KAPITEL SECHZEHN
Inspector Benjamin Ross
Man war übereingekommen, dass Styles und O’Reilly Fawcett mit nach Manchester nehmen und ihn dort vor Gericht mit den Anklagen konfrontieren sollten, die sie gegen ihn zusammengetragen hatten. Doch zuvor gab Styles mir noch eine letzte Gelegenheit, mit Fawcett über Allegra Benedict zu sprechen. Ich nannte ihn weiterhin bei dem Namen, unter dem er in London aufgetreten war. Wir hatten es noch nicht geschafft, ihn zur Preisgabe seines richtigen Namens zu bewegen. Vielleicht würde Styles ihn dazu bringen, oder vielleicht hatte Fawcett im Lauf der Jahre auch so viele Namen benutzt, dass er selbst nicht mehr wusste, wie er eigentlich hieß. Er war wie ein Schauspieler, der zu viele Rollen gespielt hatte.
Der vornehme, modisch gekleidete Mann gab am Sonntagmorgen einen traurigen Anblick ab. Normalerweise war dies der Tag, an dem er über seiner Herde residierte, seine Macht genoss, in ihrer Bewunderung badete, Nervenkitzel zog aus der Macht, ihre Gefühle zu manipulieren und sie nach seinem Willen zu beugen. Stattdessen saß er in einer nackten Zelle, die den Gestank von purer Verzweiflung verströmte, und starrte mich mit großen Augen an. Kein Dandy mehr, bei Gott, sondern kaum wiederzuerkennen. Eine zerzauste, schmutzige, verhärmte Karikatur dessen, was er vor Kurzem noch gewesen war. Dieses Verhör würde völlig anders laufen als das vorangegangene.
»Ich bin kein Mörder«, wiederholte er. »Ich schwöre es!« Er war den Tränen nahe.
»Ich beschuldige Sie auch gar nicht des Mordes – noch nicht jedenfalls«, sagte ich zu ihm. »Aber ich beschuldige Sie der Behinderung unserer Ermittlungen in zwei Fällen, dem Mord an Allegra Benedict und außerdem dem Mord an Isabella Marchwood. Und die Polizei bei Kapitalverbrechen zu behindern stellt, wie Sie sicherlich wissen, ebenfalls eine Straftat dar.«
»Wieso behindere ich Sie?«, rief er aus, indem er sich die Haare raufte. »Ich weiß absolut nichts über diese Morde!«
Ich beugte mich vor. »Fawcett – ich muss wissen, ob Sie ein Verhältnis mit einem der beiden Opfer hatten, Allegra Benedict. Sie dachten wahrscheinlich, Sie wären diskret – aber irgendjemand wusste davon, über Isabella Marchwood hinaus, die von Anfang an Mitwisserin war. Es wäre möglich, dass diese andere Person oder diese Personen ihr Wissen missbraucht haben, um Mrs. Benedict eine falsche Botschaft zu senden und sie an jenem Samstag in den Park zu locken. Wollen Sie, dass der wahre Mörder gefasst wird oder nicht?«
»Selbstverständlich!«, begehrte er auf. »Bevor der Kerl nicht überführt ist, bleibe ich verdächtig! Was glauben Sie, wie ich mich dabei fühle? Ich will nicht wegen der Verbrechen eines anderen am Galgen baumeln!«
»Dann helfen Sie mir gefälligst, den wahren Mörder zu finden, Fawcett«, sagte ich und lehnte mich abwartend zurück.
Er seufzte und zuckte die Schultern, dann sank er resigniert zusammen. »Also schön. Ich gebe es zu. Ja, es war eine Dummheit von mir, aber … ich hatte ein Verhältnis mit Allegra Benedict. Normalerweise wäre ich dieses Risiko nicht eingegangen. Ich habe so etwas noch nie gemacht. Es ist nicht so, dass es mir an Gelegenheiten gemangelt hätte.« Er bedachte mich mit einem schiefen Grinsen. »Ich prahle nicht, doch Sie müssen wissen, Inspector Ross, es gibt einen gewissen Typ Frauen, die leicht zur Beute eines guten Predigers werden – oder irgendeines Mannes mit einem gewissen Maß an Autorität. Es ist nicht nur, dass so eine Frau seinen Worten blindlings glaubt, sondern sie entwickelt eine Leidenschaft für die Person selbst. Fragen Sie mich nicht wie oder warum, es passiert einfach, und es geschieht nicht gerade selten. Ich war mir dessen immer bewusst und der Gefahren, die es heraufbeschwört, und so habe ich mich stets bemüht, einer derartigen Situation aus dem Weg zu gehen. Aber Allegra … sie war anders.«
Er schwieg für eine Weile. Ich wartete geduldig. In seinem Gesicht war etwas, das ich vorher nicht bei ihm gesehen hatte, und ich wage zu behaupten, dass wenige Leute diesen Ausdruck bei ihm kannten. Ein Ausdruck aufrichtigen Bedauerns.
»Sie haben sie nicht gesehen, als sie noch gelebt hat, Inspector. Sie war nicht nur schön, auch wenn ihre Schönheit ganz und gar außergewöhnlich war, sondern voller heimlichem Verlangen, voller Sehnsucht, voller Möglichkeiten, die noch nie jemand bei ihr entdeckt hatte.« Er stieß ein leises, beinahe verlegenes Lachen aus. »Ich klinge wie ein Schreiber von billigen Romanen, aber in ihrem Fall war es tatsächlich so. Sie kennen das Märchen von Dornröschen, nehme ich an? Allegra war in mancherlei Hinsicht wie Dornröschen. Jeder Mann sehnte sich danach, sie zu küssen und wieder zum Leben zu erwecken.« Sein Lächeln wurde traurig. »Und genau das habe ich getan.«
»Und dann stellten Sie fest, dass Sie eine gefährliche Kreatur erweckt hatten«, mutmaßte ich.
