großen Schrankkoffer, der seinem Missvergnügen darüber lautstark Ausdruck gab. Ich versicherte ihm, dass wir in offizieller Angelegenheit unterwegs waren, und der Kutscher versprach, innerhalb zwanzig Minuten zurück zu sein.
Falls der Stationsvorsteher recht hatte und der Hügel wirklich steil war, dann war diese Vorhersage meines Erachtens eine sehr optimistische, selbst angesichts des Einspänners. Sie vermochte den Gentleman denn auch nicht zu trösten. Er brüllte uns immer noch empört hinterher, als wir vom Bahnhofsplatz rollten.
»Unerhört! Ich werde meinen Abgeordneten anschreiben, Sir! Die Polizei ist ein Diener der Öffentlichkeit und darf ihre Autorität nicht dazu missbrauchen, willkürlich sämtliche verfügbaren Transportmittel zu beschlagnahmen!«
Ich zweifelte nicht eine Sekunde an seinen Worten, doch es war mir gleichgültig – eine Morduntersuchung hatte allemal Vorrang vor einem großen Koffer.
Wir trotteten in munterem Tempo durch die hübsche kleine Ortschaft und hinaus auf das Land, wo uns ein Wegweiser informierte, dass wir auf der Straße nach Englefield Green waren. Die Umgebung war üppig grün, und Morris bemerkte, dass es schön sein musste, hier zu leben. Der Stationsvorsteher hatte sicherlich recht gehabt mit seiner Vorwarnung, und es war ein Glück, dass The Cedars auf halber Höhe lag und nicht ganz oben. Ich bezweifelte, dass das Pony den ganzen Weg geschafft hätte – wahrscheinlich hätten wir aussteigen und den Rest zu Fuß zurücklegen müssen. Doch wie die Dinge standen, setzte uns der Kutscher vor den Toren des Anwesens ab. Wir standen da, Morris und ich, und sahen dem Einspänner hinterher, der sich den Hügel hinunter in Richtung Bahnhof entfernte, um den dicken Gentleman aufzusammeln, falls er noch dort stand und wartete. Dann warfen wir einen ersten Blick in die Runde.
Das Haus war stattlich und im Stil der Jahre um 1800 herum errichtet. Die Fassade war reich mit Stuck verziert und sah ein wenig italienisch aus. Es war umgeben von wunderbar gepflegten Rasenflächen, und tatsächlich standen zu beiden Seiten zwei majestätische Zedern.
»Hübsch, wirklich sehr hübsch«, sagte Morris beeindruckt. Er schien überzeugt, dass wir uns in einem der erstrebenswertesten Teile des Landes befanden.
Während wir den knirschenden Kies überquerten und uns der Eingangstür näherten, sahen wir, dass dieses Haus in tiefster Trauer war. Sämtliche Vorhänge waren zugezogen, und am Türklopfer hing ein schwarzes Seidenband. Trauernde Hinterbliebene zu besuchen ist der schlimmste Aspekt meiner Arbeit. Es ist schon schlimm genug, einen geliebten Menschen zu verlieren, doch die Erfahrung, dass dieser Mensch als Folge eines gewalttätigen Verbrechens sterben musste, für das es keinerlei offensichtliche Erklärung gibt, scheint in ihrer Grausamkeit nahezu nicht mehr zu überbieten zu sein. Benedict hatte sicher einen schlimmen Schock erlitten und kämpfte mit seiner Trauer, und ausgerechnet in dieser Zeit kam ich daher, um ihn über seine Frau und seine Ehe zu befragen. Doch es ging nicht anders; ich musste meine Gewissensbisse ablegen. Schließlich war ich, genau wie ich es dem dicken Gentleman am Bahnhof gesagt hatte, in offizieller Eigenschaft hier.
»Sie gehen die Köchin suchen, Morris!«
»Jawohl, Sir!« Morris entfernte sich in Richtung Hintereingang.
Ich hob die Hand und benutzte den schwarz verschleierten Türklopfer.
Einen kurzen Moment später vernahm ich auf der anderen Seite ein Rasseln, und ein Zimmermädchen mit rot geweinten Augen öffnete.
»Der gnädige Herr empfängt zurzeit keinen Besuch, Sir«, kam sie mir zuvor, bevor ich meinem Begehr Ausdruck verleihen konnte.
Ich nickte mitfühlend. »Es tut mir leid«, sagte ich, »aber ich muss ihn sprechen. Sehen Sie, ich bin Inspector Ross vom Scotland Yard, und es ist meine traurige Pflicht herauszufinden, was Ihrer gnädigen Herrin zugestoßen ist.«
Ich konnte schlecht »wer sie getötet hat« sagen, doch das war es, was ich meinte, und das Zimmermädchen begriff es sofort.
Sie brach in Tränen aus und tupfte sich die Augen mit einem Zipfel ihrer gestärkten Schürze. »Oh, es ist ja so furchtbar, Sir«, schluchzte sie. »Ich bin sicher, niemand von uns wird je darüber hinwegkommen. Mrs. Benedict war eine wunderbare Herrin! Das Personal hat sie geliebt, die Köchin und ich und Milly …«
»Milly?«, fragte ich.
»Das Hausmädchen.«
»Ist das das gesamte Personal? Eine Köchin und zwei Mädchen?«
»O nein, Sir! Es gibt noch Mr. Benedicts Kammerdiener und die Zofe der Herrin, Henderson. Und den Gehilfen und den Knecht.«
»Was ist mit dem Personal für draußen? Der Garten scheint äußerst gepflegt zu sein.«
»Da sind der Gärtner und sein Gehilfe und der Stalljunge … O, Sir, Sie können fragen, wen Sie wollen – keiner kann glauben, was passiert ist!«
»Wer ist denn da, Parker?«, rief eine gestrenge Stimme aus der Eingangshalle. »Was machst du denn da? Herumstehen und schwatzen?«
Parker lief rot an. »Ich bitte um Verzeihung, Miss Marchwood, aber es ist ein Police Inspector aus London, vom Scotland Yard. Er möchte den gnädigen Herrn sprechen.«
»Mr. Benedict empfängt keine Besucher«, sagte die Frau in den Tiefen der schwach beleuchteten Eingangshalle hinter dem Mädchen.
»Das habe ich dem Gentleman auch gesagt …«, begann das Dienstmädchen.
Es war an der Zeit für mich, die Kontrolle über das Gespräch zu übernehmen.
»Ich bedaure, zu dieser für den gesamten Haushalt so schwierigen Zeit zu stören, Miss Marchwood, doch ich fürchte, ich muss darauf bestehen. Es handelt sich um eine Morduntersuchung.«
»Oh … oje … oje …«, heulte das Zimmermädchen auf, flüchtete ins Haus und ließ uns einfach stehen.
Ich stand Miss Marchwood von Angesicht zu Angesicht gegenüber und musterte sie mit einigem Interesse. Das also war die Gesellschafterin, die zusammen mit Allegra Benedict zu einem Einkaufsbummel nach London gefahren und ohne sie zurückgekehrt war.
Sie war eine Frau Anfang vierzig, nichtssagend bis zum Punkt ausgesprochener Hässlichkeit und trug ein schwarzes Seidenkleid und einen schwarzen Spitzenflor über dem braunen Haar als Zeichen ihrer Trauer, wie eine spanische Mantille. Sie trug keinen Schmuck außer einer Kette von schwarzen Trauerperlen, und der einzige Farbtupfer war ein goldgerandeter Kneifer auf der Nasenwurzel. Hinter den Gläsern dieses Kneifers starrten mich schmutzig braune Augen an. Wir studierten einander, bis Miss Marchwood das Wort ergriff.
»Dann kommen Sie besser herein«, sagte sie mit der gleichen abgehackten Stimme wie zuvor. »Mr. Benedict ist in seinem Arbeitszimmer. Ich werde ihn informieren, dass Sie hier sind. Ich sollte Sie jedoch warnen, dass er in einem schlimmen Zustand ist. Ich würde es sehr schätzen, wenn Sie Ihren Besuch kurz halten könnten. Oder vielleicht könnten Sie ja auch ein andermal wiederkommen?«
Falls Miss Marchwood glaubte, dass die Spesenbestimmungen von Scotland Yard einem einfachen Inspector wie mir gestatteten, wiederholt mit der Eisenbahn nach Egham und zurück zu reisen, um Mr. Benedict und seine Angestellten zu besuchen, dann irrte sie sich mächtig.
