KAPITEL SECHS

 

Elizabeth Martin Ross

 

»Nun denn, Bessie«, sagte ich. »Wir müssen diskret sein, du und ich. Du weißt doch, was ›diskret‹ bedeutet?«

Wir saßen am Küchentisch. Zwischen uns stand ein dampfender brauner Teepott aus Keramik mit zwei dazu passenden Tassen. (Es war das Alltagsgeschirr, nicht das für Festtage.) Dazu zwei Teller mit Obstkuchen. Das Rezept war ein Spezielles von Mrs. Simms, der Köchin meiner Tante Parry. Sie hatte es Bessie großzügig überlassen, als diese von Tante Parry weggegangen war, mit der Auflage, es ihrerseits unter keinen Umständen weiterzugeben.

»Aber natürlich weiß ich das, Missus«, sagte Bessie erhaben. »Es bedeutet, dass wir niemandem sagen, was wir tun.« Sie musterte mich unter halb gesenkten Augenlidern. »Ganz besonders nicht dem Herrn Inspector nicht.«

»Ja, äh, ich meine, nein«, verbesserte ich mich hastig. »Ich werde entscheiden, was wir dem Inspector verraten und was nicht.«

»Und ich sage überhaupt nichts«, schloss Bessie vergnügt. »Soll ich uns jetzt ein Stück von diesem Kuchen abschneiden, Missus, oder wollen Sie das machen?«

»Ich mache das. Du hast einen sehr hübschen Kuchen gebacken, Bessie.« Vorsichtig schnitt ich zwei schmale Stücke und legte eines auf jeden Teller.

Bessie glättete ihre Schürze und lächelte. »Wie schön, dass wir auch einmal so eine Teegesellschaft machen.«

»Es ist ein Kriegsrat, keine Teegesellschaft, Bessie«, entgegnete ich. »Wir schmieden einen Plan, du und ich.«

»Was immer Sie sagen, Missus«, kam die undeutliche Antwort durch einen Mund voll Kuchen.

»Von jetzt an legen wir alles zusammen, was wir wissen. Beispielsweise wirst du mir jetzt alles erzählen, was du über diese Miss Marchwood weißt und alle anderen, die zu den Temperenztreffen gehen.«

Vielleicht war es nicht richtig von mir, sie zum Schwatzen zu ermutigen, doch wie Ben immer sagt, ein Detektiv muss Fragen stellen und darf nicht empfindlich sein, was die Regeln der Höflichkeit anbelangt, sonst erfährt er nie etwas. Trotzdem. Hier war ich nun und hatte Bessie soeben gesagt, dass wir diskret sein müssten, und kaum einen Atemzug später munterte ich sie zum genauen Gegenteil auf.

»Aber ich hab doch schon alles gesagt«, antwortete Bessie. »Miss Marchwood kommt mit dem Zug nach London und bringt immer Kekse mit. Ich weiß nichts über sie, außer, dass sie Gesellschafterin einer Dame ist – genau wie Sie, bevor Sie den Herrn Inspector geheiratet haben.«

»Und woher weißt du, dass sie eine Gesellschafterin ist?«, fragte ich. »Hat sie es dir verraten?«

Bessie schnaubte. »Nein, i wo! Sie redet nicht mit mir. Höchstens im Befehlston: ›Hol noch mehr Milch, Bessie!‹ Aber sie redet mit Mrs. Scott, verstehen Sie, und ich höre zu. Deswegen weiß ich auch, dass Mrs. Scotts Ehemann Soldat war und in Indien am Fieber gestorben ist. In einer Stadt mit einem komischen Namen. Lucky irgendwas.«

»Lucknow?«

Bessie nickte. »Kann sein. Ich fand es eigenartig und ein wenig traurig, dass der arme Mann in einer Stadt sterben musste, die so einen Namen hat.«

War Scott während der berühmten Belagerung von Lucknow im Zuge der großen Meuterei vor einem Jahrzehnt gestorben?, sinnierte ich. Falls ja, dann war Mrs. Scott schon in frühen Jahren zur Witwe geworden. War sie ebenfalls in der Stadt eingeschlossen gewesen, wie viele andere Soldatenfrauen? Die arme Frau. Ich war geneigt, über ihr Misstrauen gegen mich hinwegzusehen, wenn sie so viele Gefahren und Schwierigkeiten durchgestanden hatte.

»Nimmt Mrs. Scott Mr. Fawcett regelmäßig in ihrem Gespann mit, wenn sie die Treffen verlässt?«

»Ziemlich regelmäßig, ja«, sagte Bessie. »Ich hab die beiden schon ein paarmal zusammen wegfahren sehen, Missus. Ich glaube, Mr. Fawcett logiert nicht weit vom Haus von Mrs. Scott entfernt.«

»Wie steht es mit Miss Marchwood? Nimmt Mrs. Scott sie auch gelegentlich mit?«

Bessie schüttelte den Kopf. »Nicht, dass ich wüsste. Ich hab es jedenfalls noch nie gesehen. Mrs. Scott wohnt in Clapham.«

»Woher weißt du das?«

»Weil ich einmal zufällig gehört habe, wie sie mit Mr. Fawcett geredet hat«, antwortete Bessie gelassen. »›Ich hoffe doch, dass Sie bei meiner nächsten Swarree in Clapham erscheinen?‹, hat sie gesagt.«

»Swarree?«, fragte ich vorsichtig.