Er nickte. »O ja. Es war nur eine Frage der Zeit, bevor der Ehemann erkannte, was vor sich ging. Die Situation, wäre sie ihm bekannt geworden, hätte zu drastischen Maßnahmen von seiner Seite geführt. Er ist ein einflussreicher Mann mit Beziehungen und in einer Position, die ihm eine Scheidung von seiner Frau ermöglicht hätte. Außerdem wäre mein Name gefallen.
Ich versuchte Allegra das Risiko klarzumachen, die Erfordernis absoluter Diskretion und die notwendige Verschleierung, die ständige Aufmerksamkeit erforderte. Doch sie hatte kein Verständnis für diese Dinge. Diskretion und Verschleierung bedeuteten ihr nichts. Im Gegenteil, das Risiko war ein Nervenkitzel für sie.« Er seufzte. «Trotz alledem dachte ich bis zuletzt, dass niemand etwas von unserer Affäre bemerkt hätte.«
Er zuckte ärgerlich mit den Schultern. »Natürlich wusste Isabella Marchwood Bescheid. Sie war unabdingbar für unsere Pläne, doch ansonsten dachte ich wirklich, dass mir noch eine Weile blieb. Mir war klar, dass ich irgendwann meine Zelte abbrechen und verschwinden musste. Jedoch dachte ich nicht, dass der Moment bereits gekommen wäre. Ich redete mir ein, dass es noch nicht so weit war.«
»Sie haben sie geliebt«, sagte ich leise und überraschte mich mit meinen Worten genauso sehr wie Fawcett.
Er dachte darüber nach. »Ja«, sagte er sodann. »Vermutlich haben Sie recht.«
»Haben Sie sich je im Green Park mit ihr getroffen?«
»Ja. Mehrmals. Wir sind von dort aus mit einer Kutsche zu einem kleinen Hotel gefahren, von dem ich weiß, dass das Personal diskret ist.«
Es gab mehrere derartige Etablissements in London, Hotels nur dem Namen nach. Einige waren kaum mehr als Bordelle und lieferten die Mädchen gleich mit, falls erforderlich. Heimliche Liebespaare und andere Personen mit der Notwendigkeit für einen privaten Ort, an dem man über sehr geheime Geschäfte reden konnte, gingen ebenfalls dorthin. Wie dem auch sein mochte, diejenigen, die dort Zimmer anmieteten, blieben selten länger als eine oder zwei Stunden. Doch die Betreiber kniffen beide Augen zu, und niemand vom »Hotelpersonal«, wie sich die Puffmutter und ihre Schläger nannten, gab irgendwelche Dinge weiter.
»Als ich von ihrem Tod erfuhr, war ich vollkommen fassungslos«, gestand Fawcett, den Tränen nahe. »Aber ich durfte mir nichts anmerken lassen. Ich musste nach außen hin gelassen und normal erscheinen. Sie können sich nicht vorstellen, wie schwierig das war, Inspector. Sie mögen sagen, ich habe reichlich Erfahrung darin, andere zu täuschen, doch das war eine Aufgabe, die all mein Talent erforderte. Ich habe mit Miss Marchwood gesprochen und ihr eingeschärft, dass sie mit niemandem reden durfte über … über meine Freundschaft mit Allegra. Isabella Marchwood war das schwache Glied in der Kette, wenn Sie so wollen, aber ich dachte, sie hätte zu viel Angst, um jemals zu reden.«
Ja, dachte ich, das war die kleine Szene, die Lizzie beim Treffen der Temperenzbewegung beobachtet hat. Du hast die völlig aufgelöste Frau nicht getröstet, sondern ihr quasi Befehle erteilt. Halt den Mund. Sag nichts. Später hat Lizzie ohne Erfolg versucht, die unglückselige Gesellschafterin zum Reden zu bringen – ohne Erfolg wahrscheinlich deswegen, weil Fawcetts Instruktionen noch zu frisch in Isabella Marchwoods Gedächtnis eingebrannt waren. Doch am darauffolgenden Tag, dem Tag, an dem sie ermordet wurde, hat sie mit einem bestimmten Ziel im Zug nach London gesessen. Sie hatte über Nacht Zeit gehabt zum Nachdenken, und ich nahm stark an, dass sie zur Polizei gewollt hatte … oder zu Lizzie, um mit ihr zu reden.
»Hat Mrs. Benedict Ihnen jemals Geld gegeben für Ihre sogenannte gute Sache oder aus irgendeinem anderen Grund?«, fragte ich Fawcett, der bedrückt auf seine Fingernägel starrte.
Er blickte auf und zögerte.