»Ich verstehe das und werde taktvoll sein«, antwortete ich (nicht, dass die Umstände mir viel Takt erlaubten), »doch es ist wichtig, dass wir unsere Ermittlungen so schnell wie möglich auf den Weg bringen. Ich würde mich auch gerne mit Ihnen unterhalten, Miss Marchwood. Sie waren die Gesellschafterin der Verstorbenen und am Samstag mit ihr zusammen unterwegs.«
Ihre Augenlider hinter den Brillengläsern blinzelten in rascher Folge, doch Miss Marchwood gehörte nicht zu der Sorte, die so leicht in Tränen ausbrach. Diese Art von unziemlichem Benehmen blieb Parker, dem Zimmermädchen, überlassen. Miss Marchwood hatte, wie alle Gesellschafterinnen, mehr als genug Gelegenheiten gehabt zu lernen, ihre Gefühle zu kontrollieren, wenigstens nach außen hin. Meine Frau Lizzie hingegen, vor unserer Ehe Gesellschafterin ihrer Tante Parry, wäre niemals zu einer Miss Marchwood geworden. Lizzie hat große Schwierigkeiten, ihre Gefühle und Meinungen für sich zu behalten.
Was Isabella Marchwood anging – mit dem Tod von Allegra Benedict hatte sie rein technisch betrachtet keine Arbeitsstelle mehr. Sie musste sich eine neue Anstellung suchen, und ich fragte mich, ob Benedict willens war, ihr das Verbleiben im Haus zu gestatten, bis sie eine Stelle gefunden hatte. Es musste sehr schmerzvoll für ihn sein, sie auch nur zu sehen. Wäre sie doch nur bei seiner Frau geblieben, hätte der Nebel die beiden Frauen nicht getrennt … Gab er Miss Marchwood vielleicht sogar die Schuld für das, was geschehen war?
»Das ist richtig«, antwortete die Gesellschafterin auf meine Frage hin. »Möchten Sie zuerst mit mir oder mit Mr. Benedict sprechen?«
»Vielleicht sollte ich mich zuerst mit dem trauernden Hausherrn unterhalten, denke ich.«
»Wenn Sie dann bitte für einen Moment hier warten würden.«
Mit raschelnden Seidenröcken wandte sie sich um und stieg die Treppe hinauf. Offensichtlich lag das Büro von Mr. Benedict im ersten Stock, abseits von Störungen durch Besucher und dem Kommen und Gehen des Haushalts.
Ich wartete unten und nutzte die Gelegenheit, mich ein wenig umzusehen. Überall waren Zeichen von Trauer. Sämtliche Bilder an den Wänden waren mit schwarzen Schleiern verhangen, genauso wie ein großer Spiegel. Ich erkühnte mich, eine Tür zu öffnen und in den Raum dahinter zu spähen. Es handelte sich offensichtlich um einen Salon; auch hier waren die Vorhänge vor die Fenster gezogen und die Bilder verschleiert … selbst die Beine eines großen Flügels waren mit schwarzen Seidenbändern verhüllt. Kein Wunder, dass es im ganzen Haus so düster war.
Dann jedoch bemerkte ich ein Bild, das nicht verschleiert war, und trat näher, um es zu betrachten. Es stand auf dem Flügel und war eine fotografische Studie der verstorbenen Frau. Sie war ganz in Weiß gekleidet und noch sehr jung. Sie lehnte an einer klassischen Säule mit einigen Drapierungen, und einmal mehr bemerkte ich, wie wunderschön sie im Leben gewesen sein musste. Vor der Fotografie stand eine einzelne Rose in einer rubinroten Glasvase. Ich nahm den massiven Silberrahmen zur Hand, um mir das Bild genauer anzusehen, und entdeckte in einer Ecke einen goldenen Stempel mit den Worten »Studio Podestà« und darunter »Venezia«.
»Inspector Ross?«
Miss Marchwood war zurück und stand in der Tür, von wo aus sie mich mit unverhüllter Missbilligung beobachtete. Was hatte sie denn erwartet? Ich war Polizeibeamter, und Schnüffeln war mein Beruf. Es ist das, worin wir gut sind. Niemand im Haus würde es gefallen, aber sie würden sich damit abfinden müssen.
»Mr. Benedict möchte Sie jetzt sehen. Ich bringe Sie zu ihm nach oben.«
Benedict erhob sich bei meinem Eintreten aus einem ledernen Ohrensessel. Das Arbeitszimmer war, wie der Rest des Hauses, voll mit Zeichen der Trauer, doch die Vorhänge vor den Fenstern waren weit genug zurückgezogen, um einen dünnen Lichtstrahl hereinzulassen, der den Raum in zwei Teile separierte. Wie überall sonst waren sämtliche Bilder verschleiert, mit einer einzigen Ausnahme, dem Salon im Erdgeschoss entsprechend: Über dem Kaminsims hing ein großes Ölgemälde von Allegra. Sie saß in einem Garten, und wie auf der Fotografie unten im Salon wirkte sie sehr jung. Der Hintergrund war blauer Himmel, heller Sonnenschein und eine Ranke über einer Pergola. Auch auf diesem Gemälde trug sie ein weißes Kleid, und in ihrem Schoß hielt sie verschiedene Blumen. Es sollte vermutlich andeuten, dass die Porträtierte sie gepflückt hatte.
»Meine Frau war eine außergewöhnliche Schönheit«, bemerkte Benedict leise.
Ich war verlegen, und ich konnte es nicht verbergen. »Bitte verzeihen Sie. Ich wollte nicht den Eindruck erwecken, als würde ich Sie ignorieren oder das Bild unziemlich anstarren. Mrs. Benedict war in der Tat, ganz wie Sie sagen, eine außergewöhnlich attraktive Person … außerdem sind alle anderen Gemälde im Haus verhüllt.«
»Ich habe es nicht über mich gebracht, auch dieses Bild verschleiern zu lassen«, sagte Benedict mit der gleichen leisen Stimme. »Es wäre mir vorgekommen, als hätte ich sie begraben. Was noch früh genug geschehen wird. Möchten Sie sich nicht setzen, Inspector?«
Er deutete auf einen zweiten Sessel und nahm selbst wieder in seinem Fauteuil Platz, aus dem er sich bei meinem Eintreten erhoben hatte. Sein Rücken war dem Fenster zugewandt und dem schmalen Sonnenstrahl, sodass ich sein Gesicht nicht deutlich sehen konnte. Das wenige Licht im Raum fiel ausnahmslos auf mich, und er war klar im Vorteil. Ich fragte mich, ob er es absichtlich so eingerichtet hatte.
Er war ein leicht gebauter Mann und zweifelsohne einige Jahre älter als seine Frau. Als meine Augen sich an das spärliche Licht gewöhnt hatten, bemerkte ich, dass sein Haaransatz zurückwich und das Haupthaar dünner wurde. Als er gestanden hatte, war mir aufgefallen, dass er von mittlerer Größe war. Ich musste an die Tote in der Leichenkammer denken, eine Schönheit sogar noch im Tod.
Ich eröffnete meinen Teil der Unterhaltung, indem ich ihm mein Beileid aussprach. Er nahm es gleichgültig entgegen. Es war ihm egal, ob ich mit ihm fühlte oder nicht. Seine eigene Trauer war ihm genug.
»Mrs. Benedict war von italienischer Herkunft?«, erkundigte ich mich.
Er neigte bejahend den Kopf. »Gut. Wenn Sie feststellen, dass es in diesem Haus zahlreiche Gemälde gibt, dann liegt es daran, dass ich mit Bildern handele, wie Sie zweifelsohne bereits wissen, Inspector. Ich besitze eine Galerie nahe der Piccadilly, auf der Südseite, ganz in der Nähe …« Er unterbrach sich, stockte, riss sich zusammen und fuhr fort: »… ganz in der Nähe des Green Park.«
»Waren Sie am vergangenen Samstag in Ihrer Galerie?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Ich fahre am Wochenende niemals in die Stadt. Die meisten meiner Kunden fahren freitagabends hinaus aufs Land, wenn Sie verstehen?«
»In ihre Villen und Landhäuser?«
»Ganz recht«, sagte er einfach.
»Aber die Galerie ist samstags dennoch geöffnet?«
»Ja. Ich habe einen exzellenten Geschäftsführer, George Angelis. Er ist jeden Samstag bis sechs Uhr abends dort. Hernach ist die Galerie geschlossen, bis zum darauffolgenden Dienstag.«
Also hatte er montags Ruhetag. Seine Kunden hingegen waren montags bereits wieder aus ihren Wochenendhäusern zurück und in der Stadt. Ich nahm mein Notizbuch hervor und schrieb auf, dass die Galerie samstags um achtzehn Uhr schloss.