»Das ist eine Art Party«, erklärte Bessie.

»Ah, eine Soiree!«, rief ich.

»Hab ich doch gesagt. Swarree«, wiederholte Bessie ein wenig ungeduldig wegen meiner ständigen Einwürfe. »Und ich weiß auch, dass sie ein großes Haus hat, ein sehr vornehmes Haus. Mr. Pritchard hat es mir erzählt.«

»Mr. Pritchard war ebenfalls zu einer dieser Soireen eingeladen?«, fragte ich überrascht. Ich konnte mir Mr. Fawcett vorstellen, mit seinen taubengrauen Hosen und der Seidenkrawatte, wie er die Gäste auf einem solchen Fest verzückte, aber nicht den kleinen Mr. Pritchard mit seinen über den Schädel gekämmten und mit Schmalz angepappten dünnen Haaren.

»O nein!«, sagte Bessie laut lachend. »Nein, nein. Mr. Pritchard benutzt nur den Dienstboteneingang. Er wird nicht eingeladen. Er ist der Metzger von Mrs. Scott. Beliefert den Haushalt.« Bessie beugte sich vertraulich vor. »Er sagt, es sei wirklich ein sehr schönes Haus voller wunderschöner Dinge.«

»Ich würde doch denken, dass ein Metzger nicht weiter kommt als bis zur Küche?«, warf ich ein.

»Er hat durch die Fenster gespäht. Und eines Tages, als er gerade gehen wollte, sah er ein Fuhrwerk kommen und einen sehr schicken Gentleman aussteigen. Er hatte lange schwarz gelockte Haare bis zu den Schultern und sah aus wie ein Pirat, das sind die Worte von Mr. Pritchard. Er trug ein großes flaches Paket, eingewickelt in braunes Papier. Mr. Pritchard glaubt, es war ein Bild. Das Haus ist voll mit Bildern. Er hat sie durch die Fenster gesehen. Überall Bilder.«

Das würde Ben sicherlich interessieren.

»Das war doch schon sehr gut, Bessie«, lobte ich. »Komm, wir nehmen noch ein Stück Kuchen.«

Ben war in der Tat höchst interessiert. »Gütiger Himmel!«, sagte er, nachdem ich ihm von dem Bild erzählt hatte.

»Wir wissen natürlich nicht, ob Mrs. Scott das Bild in Benedicts Galerie erstanden hat. Aber angenommen, es wäre so? Könnte es Benedict persönlich gewesen sein, der es bei ihr abgeliefert hat? Als Kundenpflege quasi?«

Ben blickte zweifelnd drein. »Benedict sieht nicht aus wie ein Pirat, und er ist auch nicht ausgesprochen gut aussehend. Eher ein ganz nichtssagender Bursche, mittelgroß, mit schütter werdendem Haar, schlank gebaut. Angelis hingegen – auf den würde die Beschreibung passen. Er ist ein Stenz, ein Mann, der auffallen will. Und er hat mehr als nur einen Hauch von Barbarenkorsar an sich. Wenn du ihn beobachten würdest, wie er mit einem großen Paket aus einer Kutsche steigt, würdest du dich garantiert an ihn erinnern.«

Er kratzte sich am Kinn. »So, so … Eigentlich hatte ich Angelis schon von meiner Rechnung gestrichen. Vielleicht war es voreilig von mir. Wir dürfen keine vorschnellen Schlussfolgerungen ziehen. Wir wissen beispielsweise nicht, ob dieses mysteriöse Gemälde aus Benedicts Galerie stammt. Falls in besagtem Paket überhaupt ein Gemälde war – auch wenn die persönliche Lieferung durch Angelis beides durchaus nahelegt.«

»Aber das könntest du herausfinden«, sagte ich. »Angelis führt mit Sicherheit Aufzeichnungen über sämtliche Verkäufe, die die Galerie getätigt hat.«

»Sieht so aus, als müsste ich noch einmal mit ihm reden. Und mit Isabella Marchwood. Diese Frau hat mir vorsätzlich wichtige Informationen vorenthalten! Andererseits, selbst wenn Angelis mir die Verkaufsunterlagen zeigt und Mrs. Scott darin aufgeführt ist, was beweist es schon?« Ben trommelte ärgerlich mit den Fingern auf der Tischplatte. »Wir müssen vorsichtig sein, keine übereilten Schlüsse zu ziehen und Verbindungen zu sehen, wo es keine gibt. Ich brauche mehr als das, Lizzie, bevor ich damit zu Dunn gehen kann. Der Superintendent ist schon jetzt so nervös wie eine Katze, die nur noch eins von ihren neun Leben übrig hat. Gibt es vielleicht noch mehr?«