»Kommen Sie, Mann«, drängte ich. »Ich habe nicht vor, Sie wegen irgendwelcher Betrügereien vor Gericht zu stellen. Das machen die Kollegen aus Manchester und all den anderen Städten, in denen Sie leichtgläubige Mitmenschen überredet haben, sich für gute Zwecke von ihrem Geld oder sonstigen Wertgegenständen zu trennen. Ich will lediglich wissen, ob Allegra Benedict auf einen Vorschlag Ihrerseits eingegangen ist, beispielsweise Schmuck zu verkaufen, um Sie finanziell zu unterstützen.«
»Ich habe nie einen derartigen Vorschlag gemacht!«, rief er entrüstet. »Ich habe ihr diese Idee nie eingeflüstert!«
»Schön und gut, aber hat sie jemals etwas in dieser Richtung unternommen? Schmuck verkauft, um Ihnen das Geld zu geben?«
»Ja, das hat sie, doch es war ganz allein ihre Idee.« Er beugte sich vor und sah mich an. »Sie hat eine Perlenkette verkauft, vor längerer Zeit. Aber nicht auf meinen Vorschlag hin, ich wiederhole, nicht auf meine Bitte. Es ist die Wahrheit, Inspector, ich schwöre es! Sie hatte mir erzählt, dass die Perlen ihrer Mutter gehört hätten und dass ihr Mann nichts von der Existenz der Kette wüsste, weswegen er die Perlen auch nicht vermissen oder sich nach ihrem Verbleib erkundigen würde. Sie tat es, ohne vorher auch nur ein Wort mit mir darüber zu reden, und dann brachte sie mir das Geld, glücklich und zufrieden wie ein Kind. Ich … ich nahm das Geld. Ja, ich nahm es an, widerwillig, auch wenn Sie mir das wahrscheinlich nicht glauben werden. Verstehen Sie, ich hatte Angst, dass sie mir eine Szene machen würde, falls ich mich weigerte, und dass Benedict etwas merken würde, wenn sie in diesem Zustand nach Hause kam. Er würde wissen wollen, was sie so aufgewühlt hatte. Noch mehr sorgte ich mich davor, was geschehen würde, falls sie eine Gewohnheit daraus machte. Ich hatte bereits erfahren müssen, wie unberechenbar sie sein konnte.«
Er schnitt eine ironische Grimasse. »Tatsächlich überlegte ich sogar, dass vielleicht der Zeitpunkt gekommen war, London zu verlassen und in die Provinz zurückzukehren. Die Ladys in der Provinz sind nicht zu fein, ein Auge auf einen Prediger zu werfen, aber sie leben in kleineren Gemeinschaften, wo jeder weiß, was der andere macht. Sie haben aufmerksame Familien und Freunde überall, und die Wahrscheinlichkeit ist viel geringer, dass sie sich zu Dummheiten hinreißen lassen. Für die Leute in Kleinstädten ist der Klatsch wie Essen und Trinken, Inspector! Die Ladys flirten zwar, aber weiter geht es nicht. Wenn sie Ehebruch begehen, dann nur in ihrer Fantasie.
Doch Allegra … ich war nicht sicher, was sie als Nächstes tun würde. Und der Verkauf von Schmuck beinhaltet zwei Parteien, den Verkäufer und den Käufer. Allegra mochte ihrem Mann nichts verraten haben, aber der Juwelier, der die Sachen gekauft hatte, würde das vielleicht für sie übernehmen. Ich konnte nicht sicher sein.«
»Haben Sie Allegra gebeten, eine Brosche zu verkaufen oder hat sie Ihnen gegenüber erwähnt, dass sie die Absicht hatte?«
Er schüttelte den Kopf, dass seine langen Haare flogen. »Nein, nein! Das sagte ich doch schon! Ich hatte Angst, ihr Mann würde etwas herausfinden. Vielleicht wäre ihm ja nicht aufgefallen, dass der Schmuck verschwunden war, genau wie sie sagte, vielleicht aber doch. Ich war nicht bereit, das Risiko einzugehen. Nachdem ich das Geld vom Verkauf der Perlenkette angenommen hatte, sagte ich zu ihr, dass sie so etwas niemals wieder tun dürfe.«
Ich nahm an, dass seine Aussage wohl die Wahrheit war. Verschwundene Schmuckstücke, die Sebastian Benedict sich nicht erklären konnte, hätten ihn vielleicht auf die Spur der Wahrheit gebracht. Oder vielleicht wäre ein Juwelier misstrauisch geworden, dass Allegra in die Hände eines Schwindlers gefallen war, und hätte sich deswegen mit Benedict in Verbindung gesetzt, genau wie Fawcett es beschrieb. Der gute alte Tedeschi, der Allegra von Kindesbeinen an gekannt hatte, würde es nicht getan haben. Doch das konnte Fawcett nicht wissen. Trotz seiner inständigen Bitte, dass Allegra so etwas nie wieder tun dürfe, war sie hingegangen und hatte die Brosche verkauft, um ihn ein weiteres Mal mit Geld zu überraschen.
»Es war richtig, dass Sie mir all das erzählt haben«, sagte ich zu Fawcett. »Ich denke, ich habe jetzt eine ziemlich klare Vorstellung von dem, was passiert ist bis zu dem Moment, da Allegra in den Park spazierte.«
»Ich habe unzählige Male über das nachgedacht, was dort passiert sein muss«, sagte Fawcett leise. »Was auch immer, ich bin nicht schuld an ihrem Tod. Wenn jemand anders unser Geheimnis entdeckt und grausigen Nutzen daraus gezogen hat, dann ist es nicht meine Schuld.«
Ich hatte nicht vor, mit ihm über diesen Punkt zu streiten – es lag nicht in seiner Natur, für irgendetwas die Schuld auf sich zu nehmen, und es wäre reine Zeitverschwendung gewesen. Stattdessen erhob ich mich und machte Anstalten zu gehen.
»Dann werde ich also heute nach Manchester gebracht?«, fragte er.