»Darf ich erfahren, wie Sie Ihre verstorbene Frau kennengelernt haben, Sir?«
Er hob die Augenbrauen angesichts dieser seiner Meinung nach offensichtlich unpassenden Frage, trotzdem antwortete er ohne weitere Umstände. »Selbstverständlich. Wir sind uns in Italien zum ersten Mal begegnet. Ich fahre jedes Jahr auf den Kontinent, auf der Suche nach neuen und interessanten Werken für die Galerie. Außerdem liebe ich das Land. Ich war als junger Mann zum ersten Mal dort, fast noch als Knabe. Die übliche Europa-Rundreise, Sie wissen schon.«
Ich wusste, dass diese »übliche« Europa-Rundreise bei den Reichen eine Art Tradition war. Junge Männer wurden zum Abschluss ihrer Erziehung auf den Kontinent geschickt, meist mit einem Tutor im Schlepptau, der ein Auge auf sie halten sollte. Junge Männer meiner Herkunft hingegen verdienten sich in diesem Alter längst ihren Lebensunterhalt selbst und taten dies bereits seit Kindesbeinen an.
»Der Vater meiner Frau, leider inzwischen verstorben, war ebenfalls im Kunstgeschäft tätig«, berichtete Benedict weiter. »Ich besuchte ihn regelmäßig, wenn ich in Italien war, und wurde ein Freund der Familie. Als ich meine Frau kennenlernte, war sie fast noch ein Kind, gerade vierzehn Jahre alt. Sie war exquisit … wunderschön, aufgeweckt, voller Leben und Lachen, intelligent … Sie zu sehen hieß, sie vergöttern.«
Er starrte auf das Porträt und verstummte.
»War das ihr Alter, als dieses Bild gemalt wurde?«, fragte ich.
Benedict hob den Kopf und sah mich an, als hätte er vergessen, wer ich war. »Oh«, sagte er schließlich. »Nein, da war sie schon ein wenig älter. Fünfzehn, glaube ich.«
»Vergeben Sie mir, Sir, aber ich muss diese zudringlichen Fragen stellen. Wie alt war Ihre Frau, als Sie geheiratet haben?«
»Achtzehn.« Benedict lächelte ironisch. »Ich kann sehen, was Sie denken, Inspector. Ja, ich bin … ich war beträchtlich älter als meine Frau. Fünfzehn Jahre, genau genommen.«
Also war Allegras zukünftiger Ehemann bereits dreißig Jahre alt gewesen, als das Porträt entstanden war. War es auf seine Bitte hin angefertigt worden?
»Wann, wenn ich fragen darf, haben Sie das Bild erworben?«
Er hob erneut die Augenbrauen, und als er diesmal antwortete, schwang eine Spur von Ungeduld in seiner Stimme mit. »Es wurde für mich gemalt. Ich hatte bereits mit ihrem Vater gesprochen. Er war einverstanden mit unserer Heirat, sobald seine Tochter achtzehn Jahre alt geworden war. Bis dahin musste ich mich mit dem Besitz eines Bildnisses in Öl begnügen anstelle der Porträtierten.«
Ich fragte mich, ob die fünfzehnjährige Allegra genauso enthusiastisch auf die Aussicht eines doppelt so alten Ehemannes reagiert hatte. In mir entstand ein gewisses Unbehagen angesichts der Wortwahl von Benedict. »Vergöttern« anstatt »lieben« beispielsweise. Vielleicht bedeutete das alles dasselbe, vielleicht aber auch nicht. »Besitz eines Bildnisses anstelle der Porträtierten« … All das störte mich irgendwie.
»Darf ich Ihnen eine Gegenfrage stellen, Inspector?« Benedicts Stimme riss mich aus den Gedanken. Erschrocken wurde mir bewusst, dass ich zwei oder drei Minuten lang geschwiegen hatte.
»Selbstverständlich, Sir.«
»Was haben all diese Fragen mit der Suche nach dem Mörder meiner Frau zu tun?«
»Möglicherweise nichts, Sir, doch wir müssen den Hintergrund des Opfers durchleuchten.«
»Das haben Sie nun«, sagte er einfach.
»Sie haben keine Kinder?«, stellte ich eine letzte persönliche Frage.
»Nein«, antwortete er kühl. Die Frage war einen Schritt zu weit gegangen. »Ich finde unser Gespräch sehr schwierig, Inspector … Vielleicht könnten Sie ein andermal wiederkommen? Oder ich kann auch gerne zum Scotland Yard kommen, um Ihre Fragen zu beantworten. Es geht mir wirklich nicht … Mein Arzt hat mir eine Reihe von Pulvern gegeben, um meine Nerven zu beruhigen. Ich muss jetzt dringend eine Dosis nehmen.«
Das führte mich glatt zu meiner letzten Frage. »Ich verstehe, Sir. Man hat mir gesagt, Sie wären zusammengebrochen nach der … der Identifikation der Toten?«
Sein Gesicht verzog sich schmerzvoll bei dem Gedanken. Er nickte wortlos.
»Der Assistent, Scully, der Sie zu der Toten geführt hat … Er hat berichtet, Sie hätten irgendetwas von Toren gesagt, die man schließen sollte, aber es würde nichts nutzen. Vielleicht hatte Scully den genauen Wortlaut nicht verstanden, oder ich habe die Worte falsch wiedergegeben.«
»Oh, er hat sehr richtig verstanden«, sagte Benedict brüsk. »Also möchten Sie wissen, was ich gemeint habe? Warten Sie, ich zeige es Ihnen!«
Er erhob sich und ging zu einem Tisch mit einem Stapel ledergebundener Mappen darauf. Er nahm eine davon und kam zu mir zurück. Ich sah, dass es ein Skizzenalbum war. Er schlug es auf und fand, wonach er gesucht hatte, dann drehte er mir die aufgeschlagene Mappe zu, sodass ich das Bild sehen konnte.
Es war ein Aquarell, signiert mit den Initialen S. B. Ich nahm an, dass es sich um eine Kopie von etwas handelte, das er gesehen hatte, vielleicht auf seiner ersten Italienfahrt, vielleicht aber auch erst später. Es war eine mittelalterliche, grauenerregende Szene. Sie zeigte eine Landschaft mit einer gespenstischen Gestalt auf einem gleichermaßen gespenstischen Pferd in wilder Verfolgungsjagd nach einer Gruppe junger Männer, ebenfalls zu Pferde. Die Gestalt des Verfolgers, die nur der Tod selbst sein konnte, galoppierte an einem alten Paar vorbei, ohne es zu beachten. Die Frau zeigte voller Staunen auf den apokalyptischen Reiter, fassungslos angesichts der Tatsache, dass nicht sie und ihr Ehemann die auserkorenen Opfer waren. Doch der Tod hatte andere Beute im Sinn. Er wollte die Jungen. Die jungen Männer waren edel gekleidet. Sie hatten goldene Locken. Ihre Kameraden am Ende der versprengten Kavalkade waren ihm bereits zum Opfer gefallen und hingen leblos in ihren Sätteln, vergeblich immer weiter vorwärtsgetragen von ihren panischen Reittieren. Die jungen Männer an der Spitze des Trupps starrten voller Entsetzen und Verzweiflung auf das Geschehen hinter sich. Sie beabsichtigten wohl, sich durch die offenen Tore einer Stadt, die von einem mächtigen Wall umgeben war, in Sicherheit zu bringen, als könnten sie, einmal im Innern angekommen, die schweren Tore vor dem erbarmungslosen Verfolger schließen und sich so in Sicherheit bringen. Doch sie waren verloren, und sie wussten es. Es stand in ihren Gesichtern. Selbst ihre Pferde mit den verdrehten Augen und den geblähten Nüstern schienen es zu ahnen. Die Ersten hatten die Tore erreicht, doch die irdische Zuflucht konnte nicht einen von ihnen retten, nicht einen Einzigen. Jugend, Reichtum, Schönheit … nichts konnte den Verfolger erbarmen.
»Ich habe diese Szene von einem Fresko der Dominikanerkirche in Bolzano in Südtirol kopiert. Die Stadt gehört heute zu Österreich, auch wenn die Italiener sie seit alters für sich beanspruchen. Wie dem auch sei, das Fresko heißt ›Triumph des Todes‹. Der Tod macht sich einen Spaß daraus, die Jungen und Schönen zu holen, verstehen Sie? Eigentlich müsste er die Alten holen, aber er …«
Benedict klappte die Mappe zu.