»Sie werden heute Nachmittag in Gewahrsam von Inspector Styles aufbrechen. Ich werde Sie und den Inspector – und Sergeant O’Reilly – bis zum Bahnhof begleiten und sicherstellen, dass Sie in den Zug steigen. Sobald dies geschehen ist, fallen Sie nicht mehr in den Verantwortungsbereich vom Scotland Yard. Wenn es Ihnen ein Trost ist«, fügte ich grimmig hinzu, »Sie haben mich meiner sonntäglichen Erholung beraubt.«
Elizabeth Martin Ross
Bens Abwesenheit an diesem Sonntag hatte zur Folge, dass Bessie und ich einen ruhigen Tag verbrachten. Vielleicht traf ich deswegen den Entschluss, bis zum Saal der Temperenzbewegung zu spazieren, auch wenn Fawcett erneut im Gefängnis saß, und herauszufinden, wie die Nachricht bei seinen Anhängern aufgenommen wurde. Ich nahm an, dass sie Bescheid wussten – schließlich war Fawcett am helllichten Tag mitten aus einer Gesellschaft im Haus von Mrs. Scott heraus verhaftet worden. Andererseits waren die Ladys und Gentlemen in Wisteria Lodge wohl kaum die gleichen, die auch zu den Treffen der Bewegung im Saal erschienen. Auch erwartete ich nicht, Mrs. Scott zu sehen nach der Demütigung, die sie in ihrem eigenen Haus erfahren hatte. Mrs. Scott war die Einzige, mit der ich nicht so einfach fertig werden konnte.
»Wir sind bestimmt nicht willkommen, Missus, meinen Sie nicht?«, fragte Bessie, als sie von meinem Entschluss hörte. Seit sie erfahren hatte, dass Fawcett landauf, landab von der Polizei als Hochstapler und Schwindler gesucht wurde, war sie entschieden niedergeschlagen und mit dem Kopf nicht bei ihrer Arbeit.
»Du musst nicht mitkommen, Bessie, wenn du nicht möchtest«, sagte ich zu ihr.
Ihre Augen funkelten indigniert. »Ich werde Sie doch wohl nicht allein gehen lassen! Wo denken Sie denn hin? Diesen Leuten gegenübertreten, ohne Rückendeckung? Ganz bestimmt nicht!«
Ich war dankbar für ihre Loyalität, auch wenn mir nicht ganz klar war, wie sie mir im Fall einer Auseinandersetzung »den Rücken decken« wollte. Vielleicht befürchtete sie, man könnte mich mit Gesangbüchern bewerfen und in Schande aus der Versammlung jagen.
»Eigentlich müssten die Menschen dankbar sein«, sagte ich entschieden. »Sie wurden getäuscht und in die Irre geführt. Sie sollten glücklich sein, dass ihnen jemand die Wahrheit gesagt hat!«
»Aber das sind sie nicht, Missus!«, entgegnete Bessie, die sich besser auskannte mit dem Wesen der Menschen in London als ich. »Was sie betrifft, ist es eine schlimme Nachricht, und niemand will schlimme Nachrichten hören, oder? Erst recht nicht, wenn sie dadurch aussehen wie ein Haufen dummer Schafe.«
»Nein, sie werden nicht glücklich sein«, pflichtete ich ihr bei. »Trotzdem habe ich irgendwie das Gefühl, dass ich mich stellen muss.«
Und so machte ich mich auf den Weg zum Saal, mit einer protestierenden und grummelnden Bessie neben mir.
Als wir näher kamen, wurden wir eines gewissen Tumults gewahr, der sich vor dem Eingang abspielte. Eine wild durcheinanderredende und gestikulierende Menge hatte sich dort eingefunden. Also hatten alle von Fawcetts Verhaftung erfahren, wie es aussah! Zwischen anderen Mitgliedern der Bewegung erblickte ich Mr. Walters, der auf der obersten Stufe in der Tür stand. Sein Backenbart zitterte vor Erregung, als er seinen Brüdern und Schwestern von der Ungerechtigkeit berichtete, die dem Reverend widerfahren war, und paradoxerweise im gleichen Atemzug darum bat, es mögen doch alle ruhig bleiben. Neben ihm stand die kleine Mrs. Gribble in ihrem Sonntagskleid und jammerte händeringend in einem fort. Pritchard war ebenfalls da, der Chorleiter, und schüttelte sorgenvoll den Kopf. Die sonntäglichen Versammlungen waren Momente des kleinen Triumphs für ihn gewesen, ein blasserer Widerschein von Fawcetts Ruhm. Ebenfalls anwesend war der Kinderchor, dessen Mitgliedern vermutlich niemand etwas gesagt hatte. Sie waren gekommen, um ihr Liedchen für den Tag zu singen, nicht ahnend, dass die Versammlung abgesagt worden war. Jetzt genossen sie die Unterbrechung und tollten mit leuchtenden Gesichtern ausgelassen umher. Einige Knaben hatten bereits erkannt, dass sie unerwartet über finanzielle Mittel verfügten, falls die Pennys, die ihre Eltern ihnen für die Kollekte mitgegeben hatten, nicht von ihnen gefordert werden würden. Sie hatten sich in einer Gruppe versammelt, um ihre Schätze zu zählen und zu überlegen, was sie damit anstellen konnten, bevor die Eltern etwas herausfanden und das Geld zurückforderten. Wie ich erwartet hatte, war von Mrs. Scott nichts zu sehen. Sie brütete wahrscheinlich in Clapham über der Peinlichkeit, die man ihr zugefügt hatte, und nährte auf diese Weise das Feuer ihrer Wut.
Bessie zupfte an meinem Ärmel. »Ich weiß nicht, Missus. Es ist keine gute Idee, bestimmt nicht. Diese Leute werden nicht auf das hören, was Sie ihnen sagen. Sie sind allesamt ein wenig aufgebracht.«
»Ein wenig aufgebracht« erschien mir doch arg untertrieben, und viel zu spät begann ich zu denken, dass Bessie möglicherweise recht gehabt hatte. Diskretion ist der bessere Teil der Tapferkeit, heißt es, und wir taten gut daran, uns diskret zurückzuziehen. Doch es war zu spät. Man hatte uns entdeckt.
Mr. Walters, der höher als die anderen auf seinem improvisierten Podium oben auf der Treppe stand, bemerkte uns über die Köpfe der Menschenmenge hinweg. Er hob eine Hand und zeigte anklagend auf uns wie ein Prophet aus dem Alten Testament.
»Verräter!«, kreischte er.
Verräter? Ich traute meinen Ohren nicht. Fawcett hatte sie über Wochen und Monate hinweg getäuscht, und doch war nicht er der Schurke, sondern ich?
»Laufen Sie, Missus!«, ächzte Bessie erschrocken und traf Anstalten, Selbiges zu tun.
»Ganz bestimmt nicht!«, entgegnete ich scharf. »Das ist Unsinn!«
Ich raffte meine Röcke und marschierte forsch der Menge entgegen. Sie reagierte verblüfft und unsicher, was sie nun tun sollte. Einige blickten ratsuchend zu Mr. Walters. Er schien selbst überrascht, dass ich die Stirn besaß, mich ihm zu nähern, und zögerte sichtlich.
Die kleine Mrs. Gribble hatte sich als Erste gefangen. Sie rannte mir entgegen, und Tränen strömten über ihre Wangen. »O Gott, Mrs. Ross! Mrs. Ross! Was haben Sie nur getan?«
»Ich habe überhaupt nichts getan!«, erwiderte ich laut. »Aber Ihr Mr. Fawcett war sehr umtriebig.«
»Es ist keine Frage, was Sie getan haben, Madam!«, kreischte Mr. Pritchard. »Sondern was die Polizei mit dem Pastor angestellt hat, oder?«
»Er ist kein Pastor!«, erwiderte ich nachdrücklich. »Er ist ein Hochstapler, der alle belogen und betrogen und der das gleiche elende Spiel auch schon in anderen englischen Städten gespielt hat!«
Mrs. Gribble richtete ihr tränenverschmiertes Antlitz auf mich. »Aber er war unser Pastor, Mrs. Ross!«
»Genau, und ein wunderbarer Prediger!«, bellte Mr. Walters von seinem Podium. »Ein Mann mit einer seltenen Begabung, der sich ganz in den Dienst einer edlen Sache gestellt hat!«
»In der Tat, ganz genau!«, krähte Mr. Pritchard. »Er kann wunderbar mit Worten umgehen!«
»Er hat seine Gabe missbraucht«, beharrte ich.
»Niemals!«, dröhnte Walters. »Ich bin nicht von seiner Schuld überzeugt, nein, Madam, das bin ich ganz und gar nicht!«
Dies schien die allgemeine Meinung zu sein. Die Menge murmelte und tuschelte untereinander, und ich bemerkte einen Aspekt, der mir überhaupt nicht gefiel. Bilder vom Pariser Mob kamen mir in den Sinn, der sich um die Karren auf dem Weg zur Guillotine versammelte.
»Jedenfalls ist es nicht die Schuld von Mrs. Ross, oder?«, rief Bessie und sprang zu meiner Verteidigung herbei – buchstäblich, denn sie stellte sich zwischen die aufgebrachte Menge und mich.
»Schande über Sie, Madam!«, brüllte Walters, ohne auf Bessie einzugehen. »Schande über Sie dafür, dass Sie heute hergekommen sind! Sind Sie tatsächlich so schamlos, so dreist, trotz allem, was Sie angerichtet haben, Ihr Gesicht zu zeigen?«
»Haben Sie den Verstand verloren?«, rief ich zurück. Ich verlor allmählich die Geduld. »Der elende Halunke Fawcett hat Sie alle belogen und Ihr Vertrauen missbraucht. Er hat Sie um Ihr Geld betrogen und Ihnen alle möglichen Lügen erzählt …«
»Aber nein, das hat er doch gar nicht, Mrs. Ross!«, unterbrach mich Mrs. Gribble, indem sie an meinem Ärmel zupfte. »Es waren keine Lügen. Die Trunksucht ist ein furchtbares Laster. Sie bringt den Ruin über die Menschen. Das ist die Wahrheit!«
»Ja! Ja!«, riefen andere in der Menge zustimmend.
»Wollen Sie das etwa abstreiten?«, rief Walters.
»Nein«, sagte ich. »Selbstverständlich nicht. Doch Fawcett hat das ihm anvertraute Geld nicht so eingesetzt, wie er Sie alle glauben gemacht hat!«
»Trotzdem«, sagte Mrs. Gribble. »Er wollte helfen.« Und mit herzerweichender Aufrichtigkeit fügte sie hinzu: »Außerdem hatte ich so viel Freude dabei, hinterher den Tee zu servieren!«
Ich hatte ihre Illusion zerstört, ihren Glauben, dass sie für etwas Gutes arbeiteten. Fawcett dagegen hatte ihnen ein besseres Gewissen geschenkt und etwas, wofür es sich zu arbeiten lohnte, und jetzt fühlten sie sich verloren und verunsichert.