»Und jetzt hat er meine Frau geholt, Inspector. Ich war fünfzehn Jahre älter als sie, trotzdem hat er sie zuerst geholt. Niemand kann ihn aufhalten. Kein Tor, das ihn aussperren könnte.«
»Ihre Frau starb aber keinen gewöhnlichen Tod …«, wandte ich verlegen ein.
»Tod ist Tod«, entgegnete er. »Keiner von uns vermag ihm zu entkommen, und gegen ihn zu lamentieren ist nutzlos. Doch so willkürlich und so grausam zu zerstören, etwas so Wunderschönes zu vernichten, das ist unverzeihlich.«
Ich äußerte noch einige wenige Worte des Bedauerns, sowohl für seinen Verlust als auch für mein Eindringen, bevor ich mich zurückzog. Ich bezweifle, dass er sie überhaupt wahrnahm.
Miss Marchwood erwartete mich unten in der Halle. Als ich am Fuß der Treppe ankam, wandte sie sich wortlos um und führte mich in den Salon mit dem großen Flügel. Ich schloss hinter uns die Tür und trat zu einem der Fenster, um den Vorhang ein wenig zur Seite zu ziehen. Ich ziehe es vor, Zeugen ins Gesicht zu sehen, und schon Benedict hatte mir geschickt einen Strich durch die Rechnung gemacht. An Marchwoods Gesicht erkannte ich, dass sie mein Vorgehen missbilligte, obwohl sie es wahrscheinlich verstehen konnte. Noch immer schweigend nahmen wir einander gegenüber Platz. Auf dem Kaminsims tickte eine Uhr aus Porzellan. Das Geräusch wirkte unnatürlich laut.
Sie wartete darauf, dass ich unsere Konversation begann. »Das ist eine hübsche Uhr«, bemerkte ich, um das Eis zu brechen.
»Sie stammt aus der Manufaktur Meißen«, antwortete sie. »Mr. Benedict hat sie von einer seiner Reisen mitgebracht.«
Ich fragte sie, wie lange sie in den Diensten von Mrs. Benedict gestanden hatte.
»Seit Mr. Benedict seine Frau aus Italien mit nach England gebracht hat«, antwortete sie. »Seit fast neun Jahren.« Ihre Augen hinter dem Kneifer blinzelten rasch. Sie gab sich die größte Mühe, nicht vor mir in Tränen auszubrechen.
»Dann müssen Sie und Mrs. Benedict sich einander sehr nahgekommen sein. Es muss eine schlimme Erfahrung für Sie gewesen sein«, sagte ich mitfühlend.
Sie neigte den Kopf, doch sie sagte nichts. In mir verstärkte sich das Gefühl, dass ich Miss Marchwood die Würmer aus der Nase ziehen musste, wenn ich etwas erfahren wollte. Aus Loyalität gegenüber der Toten? Oder aus einem fehlgeleiteten Sinn für Schicklichkeit? Weil meine Anwesenheit hier das Haus beschmutzte? Ich sollte meine elenden Ermittlungen schließlich weit abseits dieses anständigen Hauses mit seinem Salon und dem Flügel mit der silbern gerahmten Fotografie und der Meißener Uhr anstellen, nicht wahr?
»Waren Sie vor diesem tragischen Ereignis glücklich im Haushalt der Benedicts, Miss Marchwood?«
»Ich war sogar sehr glücklich hier!«, schnappte sie. Dann verschränkte sie die Hände fest im Schoß und presste die Lippen aufeinander.
»Schön. Nun denn, erzählen Sie mir doch bitte von letztem Samstag.«
Ich hatte befürchtet, auf mehr Zurückhaltung zu stoßen, doch sie begann nahezu ohne Umstände zu erzählen. Ich fragte mich, ob sie sich ihre Geschichte zurechtgelegt hatte in Erwartung meines Besuches. Doch ich bemerkte auch, dass sich ihre verschränkten Finger beim Reden wiederholt verkrampften, entspannten, wieder verkrampften und so weiter.
»Mrs. Benedict wollte ein Schmuckstück, eine Brosche, genau gesagt, zum Juwelier in der Burlington Arcade bringen. Sie kannte den Juwelier gut. Sein Name ist Tedeschi, und er ist italienischer Abstammung, schätze ich. Mrs. Benedict war gerne in seinem Laden. Sie – und Mr. Benedict – haben in der Vergangenheit die verschiedensten Schmuckstücke von Mr. Tedeschi erstanden.«
»Warum brachte sie die Brosche dorthin? War etwas nicht in Ordnung damit?«
»Nein, sie gefiel ihr nur nicht mehr, und deswegen hat sie sie nie getragen. Sie wollte wissen, ob man sie zu einem Ring umarbeiten konnte, wenn man das Gold und die Steine benutzt. Mr. Tedeschi bejahte ihre Frage. Wir, das heißt, sie ließ ihm die Brosche da.«
»Bei Ihrem Aufbruch, hatten Sie da keine Ahnung, dass das Wetter in London so schlimm werden könnte?«
Miss Marchwood nahm ihren Kneifer ab und massierte die gerötete Stelle auf dem Nasenrücken mit Daumen und Zeigefinger. »Nein, obwohl es hier ebenfalls bewölkt war. Natürlich kommt es gelegentlich – an den schlimmsten Tagen zumindest – vor, dass der Londoner Nebel sich bis hierher ausbreitet. Aber diesmal gab es nichts, was darauf hingewiesen hätte, dass wir besser zu Hause geblieben wären.«
Sie setzte den Kneifer wieder auf und fuhr in lebhafterem Ton fort: »Wir nahmen den Zug um halb drei, nach dem Mittagessen. Als wir uns London näherten, bemerkten wir, wie sich ein dichter, vom Rauch gelber Nebel über der Stadt zusammenbraute. Er hatte bereits die Vororte erreicht. Bis wir in Waterloo ankamen, war es äußerst unangenehm geworden. Wir stiegen aus dem Waggon und waren mittendrin in einer übel stinkenden Waschküche. Ich schlug Mrs. Benedict vor, dass wir gleich wieder umkehren sollten. Wir hätten nur auf die andere Seite des Bahnsteigs gehen und in den nächsten Zug einsteigen müssen. Doch Mrs. Benedict meinte, es würde nicht lange dauern, wenn wir einen Pferdewagen fänden, der uns zur Burlington Arcade brächte. Also machten wir es so.«
»Sie hatten keine Probleme, einen zu finden?«
»Am Bahnhof? Nein. Allerdings nahmen wir eine Droschke, keinen Hansom.«
Ich nickte verstehend. Eine Droschke besaß eine geschlossene Kabine und war eher geeignet für Damen. Zwei Damen wäre die Fahrt in einem vorn offenen Hansom quer durch London unschicklich erschienen.
»Es dauerte trotzdem eine ganze Weile, bis wir Piccadilly erreicht hatten, weil der Kutscher nur langsam vorwärtskam. Er musste immer wieder anhalten. Der Verkehr war schlimm. Fast wären einige der anderen Kutscher und Fahrer zu Schaden gekommen. Fußgänger waren überhaupt nicht zu erkennen, erst im allerletzten Moment. Mehrmals wären beinahe welche von Pferdewagen überfahren worden. Mrs. Benedict und ich hatten beide Angst. Aber dann kamen wir endlich an unserem Ziel an. Ich darf Ihnen sagen, wir waren höchst erleichtert, als wir vor dem Eingang zur Burlington Arcade aus der Kutsche steigen konnten.«
»Das glaube ich Ihnen gerne. Ich war selbst draußen in diesem Nebel am vergangenen Samstag«, sagte ich zu ihr. »Ich weiß, wie schwierig es war, sich zu orientieren. Sicher gab es nicht viele Besucher in der Burlington Arcade?«
»Oh doch, es gab einige, aber niemand war zum Bummeln da. Alle waren nervös und angespannt und machten sich Sorgen, wie sie nach Hause kommen sollten, denke ich. Ich für meinen Teil wurde auch sehr besorgt. Wir besuchten den Juwelier und verbrachten einige Zeit dort, während Mrs. Benedict mit Mr. Tedeschi über den Entwurf des Rings redete, der aus der Brosche gefertigt werden sollte. Wir sahen uns ein, zwei andere Schmuckstücke in der Auslage an. Als wir wieder auf die Straße traten, erfasste uns ein gewaltiger Schrecken, glauben Sie mir!« Sie beugte sich vor, wie um ihre Worte zu betonen. »Der Nebel war unvorstellbar dicht! Wir hatten beide Angst und baten einen Ordner, uns eine Kutsche heranzuwinken.«
Die Burlington Arcade hatte, wie ich wusste, ihre eigenen uniformierten Ordner.