»Es tut mir sehr leid, dass Sie so denken«, sagte ich. »Ich bin sicher, dass Sie alle irgendwann einsehen werden – nachdem Sie genügend Zeit gehabt haben, um sich von dem Schock zu erholen –, dass jemand Fawcett aufhalten musste. Komm, Bessie, wir gehen.«
Wir zogen uns geordnet zurück, verfolgt von den Blicken der inzwischen größtenteils schweigenden, jedoch weiterhin feindseligen Menge.
»Puh!«, sagte Bessie, als wir die Sicherheit der nächsten Straße erreicht hatten. »Das war knapp. Das möchte ich nicht noch mal durchmachen.«
»Ich kann es ihnen nicht verübeln«, sagte ich. »Mir hätte von Anfang an klar sein müssen, wie sie denken.«
Wir gingen ein Stück weit schweigend nebeneinander her.
»Missus«, begann Bessie schließlich, nachdem sie offenkundig über irgendetwas gebrütet hatte. »Ich weiß, dass Mr. Fawcett kein guter Mensch ist. Ich weiß, dass er den Leuten das Geld aus der Tasche gezogen hat. Aber das heißt nicht, dass das, was er gesagt hat, nicht die Wahrheit gewesen ist. Es ist, wie die Leute vorhin alle gesagt haben. Er hat sie dazu gebracht, über das Trinken nachzudenken und die furchtbaren Folgen, die Trunksucht für das Leben der Menschen hat. Er mag es nicht aus den richtigen Gründen getan haben, aber es hatte die richtige Wirkung, wenn Sie verstehen, was ich sagen will?«
»Ja, ich denke schon.« Ich suchte nach einer Antwort. »Am Ende wäre trotzdem die Desillusionierung gekommen. Am Traurigsten von allem ist, dass sie sämtliches Interesse verlieren werden, jemals wieder irgendeinem Prediger zuzuhören, ganz gleich ob er gut oder böse ist, sobald sie erst über den Schock und den Ärger hinweg sind. Sie werden keinem Reformierer mehr vertrauen. Diese kleinen Kinder im Chor – sie werden Aufwachsen in dem Gedanken, dass man niemandem vertrauen kann und dass das, was nach außen hin als gute Sache erscheint, in Wirklichkeit nur eine Methode ist, um Geld zu verdienen. Das ist ganz furchtbar, eine schreckliche Verdrehung der Wahrheit. Ich denke, Fawcett ist und bleibt ein sehr, sehr schlechter Mensch. Was er getan hat, wird noch auf Jahre seine Folgen haben.«
Bessie schien sehr deprimiert, deswegen fuhr ich fort: »Da es keine Versammlung gibt, die wir besuchen könnten, Bessie – warum nimmst du dir nicht ein wenig Zeit für dich selbst? Du musst mich nicht nach Hause begleiten. Gibt es niemanden, den du gerne besuchen würdest?«
»Nicht hier in dieser Gegend«, antwortete Bessie. »Ich kenne bloß in Marylebone Leute, wo ich früher gewohnt habe, im Haus von Mrs. Parry.«
»Nun denn …« Ich suchte in meinem Pompadour. »Hier hast du das Geld für die Kutsche. Fahr nach Marylebone und besuche Mr. und Mrs. Simms. Ich glaube, sie stehen immer noch in Diensten meiner Tante Parry. Bestimmt freuen sie sich, dich zu sehen und deine Neuigkeiten zu erfahren.«
Bessies Stimmung besserte sich. Der Gedanke, dass sie dem gesamten Hauspersonal am Dorset Square, nicht nur dem von Tante Parry, derart dramatische Neuigkeiten überbringen würde, bot eine wunderbare Gelegenheit, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen.
»Das … das wäre schön, Missus«, sagte sie. »Danke sehr. Vielen, vielen Dank.«
Ich sah ihr hinterher, als sie davoneilte, und setzte meinen Heimweg alleine fort. Es wurde bereits dunkel. Der Laternenanzünder machte seine Runde. Ich überlegte, ob Ben bereits zu Hause war, bis ich dort ankam, nachdem er Styles, O’Reilly und den Gefangenen der beiden sicher zum Zug gebracht hatte. Doch er war noch nicht zurück, als ich ankam, und unser kleines Haus lag still und verlassen da.
Ich zog meinen Mantel und die Haube aus, kontrollierte das Feuer im Wohnzimmer und ging nach draußen in die Küche. Ich wusste nicht, ob Ben Gelegenheit gefunden hatte, etwas zu Mittag zu essen. Wahrscheinlich hatte er gewartet, bis der Zug nach Manchester abgefahren war, um dann ein Steakhaus in der Nähe der Euston Station aufzusuchen. Aber für den Fall, dass er doch nichts gegessen hatte, sollte ich etwas für ihn dahaben. Ich warf einen Blick in die Speisekammer und sah eine gekochte Haxe, die kaum angerührt war. Ein paar gekochte Kartoffeln und ein paar Scheiben vom Fleisch sollten genügen. Ich band mir eine Schürze um, nahm einen Kochtopf aus dem Schrank und setzte mich an den Tisch, um die Kartoffeln zu schälen.
Hinter mir wurde die Küchentür geöffnet, und ein kalter Lufthauch zog mir in den Nacken.
»Bist du das, Ben?«, rief ich, ohne von meiner Arbeit aufzublicken. »Ich bin gerade dabei, uns ein Abendessen zu machen.«
Weil keine Antwort kam, drehte ich mich auf meinem Stuhl um und sah zur Tür.
Es war weder Ben noch Bessie, sondern eine Kreatur wie aus einem Albtraum. Das Phantom! Es war aus seinem Versteck gekrochen, und jetzt war es hier. Ich war mit ihm in meiner eigenen Küche gefangen und saß in der Falle. Die Erscheinung – ich weiß nicht, wie ich es sonst nennen soll – war vom Hals an abwärts in ein blutbeflecktes Leichentuch gehüllt. Das Gesicht war eine weiße Maske, mit Ausnahme der beiden dunkel glühenden Löcher, wo Augen hätten sein sollen. Die Gestalt war von einer Aura aus Bösartigkeit und Niedertracht umgeben, die sich nicht beschreiben lässt. Während ich vor Entsetzen erstarrte, begann sie in hypnotischem Rhythmus von einer Seite zur anderen zu schwanken, wobei das Leichentuch laut raschelte. Die ganze gespenstische Form schimmerte im Licht der Gaslaterne und sah wahrhaft furchterregend aus. Dann stieß sie eine Serie von tiefen grollenden Lauten aus und ging in eine hockende Stellung, als bereite sie sich darauf vor zu springen.
Meine anfängliche Starre verschwand. Ich fuhr von meinem Stuhl hoch, der unter lautem Scheppern zur Seite fiel. Während ich voller Entsetzen das Phantom anstarrte, außerstande zu fliehen, weil der Tisch hinter mir war, bewegte es sich auf mich zu. Es gelang mir nicht, die Augen von dem unirdischen Anblick zu wenden. Jetzt vermochte ich es auch zu riechen. Es verströmte einen üblen Gestank nach getrocknetem Blut, Flusswasser und irgendetwas Fauligem. Langsam hob es die eingehüllten Arme und streckte die Hände in meine Richtung aus, die Finger zu Klauen verkrümmt.
Ich hielt immer noch das kleine Küchenmesser in der Hand, das ich zum Kartoffelschälen benutzt hatte. Es war eine armselige Waffe, mit einer kaum acht Zentimeter langen Klinge, doch es war alles, was ich hatte. Ich fand meine Stimme wieder.
»Bleib zurück!«, befahl ich und stieß mit dem Messer nach der Kreatur.
Sie zögerte und stieß ein langes ärgerliches Fauchen aus. Jetzt konnte ich erkennen, dass ihr Gesicht in Wirklichkeit eine Maske aus Pappmaschee war, weiß bemalt oder gekalkt zu einer matten Einheitlichkeit, die nur durchbrochen wurde von zwei Löchern für die Augen. Diese Augenlöcher waren eingerahmt von etwas, das aussah wie die Ofenschwärze, die Bessie für unseren Küchenherd benutzte. Die Augen hinter den Löchern brannten voller Hass, während sie mich unverwandt fixierten.
Ich wusste, dass ich in großer Gefahr war und dass das Phantom mich töten wollte. Doch im gleichen Moment war meine abergläubische Furcht vor diesem scheinbaren Monster nahezu verflogen. Gleichgültig, wie groß die Bedrohung auch sein mochte, es war ein Mensch und kein Gespenst. Es verfügte nicht über übernatürliche Kräfte. Es war eine lebendige Person, verkleidet in ein amateurhaftes Kostüm. Wo ich herkam, fertigten Kinder an Halloween derartige Masken an und gingen von Haus zu Haus, wo sie »Süßes – oder es gibt Saures!« forderten und den Bewohnern auf diese Weise Süßigkeiten abnötigten.
»Du magst den Straßenmädchen Angst einjagen und sie glauben machen, du wärst das Phantom aus der Themse«, sagte ich zu ihm, »aber mich beeindruckst du nicht, wer auch immer du bist unter deiner Maske. Du siehst einfach lächerlich aus.«
Bei diesen Worten stieß es ein lautes Kreischen aus und sprang mich an, ein wild gewordenes Etwas aus Wut und Hass. Diese beiden Emotionen hatten allem Anschein nach jede Spur von Vernunft ausgeschaltet und verliehen ihm übermenschliche Kräfte. Das kleine Messer wurde mir aus der Hand geschlagen. Die Kreatur hatte mich gepackt und versuchte nun, die Hände um meine Kehle zu legen. Ich rang mit ihr, und wir gingen beide zu Boden.
Keines der Straßenmädchen hatte sich je zur Wehr gesetzt, und die Kreatur hatte nicht damit gerechnet, kämpfen zu müssen. Wir wurden beide behindert. Ich durch meine Röcke, das Ding durch sein voluminöses Leichentuch und die Maske über dem Kopf, und deswegen waren wir nahezu ebenbürtig. Ansonsten hätte es wohl meinen Hals zu packen bekommen. Ich wusste, dass ich es nicht so weit kommen lassen durfte, sonst würde ich bald das Bewusstsein verlieren, und es konnte mich nach Belieben erwürgen. Die ganze Zeit über schien es stärker und stärker zu werden, während es ächzte und fauchte, und ich weiß wirklich nicht, wie es ausgegangen wäre.
Doch plötzlich entstand hinter uns ein neuer Tumult, und mit einem Mal lockerte sich der Griff der Kreatur. Ich war imstande, ihre Hände beiseitezuschlagen. Die Kreatur ruckte nach hinten, weg von mir, und ich hatte wieder Platz. Ich nutzte die Gelegenheit, um auf allen vieren wegzukrabbeln. Zu meiner Verblüffung wurde ich nicht verfolgt. Aus unerfindlichen Gründen hatten sich weitere Gestalten in den Kampf gestürzt, und das Schlachtfeld hatte sich von mir weg verlagert. Ich hörte einen Schrei, der weder von mir noch von der Kreatur stammte. Ich rang schluchzend nach Atem, während ich mir die Haare aus dem Gesicht strich. Als ich sie wieder festgesteckt hatte und sehen konnte, bot sich mir ein bemerkenswerter Anblick.