»Doch er konnte unsere Bitte nicht erfüllen. Es gab keine freien Kutschen mehr, und es war so gut wie unmöglich zu sehen, ob irgendwo eine wartete. Wir überlegten, was zu tun wäre.«
»Um welche Zeit war das?«, unterbrach ich sie.
»Ich schätze, fast fünf. Jedenfalls lange nach vier. Genauer weiß ich es nicht. Wir beschlossen, die Straße zu überqueren und das sehr kurze Stück bis zur Galerie zu Fuß zu gehen. Dort konnten wir in aller Ruhe und Sicherheit abwarten, bis sich der Nebel wieder verflüchtigt hatte.«
»Ah, natürlich. Der Haupteingang zur Burlington Arcade ist auf der Piccadilly, und Mr. Benedicts Laden liegt auf dieser Straße.«
»Galerie, Inspector Ross!«, verbesserte mich Miss Marchwood aufgeregt. Röte stieg ihr ins Gesicht. »Mr. Benedict ist kein gewöhnlicher Ladenverkäufer.«
»Mein Irrtum, bitte verzeihen Sie«, entschuldigte ich mich.
»Wir waren sehr in Sorge, beim Überqueren der Straße von einem Gespann überfahren zu werden, dessen Fahrer uns nicht gesehen hatte. Während wir überlegten, wie wir vorgehen sollten, tauchte vor uns unvermittelt ein Knabe im Nebel auf. Ganz urplötzlich. Wir erschraken beide.«
»Ein Knabe?«, fragte ich verblüfft. »Was für ein Knabe?«
»Ein Gassenjunge, ein … ein Straßenfeger. Er hatte einen Besen in der Hand, deshalb weiß ich das. Er hatte unsere Unterhaltung gehört und erbot sich, uns sicher über die Straße zu bringen. Er versicherte uns, dass er rechtzeitig bemerken würde, wenn sich ein Fuhrwerk näherte. Wir nahmen sein Angebot an. Und er brachte uns sicher auf die andere Seite. Dann …«
Zum ersten Mal versagte Isabella Marchwood die Stimme. »Wir waren auf dem Bürgersteig, und ich bedeutete dem Jungen zu warten, weil ich ihm etwas für seine Hilfe geben wollte. Ich suchte in meiner Tasche nach einem Sixpence und gab ihm die Münze. Er bedankte sich und verschwand im Nebel, einfach so, als hätte es ihn nie gegeben. Ich drehte mich zu Mrs. Benedict um, und sie war nicht mehr da.«
Miss Marchwood verstummte, und als sie keine Anstalten machte, mit ihrem Bericht fortzufahren, fragte ich sie: »Sie haben nach ihr gerufen?«
»Mehrmals sogar!« Sie beugte sich erneut zu mir vor. »Ich dachte, Mrs. Benedict wäre schon zur Galerie vorausgegangen.«
»Die Galerie schließt samstags um sechs, nicht wahr?«
»Ja, aber ich denke nicht, dass es schon so spät war. Noch lange nicht. Jedenfalls eilte ich los, so schnell ich konnte. Ich hielt mich an der Wand, immer an der Wand, bis zur Galerie. Es war nicht einfach. Fast wäre ich vorbeigelaufen, so dicht war der Nebel. Ich trat ein und fand den Assistenten. Er ist relativ neu, trotzdem erkannte er mich. Er war überrascht, mich an einem Nachmittag wie diesem allein durch die Tür kommen zu sehen. Er hatte Mrs. Benedict nicht gesehen, sagte er. Wir konnten es beide nicht verstehen. Sie war doch wohl nicht am Laden vorbeigelaufen und zu weit gegangen? Sie hätte es sicherlich bald bemerken müssen und dann kehrtgemacht. Der Assistent, ich glaube, sein Name ist Gray, ging zu Mr. Angelis, dem Geschäftsführer, ins Büro. Mr. Angelis kam nach vorn gerannt, den Stift noch in der Hand. Ich fragte auch ihn, ob er Mrs. Benedict gesehen hatte. Er bestätigte die Worte des Assistenten und sagte, nein, sie sei nicht da gewesen. Er habe sie nicht gesehen.«
Miss Marchwood faltete und entfaltete immer noch nervös die Hände, während sie redete.
»Inzwischen waren wir alle drei äußerst besorgt. Wir wussten nicht, was wir tun sollten. Mr. Angelis sagte, ich solle in der Galerie bleiben. Es war beinahe sechs, und bei diesem schlimmen Wetter kämen bestimmt keine Kunden mehr. Er und Mr. Gray wollten nach draußen gehen und Mrs. Benedict suchen und mich in der Galerie einschließen. Sie waren eine ganze Zeit lang weg, sicher länger als eine halbe Stunde, ohne jeden Erfolg. Mrs. Benedict war wie vom Erdboden verschluckt. Mr. Angelis hatte eine Droschke gefunden, die bereit war, einen Fahrgast zu akzeptieren. Er bestand darauf, dass ich nach Waterloo fuhr und in den Zug nach Egham stieg. Er und Mr. Gray würden unterdessen die Suche nach Mrs. Benedict fortsetzen.«
Sie verstummte. Die Meißener Uhr tickte laut vor sich hin.
»Ich wollte nicht ohne sie los«, fuhr Miss Marchwood leise fort. »Aber ich hatte sie verloren. Mr. Angelis sagte, es komme überhaupt nicht infrage, dass ich allein im Nebel umherwandere. Ich würde mich nur ebenfalls verlaufen, meinte er, und am Ende müssten Gray und er nach uns beiden suchen. Also tat ich wie geheißen und kehrte hierher zurück und überließ ihm alles Weitere.
Als ich hier ankam und Mr. Benedict erzählte, was geschehen war, erschrak er zutiefst. Sie können es sich vorstellen. Wir warteten auf Nachricht aus London, während wir die ganze Zeit hofften, dass sie nach Hause kam. Wir waren beide in einem ganz elenden Zustand. Keiner konnte einen Bissen vom Abendessen zu sich nehmen. Wir hatten eine Suppe und … und Kaffee, glaube ich. Das Essen, das die Köchin vorbereitet hatte, blieb mehr oder weniger stehen. Sie war nicht beleidigt deswegen – auch die Dienerschaft war sehr aufgeregt und machte sich Sorgen. Sie alle liebten Mrs. Benedict.
Dann – es war schon sehr spät, nach neun Uhr – tauchte Mr. Angelis vor der Haustür auf. Er war todunglücklich. Er hatte sie nicht finden können. Mr. Benedict und ich saßen hier in diesem Salon und warteten, wissen Sie, und hofften. Als wir den Besucher kommen hörten, zu so später Stunde, dachten wir natürlich zunächst, es wäre Mrs. Benedict, die endlich nach Hause gekommen wäre. Mr. Benedict sprang auf und rannte nach draußen in die Halle. Ich folgte ihm dicht auf den Fersen und betete nur, dass es Allegra sein möge. Doch es war nur Mr. Angelis. Keine Allegra, und Mr. Angelis’ Gesicht verriet uns alles.«
Sie stockte und senkte den Blick. Ich wartete, bis sie sich wieder gefasst hatte. Ich konnte mir die Szene gut vorstellen. Ich wusste, wie ich mich fühlen würde, wäre Lizzie auf diese Art und Weise verschwunden.
»Mr. Benedict bewies sehr viel Mut«, fuhr Miss Marchwood schließlich fort. »Er riss sich zusammen, brachte Mr. Angelis hierher in den Salon und bestand darauf, dass er ein Glas Brandy nahm, um seine Nerven zu stärken.«
»Hatte Angelis die Polizei informiert?«, erkundigte ich mich.
»Ja, er war auf der Wache in der Little Vine Street. Er wusste nicht, was er sonst noch tun sollte. Mr. Benedict dankte ihm für seine Mühen und dafür, dass er die Polizei hinzugezogen hatte. Er sagte, es sei völlig richtig gewesen. Ich denke, Mr. Angelis war ein wenig besorgt deswegen …«
Sie brach ab und sah mich verlegen an.