Das Phantom lag auf dem Rücken am Boden. Bessie und Daisy Smith waren aus dem Nichts erschienen und schlugen erbarmungslos mit den Fäusten auf die Kreatur ein.
»Du wirst meiner Missus nichts tun!«, kreischte Bessie.
»Du hast die arme Clarrie umgebracht!«, bellte Daisy in einem Ton, der jedem Fischweib zur Ehre gereicht hätte.
Die unglückselige Kreatur versuchte sich gegen die beiden Frauen zu wehren, doch sie hatte keine Chance gegen die rachedurstigen Furien. Die beiden sahen aus, als wollten sie das Phantom in Stücke reißen. Die Maske hatte sich gelockert und war zur Seite verrutscht, sodass die Augenlöcher nicht länger über den Augen waren und die Kreatur blind war. Sie schlug und trat wild mit Händen und Füßen um sich, doch sie konnte ihre Angreifer nicht mehr sehen und traf die meiste Zeit nichts als Luft.
Als ich ein kleines Mädchen gewesen war, hatte mein Vater mir eine Schildkröte mitgebracht von einem Mann, der beim Markttag in unserer Gemeinde erschienen war und rasch eine neugierige Menge um sich herum versammelt hatte, die seine exotischen Tiere bewunderte. Meine Schildkröte war ein abenteuerlustiges kleines Ding gewesen, das über sämtliche Hindernisse gekrabbelt und immer wieder hilflos mit den Beinen rudernd auf dem Rücken gelandet war. Genauso sah das Phantom jetzt aus, außerstande, sich selbst aufzurichten. Das Leichentuch hatte sich noch fester um die Gestalt gewickelt, während sie sich von einer Seite zur anderen warf in dem vergeblichen Bemühen, den Schlägen zu entkommen. Es stieß unartikulierte Schreie unter seiner Maske aus, und die ganze Zeit über war es den gnadenlosen Faustschlägen der beiden wütenden Frauen ausgesetzt.
Schließlich erkannte ich, dass sie im Begriff standen, die Kreatur ernstlich zu verletzen. »Wartet! Aufhören!«, rief ich.
Bessie zögerte. Sie hob den Kopf und sah mich fragend an. »Alles in Ordnung, Missus?«
Daisy für ihren Teil machte ihre Beute allein dadurch bewegungsunfähig, dass sie sich einfach auf sie setzte. Jetzt konnte die Kreatur sich nicht einmal mehr hin und her rollen, sondern lag grausig ächzend und röchelnd auf dem Rücken. Lediglich Kopf und Füße waren unter Daisys Röcken noch zu sehen.
»Alles in Ordnung, Bessie«, schnaufte ich. »Aber wieso bist du hier? Ich dachte, du wärst nach Marylebone gefahren?«
»Wollte ich auch«, erklärte Bessie. »Aber bevor ich eine Kutsche fand, hab ich Daisy getroffen und ihr erzählt, was mit Mr. Fawcett passiert ist. Dann meinte sie, sie wollte herkommen und sich bei Ihnen bedanken, weil der Herr Inspector nicht nach Clarrie gesucht hätte, wenn Sie Daisy nicht an jenem Abend mit nach Hause genommen hätten. Also bin ich mit ihr zurückgekommen, und hier sind wir.«
»Ich bin euch beiden sehr dankbar«, sagte ich aus tiefstem Herzen.
Das Ding kreischte und wand sich. »Ich kann nicht atmen!«
»Vielleicht sollten Sie sich lieber nicht auf seine Brust setzen, Daisy«, schlug ich vor.
»Keine Sorge«, antwortete sie. »Wir nehmen ihm die Maske ab und sehen, ob er blau wird. Wenn nicht, atmet er noch.«
Sie packte das Gebilde aus Pappmaschee und riss es herunter.
»Ei, ei!«, rief ich aus. »Das ist ja Mr. Pritchard!«
Seine Schmalzlocken waren zerzaust; das Fett war geschmolzen und rann ihm über das hassverzerrte Gesicht. Er funkelte mich an.
»Es ist alles Ihre Schuld!«, schnarrte er. »Sie haben Ihren Mann auf den Pastor angesetzt! Sie haben das Werk des Teufels getan!«
»Du bist ein Teufel!«, fauchte Daisy ihn außer sich vor Wut an. »War es nicht schlimm genug, dass du rumgelaufen und die Mädchen in Todesangst versetzt hast? Du hast die arme Clarrie umgebracht! Was hat sie dir je getan?«
»Eine Hure!«, krächzte Pritchard. »Ein sündhaftes Frauenzimmer! Genau wie du, mit deinen gefärbten Haaren, deinem bemalten Gesicht und deinem unanständigen Kleid! Ich hätte dich längst suchen und töten sollen! Ihr seid alle gleich. Töchter der Sünde!«
»Was?«, rief Daisy. »Meine Haare sind nicht gefärbt und auch nicht mit einem halben Pfund Schmalz an den Kopf geklatscht!« Sie packte ihn bei den Ohren, riss seinen Kopf hoch und knallte ihn auf den Küchenboden, dass es krachte.
»Du gehst besser los und suchst einen Constable, Bessie!«, sagte ich hastig.