»Nicht jeder möchte die Polizei in seine privaten Angelegenheiten gezogen haben«, sagte ich. »Das verstehe ich sehr gut.«
Miss Marchwood sah mich dankbar an. »Ja, genau. Die Leute reden, wie Sie wissen. Doch unter den gegebenen Umständen hat Mr. Angelis es auf sich genommen, die Polizei zu informieren. Und dann, nachdem er uns alles berichtet hatte, eilte er nach Egham zurück, um den letzten Zug nach London zu besteigen. Der Droschkenfahrer, der ihn von Egham hierhergebracht hatte, hatte die ganze Zeit über draußen gewartet, um ihn den Hügel hinunterzufahren. Es muss eine Menge Geld gekostet haben. Aber ich glaube, ich habe gehört, wie Mr. Benedict nach draußen gegangen ist und den Fahrer nach dem Gesamtpreis gefragt hat, und deswegen hat er die Rechnung wohl übernommen. Ich habe in meinem ganzen Leben noch keine so furchtbare Nacht verbracht. Ich habe kein Auge zugemacht, und ich weiß, dass Mr. Benedict die ganze Nacht über in seinem Arbeitszimmer geblieben ist, um zu warten. Am nächsten Morgen, Sonntag, ist er gleich mit dem ersten Zug nach London gefahren und zur Wache in der Little Vine Street gegangen … Den Rest der Geschichte kennen Sie.«
Sie verlor am Ende doch noch die Selbstbeherrschung und fing an zu zittern.
»Ich weiß, dass es schwierig sein muss für Sie«, sagte ich so einfühlsam, wie ich konnte. »Doch obwohl wir sicher sind, dass nicht Raub das Motiv war …«
Sie zuckte zusammen und starrte mich aus geweiteten Augen an.
»Mrs. Benedict trug immer noch ihren Schmuck«, erklärte ich. »Trotzdem fanden wir weder eine Handtasche noch einen Pompadour. Hatte sie keine dabei an jenem Tag?«
»Keine Handtasche?« Sie schüttelte den Kopf, als hätte sich etwas in ihrem Ohr eingenistet. »Keine Handtasche? Wie ist das möglich …?« Die Frage schien sie vollends zu verwirren. Nach einigen Sekunden, in denen sie sichtlich um ihre Fassung rang, fuhr sie fort. »Ja, sie hatte eine kleine wildlederne Umhängetasche dabei. Sie hatte ein wenig Bargeld, ihr Taschentuch, eine Flasche Riechsalz und die Brosche dabei. Das heißt, die Brosche hatte sie nur auf dem Hinweg dabei. Sie blieb bei dem Juwelier zurück, wie ich bereits sagte. Ich weiß nicht, warum Sie die Tasche nicht gefunden haben, Inspector. Sie hätte da sein müssen …« Sie fing erneut an zu zucken. »Sie hätte da sein müssen … Ich weiß nicht … das alles ist so grauenvoll …«
Diese letzte Information hatte ihre Verteidigung zum Einsturz gebracht. Ich beschloss, die Befragung für den Augenblick zu unterbrechen, und bat sie, doch so freundlich zu sein und Henderson zu mir zu rufen, die Kammerzofe der Hausherrin, damit ich mich auf ein paar Worte mit ihr unterhalten konnte.
Henderson stellte sich als plumpe Person in mittlerem Alter heraus, mit roten, verheulten Augen.
»Es ist ja so furchtbar, Sir, so furchtbar! Ich schwöre, ich habe keine Sekunde mehr richtig geschlafen, seit es passiert ist! Wer hätte so etwas für möglich gehalten? Die arme, arme Mrs. Benedict! Sie war so eine nette Herrin!«
»War sie wie immer gelaunt an jenem Morgen, als Sie ihr beim Ankleiden geholfen haben?«
»O ja, Inspector! Sie war sogar ausgesprochen gut gelaunt! Sie freute sich auf ihre Reise nach London, denke ich. Ich habe ihr das Haar mit zusätzlichen Nadeln hochgesteckt, sodass es sich nicht lösen konnte, während sie unterwegs war.«
»Würden Sie sagen, dass Mrs. Benedict eine glückliche Frau war?«
Die Kammerzofe sah mich verwirrt an. »Warum sollte sie denn nicht, Sir? Sie hatte wunderschöne Kleider. Es war eine richtige Freude, sich um ihre Sachen zu kümmern.«
»War Mr. Benedict ein großzügiger Ehemann?«
»O ja, Sir! Sie bekam, was immer sie wollte. Sie musste ihren Wunsch nur aussprechen, und er kaufte es ihr.«
»Sie hatte kein eigenes Geld?«
Die Kammerzofe schien verwirrt. »Na ja, doch, schon, Sir. Sie hatte eigenes Geld, keine Frage. Nicht, dass ich Ihnen viel darüber erzählen könnte, Sir.« Ihr hausbackenes Gesicht verzog sich, und Tränen rannen über ihre Wangen. »Oh, was wird jetzt bloß aus mir?«
Sie hatte – genau wie Miss Marchwood – eine gute Anstellung verloren und musste sich nun eine neue suchen, und das zu einer Zeit im Leben, da sie nicht länger jung war.
Morris und ich kehrten zu Fuß zum Bahnhof zurück, den Hügel hinunter und quer durch die Ortschaft. Es war ein angenehmer Spaziergang, und er verschaffte uns mehr als genügend Gelegenheit, unsere neu gewonnenen Informationen auszutauschen.
»Sämtliche Bediensteten sagen, dass sie gerne im Haushalt der Benedicts arbeiten«, berichtete Morris. »Sie sind alle ganz untröstlich. Wie es scheint, mochten sie Mrs. Benedict ausgesprochen gern.«
»Diesen Eindruck hatte ich auch. Was mich zu der Frage führt … Wie steht es mit Benedict selbst, dem Arbeitgeber? Fühlen sie mit ihm mit? Hatten Sie den Eindruck, dass er so beliebt ist, wie es seine junge Frau war?«
»Reichlich Mitgefühl, Sir, reichlich. Er war vielleicht nicht so …« Morris suchte vergeblich nach den richtigen Worten. »Ich hatte den Eindruck, dass sie eine Menge Respekt vor ihm haben, und dass sie ihn ein wenig fürchten, wenn Sie so wollen. Sie mögen ihn wahrscheinlich nicht ganz so sehr wie die verstorbene Herrin.«
Es gab vonseiten des Personals also Anzeichen echter Zuneigung für die Dame des Hauses, nicht jedoch für den Herrn.
»Und sind die Bediensteten der Ansicht, dass die Benedicts eine glückliche Ehe hatten?«
Morris zögerte. »Die Köchin nannte es eine ›gute Ehe‹. Das war das Wort, das sie gebraucht hat. Und alle sagen, Mr. Benedict habe seine Frau vergöttert.«
Das stimmte mehr oder weniger mit dem überein, was ich von Henderson erfahren hatte.
»Und sie? Hat sie ihn vergöttert? Oder hat sie ihn vielleicht sogar geliebt?«
Morris errötete. »Ich weiß nicht, Sir, ich kenne mich nicht aus damit. Woher soll man das wissen? Ich meine, Leute wie die Benedicts, sie sind sehr vornehm, wie sie sich miteinander unterhalten und so weiter, oder nicht? Sie küssen sich nicht in Gegenwart anderer.«
Zugegeben. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Sebastian Benedict sich zu einem derartig neckischen Verhalten hinreißen ließ, nicht im Privaten und schon gar nicht in der Öffentlichkeit. Doch kein Außenseiter weiß jemals, wie es in einer anderen Ehe aussieht. Andererseits hatte die Kammerzofe der Hausherrin keinen Zweifel offengelassen, wie Benedict für seine Frau empfand. Der Charakter des Opfers faszinierte mich von Minute zu Minute mehr.
»Wie haben die Bediensteten die Verstorbene beschrieben?«, wollte ich als Nächstes wissen.
»Eine sehr stille, würdevolle Lady, das ist alles, was sie gesagt haben. Sie war musikalisch und spielte wunderschön auf dem Flügel. Sie konnte stundenlang sitzen und nur für sich selbst spielen.«
Die Beschreibung ließ mir keine Ruhe. Was war aus dem beschwingten, lachenden, lebendigen, achtzehn Jahre alten Mädchen aus Italien geworden, dass neun Jahre Ehe mit Benedict sie in eine stille, würdevolle britische Matrone verwandelt hatten, die allein in ihrem Salon saß und stundenlang auf dem Flügel vor sich hin klimperte? Was hatte all ihr Feuer erlöschen lassen?
»Wie fanden Sie denn den Ehemann, Sir?«, erkundigte sich Morris.
»Ein etwas merkwürdiger Charakter, offen gestanden. Ich zweifle nicht daran, dass er seine Frau geliebt hat. Er trauert aufrichtig um sie. Doch er scheint auch von ihrer Schönheit besessen gewesen zu sein. Ich konnte das Gefühl nicht ablegen, dass er beinahe genauso aufgebracht gewesen wäre beim Verlust eines kostbaren Gemäldes oder einer Statue. Ich schätze, Morris, von Mrs. Benedicts Standpunkt aus muss es sehr ermüdend gewesen sein, wenn nicht rundheraus deprimierend, mit einem Ehemann verheiratet zu sein, der einen allem Anschein nach in erster Linie wegen der eigenen Schönheit liebt, der einen als Objet d’art betrachtet und einen nicht um seiner selbst willen liebt mitsamt allen Unvollkommenheiten, die man vielleicht hat. Sie war außerdem sehr jung, als sie ihn geheiratet hat, erst achtzehn, auch wenn sie sich bereits gekannt haben, seit sie vierzehn war. Er war fünfzehn Jahre älter als sie. Die Ehe scheint zwischen ihrem Vater und ihm arrangiert worden zu sein – Benedict selbst kommt mir kaum als die Sorte Mann vor, bei der ein junges Mädchen ins Schwärmen gerät.«
»Sie glauben, dass Mrs. Benedict vielleicht einen Liebhaber gehabt hat?«, mutmaßte Morris.
Ich fürchte, als Polizeibeamter entwickelt man früher oder später eine schmutzige Phantasie. Wir sehen zu viel von der menschlichen Natur, zu viele menschliche Schwächen und heimliche Laster. Ich konnte nicht verneinen, dass mir der Gedanke noch nie gekommen war – im Gegenteil. Er lauerte in meinem Hinterkopf, seit ich den Ehemann zum ersten Mal gesehen hatte. Nichtsdestotrotz fiel meine Antwort sehr vorsichtig aus.
»Es wäre möglich, dass sie sich sehr gelangweilt hat und einsam war hier in England. Die einzige Begleiterin war diese Miss Marchwood, ihre Gesellschafterin – und Marchwood erscheint mir kaum als von der lebhaften Sorte. Die Ehe hat keine Kinder hervorgebracht. Miss Marchwood war neun Jahre lang ihre Gesellschafterin und die einzige Vertraute von Allegra Benedict. Falls es eine skandalöse Affäre in Mrs. Benedicts Privatleben gegeben hat – wohlgemerkt, ich sage nur falls –, dann wird die Gesellschafterin davon gewusst und die Augen davor verschlossen haben. Sie wird selbst jetzt ihre Komplizenschaft bei einer Affäre nicht gestehen. Oder uns irgendetwas erzählen, das ihr eigenes Verhalten in schlechtem Licht dastehen lässt. Sie wurde eingestellt und bezahlt, um sich um Mrs. Benedict zu kümmern, doch ihren Lohn bezahlte Mr. Benedict, und er tut es immer noch, wie es scheint.« Ich ließ mich zu einem schiefen Grinsen hinreißen. »Sie konnte mir gar nicht schnell genug erzählen, wie sie Mrs. Benedict im Nebel verloren hat. Jegliche andere Frage jedoch wird, so denke ich, gleichermaßen vorgefertigte Antworten nach sich ziehen.«
»Wahrscheinlich haben Sie recht, Sir«, rumpelte Morris. »Eine traurige Geschichte, dass Mr. Benedict eine Freundin für seine Frau bezahlen muss. Das Personal hat nicht viel erzählen können über Miss Marchwood, außer, dass sie sehr steif ist im Umgang mit den Dienstboten. Ich schätze, die Köchin kommt noch am besten mit ihr klar.«
»Die ganze Sache gefällt mir nicht so recht, um ehrlich zu sein, Morris«, murmelte ich unzufrieden, als wir den Bahnhofsplatz erreichten. »Die Marchwood war bei einigen Punkten viel zu schlagfertig und bei anderen zu schweigsam. Sie hatte eine schlüssige Erklärung für ihre Reise nach London und wie es dazu kam, dass sie und Mrs. Benedict getrennt wurden, alles schön und gut und wie auswendig gelernt. An anderen Stellen hingegen ist sie unerklärlich vage und ausweichend. Sie sagt, sie hätten den Laden des Juweliers in der Burlington Arcade kurz nach vier Uhr verlassen, um sich ein paar Sätze später auf ›fast fünf‹ zu verbessern. Das ist ein Unterschied von einer Stunde.
Und da ist noch etwas. Ich kann nicht anders, ich muss immer wieder an diese alte Eiche denken.«
»Die Eiche?«, fragte Morris erstaunt. »Sie meinen diesen Baum, der auf Anweisung von King Charles dem Zweiten gepflanzt wurde?«
»King Charles hat damit genauso wenig zu tun wie meine Großmutter, Morris. Aber ja, ich meine den Baum im Park. Die meisten anderen Bäume stehen entlang der Wege. Nehmen wir also an, Sie haben recht und Mrs. Benedict hatte eine … eine amouröse Seite. Nun, wenn ich an ihrer Stelle mich mit jemandem im Park hätte treffen wollen, heimlich, meine ich, dann hätte ich vielleicht auch die Eiche als Treffpunkt vorgeschlagen, hübsch abgelegen im hinteren Bereich des Parks und auf keinen Fall mit irgendeinem anderen Baum zu verwechseln.«
Morris zog die Luft zwischen den Zähnen hindurch. »Da ist dieser Geschäftsführer«, sagte er dann. »Dieser Angelis.«
»Da ist dieser Angelis, sehr genau, und ich werde ihn morgen besuchen. Sie gehen unterdessen in die Burlington Arcade und reden mit diesem Juwelier Tedeschi. Lassen Sie sich nicht nur bestätigen, dass Mrs. Benedict am Samstagnachmittag dort war, sondern versuchen Sie auch herauszufinden, um welche Zeit die beiden Frauen das Geschäft wieder verlassen haben. Versuchen Sie den Ordner zu finden, der ihnen eine Droschke gerufen hat, und den Straßenfeger, der ihnen über die Straße geholfen hat. Miss Marchwood sagte, der Junge habe sie im Nebel reden hören. Diese Jungen patrouillieren im Allgemeinen immer wieder den gleichen Straßenabschnitt, während sie auf Kundschaft warten. Sie betreten nicht das Revier von Konkurrenten. Es dürfte nicht weiter schwierig sein, ihn zu finden.«
Es waren gleich mehrere Dinge, die mich störten und mir unablässig durch den Kopf gingen. »Was ist aus der wildledernen Handtasche geworden, die das Opfer nach den Worten von Miss Marchwood bei sich hatte?«
»Jeder könnte sie gefunden und mitgenommen haben«, sagte Morris. »Vielleicht hat sie sie auf der Straße verloren oder irgendwo im Park und im Nebel nicht wiedergefunden.«
Es war eine mögliche Erklärung. Eine teure Handtasche von der Sorte, wie Miss Marchwood sie mir beschrieben hatte, würde sicherlich nicht lange auf einer Londoner Straße oder in einem Park liegen bleiben.
»Da kommt unser Zug, Sir«, sagte Morris, als die Lokomotive in Sicht stampfte und die Luft mit ihrem schwefligen Qualm erfüllte.
Wir stiegen ein und hatten das Glück, uns allein im Waggon wiederzufinden. Der Schaffner auf dem Bahnsteig blies in seine Pfeife. Es gab einen Ruck, und unter metallischem Kreischen und eiligem Stampfen der Lok setzten wir uns in Bewegung.
»Warum kein Butler?«, fragte ich, als mir ein weiterer störender Gedanke in den Sinn kam.
»Sir?« Morris hatte es sich bequem gemacht und war vom Schaukeln des Waggons schläfrig geworden. Er hatte Mühe, die Augen offen zu halten.
»Es gibt sieben Bedienstete im Haushalt der Benedicts, einschließlich einem Kammerdiener und einer Zofe. Ich schließe die Gesellschafterin nicht ein, weil sie keine Bedienstete ist und einen höheren Status genießt als diese. Aber es gibt keinen Butler. Ich hätte einen Butler erwartet in einem so wohlsituierten Haushalt. Als Aufseher über das Personal und Schlichter von Streitigkeiten. Er wäre das Verbindungsglied zwischen den Dienstboten und den Herrschaften – und er wäre es auch, der Besuchern die Tür öffnet. Doch stattdessen wurde ich von einem verheulten Zimmermädchen begrüßt. Ein nettes Mädchen, ohne Zweifel, aber meiner Erfahrung nach gibt es in einem Haushalt wie dem der Benedicts immer einen Butler.«
»Ah, richtig«, murmelte Morris. »Sie hatten einen, aber er ist gegangen.«
»Morris!« Ich richtete mich überrascht auf. »Das haben Sie vorhin nicht erwähnt!«
Er sah mich verlegen an. »Es ist wohl schon länger her, Sir. Als ich die Köchin nach weiteren Bediensteten fragte, die ich noch nicht gesprochen hatte, meinte sie, ich hätte alle gesehen. Und dann fügte sie noch hinzu, dass sie ohne Butler zurechtkämen, seit Mr. Seymour vor einem halben Jahr gegangen sei. Mr. Benedict sei damals sehr aufgebracht gewesen deswegen und habe seither niemanden eingestellt, um Mr. Seymour zu ersetzen.«
»Wenn Benedict aufgebracht war, weil Seymour gegangen ist, dann legt das die Vermutung nahe, dass der Butler gekündigt hat und nicht rausgeworfen wurde. Ich frage mich, warum Seymour gegangen ist, obwohl die Arbeit kaum anstrengend gewesen sein kann und obwohl sämtliche anderen Bediensteten offensichtlich so zufrieden sind? Morris! Wenn Sie morgen in der Burlington Arcade fertig sind und auch mit dem Straßenjungen geredet haben, wartet schon die nächste Aufgabe auf Sie. Klappern Sie alle Vermittlungen für gehobenes Hauspersonal ab. Seymour hatte mehr als genügend Zeit, eine neue Anstellung zu finden. Ich möchte wissen, wo er jetzt arbeitet. Ich will mit ihm reden, unbedingt!«
»Jawohl, Sir!«, antwortete Morris mit einem Seufzer. »Dürfte ich vorschlagen, Sir, dass Constable Biddle die Suche nach dem kleinen Straßenfeger übernimmt? Es könnte die Sache ein wenig beschleunigen. Und Biddle würde die Gelegenheit begrüßen. Er ist sehr ehrgeizig.«
»Nur zu, schicken Sie den jungen Biddle. Ich nehme an, er kann es wohl kaum völlig vermasseln.« Ich wusste, dass Constable Biddle begeisterungsfähig war und es immer gut meinte, doch sein Eifer brachte ihn gelegentlich in die ein oder andere Bredouille.
Wir näherten uns dem Bahnhof von Waterloo.
»Verzeihung, Sir, ich hätte eine Frage«, sagte Morris schüchtern. »Was genau ist denn ein Obscheedar?«
Als ich an jenem Abend zu Hause mit Lizzie an unserem bescheidenen Esstisch saß, erzählte ich ihr von dem neuen Mordfall, den ich für den Scotland Yard übernommen hatte. Ich beschrieb ihr Allegra Benedict, wie sie vor ihrem Tod ausgesehen haben musste, und ich erzählte ihr, dass ich mit Morris bis nach Egham gefahren war, um den trauernden Ehemann zu besuchen. Und weil sie eine Arzttochter war, erzählte ich ihr sogar von Carmichaels neuer Marotte, der Karbol versprühenden Maschine.
»Du lieber Himmel!«, sagte Lizzie. »Ich hätte nie gedacht, dass Dr. Carmichael so offen ist für neue Ideen. Was für eine schlimme Geschichte. Die arme Frau. Ich frage mich, ob sie glücklich war in England, so weit weg von ihrer eigenen Heimat. Ich frage mich, ob sie hier viele Freundinnen hatte.«
»Sie hatte eine Gesellschafterin, die sie überallhin begleitet hat und auch am letzten Samstag mit ihr nach London gefahren ist, eine gewisse Miss Marchwood. Eine ziemlich merkwürdige Person … Hoppla, Lizzie, was ist denn los?«
Lizzie hatte Messer und Gabel hingelegt und starrte mich aus großen Augen an.
»Hast du gesagt Marchwood? Es kann nicht die Gleiche sein … Aber du sagst, sie war Mrs. Benedicts Gesellschafterin? Es muss die Gleiche sein!«
»Du kennst sie?«, fragte ich erstaunt.
»Nein, nein, ganz und gar nicht. Ich habe nur von ihr reden gehört. Aber Bessie kennt sie sehr gut.«
»Bessie!«, rief ich so laut, dass Bessie erschien und sich erkundigte, was ich wollte.
»Bessie«, sagte Lizzie zu ihr. »Die Dame, die normalerweise sonntags zu euren Temperenzversammlungen kommt und beim Tee hilft – sie heißt Miss Marchwood, habe ich das richtig verstanden?«
»Das ist richtig, Missus«, antwortete Bessie. »Nur, dass sie letzten Sonntag nicht da war, als Sie mitgekommen sind. Ich war wirklich traurig deswegen. Sie ist immer da, zusammen mit Mrs. Scott und Mrs. Gribble. Miss Marchwood bringt immer Kekse mit. Ich glaube nicht, dass sie sie selbst macht. Wahrscheinlich die Köchin in dem Haushalt, wo sie lebt. Es sind jedenfalls sehr leckere Kekse.«
»Die Kekse spielen keine Rolle!«, unterbrach ich sie. »Kennst du den Namen von Miss Marchwoods Herrin? War sie schon einmal mit bei euren Versammlungen? Weißt du, wo sie wohnen?«
»Nicht in London, so viel weiß ich«, antwortete Bessie. »Sie kommt immer mit dem Zug. Ich meine Miss Marchwood. Die Lady, für die sie arbeitet, war noch nie dabei.«
»Sie muss eine sehr schöne Frau sein, eine Italienerin«, sagte ich zu Bessie.
Bessie war gebührend beeindruckt. »Man denke nur! Und dann Miss Marchwood, so nichtssagend!«
Ich war jetzt sicher, dass wir von der gleichen Frau redeten. Marchwood, so hatten wir im Haus der Benedicts erfahren, kam am besten von allem Personal mit der Köchin aus. Jener gleichen Köchin, der es nichts ausmachte, Kekse für die Gesellschafterin zu backen, die diese nach London zu ihren Gebetsstunden mitnahm. »Der Name Benedict sagt dir nichts, Bessie?«
Bessie schüttelte den Kopf. »Ich kenne niemanden, der so heißt. Möchten Sie, dass ich diese Schale mit Gemüse mitnehme?«
Als Bessie wieder gegangen war, sah ich Lizzie an. »Scheint so, als wäre das Verschwinden von Mrs. Benedict am Samstagabend der Grund dafür, dass du Miss Marchwood am Sonntag nicht kennengelernt hast. Der Haushalt war in hellstem Aufruhr.«
»Aber vielleicht ist sie diesen Sonntag wieder da«, sagte Lizzie. »Ich dachte mir, dass ich noch einmal mit Bessie hingehe und mir eine Predigt von Mr. Fawcett anhöre. Es war recht unterhaltsam«, fügte sie beiläufig hinzu.
»Lizzie!«, sagte ich so streng ich konnte im sicheren Wissen, dass jeder Einwand von meiner Seite sinnlos war. »Ich möchte nicht, dass du dich in die Ermittlungen einmischst!«
»Aber du möchtest doch sicher wissen, ob Miss Marchwood sich am Sonntag auf der Versammlung zeigt und in welchem Gemütszustand sie ist, falls sie kommt, oder etwa nicht?«, entgegnete Lizzie.
»Würde sie wissen, wer du bist?«, fragte ich nach kurzem Zögern. »Ich meine, würde sie wissen, dass du mit einem Polizeibeamten verheiratet bist? Mit mir?«
»Wenn sie es bis jetzt noch nicht weiß, werden Mrs. Scott oder Mr. Fawcett es ihr ganz bestimmt erzählen, könnte ich mir denken. Ich glaube, Mrs. Scott weiß, wer du bist. Ich hatte das Gefühl, dass sie mich recht misstrauisch beobachtet hat.«
»Also schön, aber tu alles, um nicht noch mehr Misstrauen zu erwecken, hörst du? Überzeug dich nur, ob Miss Marchwood da ist und welchen Eindruck sie macht. Keine Fragen an sie, hörst du? Keinerlei direkte Erwähnung des Mordfalles!«
»Als würde ich so etwas tun!«, sagte meine Ehefrau entrüstet. »Also wirklich, Ben.«
»Ja, sicher. Ich weiß, du bist taktvoll«, beeilte ich mich zu sagen. »Aber ich möchte nicht, dass Miss Marchwood noch mehr verängstigt wird, als es ohnehin schon der Fall ist.«
Lizzies scharfer Verstand bemerkte meine Wortwahl sofort. »Verängstigt? Du glaubst, sie ist verängstigt? Nicht schockiert oder in Trauer?«
»Ja«, sagte ich. »Ich habe lange darüber nachgedacht, und ich bin sicher, Isabella Marchwood ist sehr verängstigt. Ich weiß allerdings nicht, was dahintersteckt.«