»Noch nicht«, gestand ich. »Ich erfahre vielleicht am Sonntag mehr, beim nächsten Treffen der Temperenzbewegung. Ich weiß, dass diese Treffen scheinbar eine Verbindung zwischen all diesen Leuten herstellen. Umso eigenartiger, weil sie so unterschiedlich sind und allem Anschein nach keine Gemeinsamkeiten haben.«

Ich begann Punkte an den Fingern abzuzählen. Mrs. Scott, die Witwe eines Soldaten, ist mit Miss Marchwood bekannt, einer Gesellschafterin. Sie kennt außerdem Mr. Pritchard, einen Metzger mit einer gehobenen Kundschaft, einschließlich ihr selbst. Er beliefert regelmäßig ihren Haushalt. Sowohl Marchwood als auch Pritchard helfen bei den Temperenztreffen mit, genau wie Mrs. Scott. Bedeutet das am Ende vielleicht, dass einer von ihnen die anderen dazu bewogen hat mitzumachen?

Miss Marchwood war die Gesellschafterin von Allegra Benedict. Mr. Benedict besitzt ein Geschäft und handelt mit Kunstwerken, und Mrs. Scott hat ein Haus voller Gemälde. Sie hat vor nicht allzu langer Zeit ein neues Bild erstanden, das von einem Mann geliefert wurde, der möglicherweise – ich weiß, es ist nur geraten! – der Geschäftsführer von Benedicts Galerie ist. Irgendjemand zumindest, der Angelis sehr ähnlich sieht. Aber falls es Angelis war, und falls Mrs. Scott ihre Gemälde in Benedicts Galerie an der Piccadilly kauft, dann ist es möglich, dass Mrs. Scott auch Sebastian Benedict kennt. Es ist sogar sehr wahrscheinlich. Vielleicht hat sie ihn in seiner Galerie kennengelernt. Du sagst, dass er dreimal in der Woche dort ist. Vielleicht wollte er persönlichen Kontakt zu einer guten Kundin herstellen. Allegra Benedict war manchmal mit ihm in der Galerie oder besuchte ihn, wenn sie wusste, dass er da war. Gut möglich, dass Mrs. Scott auch Allegra gekannt hat.« Ich verstummte, während mein Verstand am nächsten Glied in der Kette arbeitete.

»Du sagst, Angelis wäre sehr darauf bedacht gewesen zu betonen, dass Allegra immer von Miss Marchwood begleitet wurde, wenn sie zur Galerie kam. Also könnte Mrs. Scott auch sie dort kennengelernt haben. Vielleicht hat sie den beiden Frauen vorgeschlagen, zu einem Temperenztreffen zu kommen. Bessie ist ganz versessen darauf, die Botschaft der Abstinenz zu verbreiten – vielleicht geht es Mrs. Scott nicht anders?« Ich verstummte erneut. »Und?«, fragte ich schließlich. »Was sagst du bis hierher zu meiner Argumentation?«

»Plausibel«, antwortete Ben. »Wenngleich viel zu viele ›Vielleicht‹ darin vorkommen.«

»Es gibt auch einen Schwachpunkt«, räumte ich ein. »Nämlich den, dass Allegra Benedict die Einladung zu den Treffen offensichtlich nicht angenommen hat, lediglich ihre Gesellschafterin ist hingegangen. Bessie hat Allegra Benedict nie dort gesehen. Sie war definitiv nicht da.«

»Was lediglich bedeutet, dass Isabella Marchwood sich für die Bewegung interessierte und Allegra Benedict nicht. Vielleicht sind wir auf einem falschen Weg, wenn wir uns auf diese Treffen konzentrieren. Allegra Benedict war Italienerin und wuchs in einem Land auf, in dem jeder Wein trinkt, ohne sich etwas dabei zu denken«, warf Ben ein. »Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie Lust auf diese Treffen der Temperenzbewegung hatte.«

»Nein«, sagte ich und beugte mich aufgeregt vor, als mir eine Idee kam. »Aber sie würde vielleicht zu einer Soiree in einem vornehmen Haus in Clapham gehen.«

Ben sah mich an. »Wenn du das Gleiche denkst wie ich«, sagte er schließlich langsam, »dann gibt es vielleicht doch noch eine weitere Verbindung zwischen den beiden – zwischen Allegra und Mrs. Scott, meine ich. Beide müssen einsame Frauen gewesen sein – eine verwitwet, möglicherweise in jungen Jahren, und eine im Exil und fern ihrer Heimat, verheiratet mit einem viel älteren Mann, dessen einziges Interesse seinen Gemälden und seiner Galerie zu gelten scheint.«

Er zögerte. »Angelis hätte eine Rechtfertigung, warum er Mrs. Scott besucht hat. Vielleicht hat er sie beraten, was ihre nächsten Käufe in der Welt der Kunst angeht. Falls sie einsam genug war, hat sie ihn vielleicht sogar ermuntert, sie zu besuchen und ihn sogar zu ihren Soireen eingeladen. Er hat sicher einen herrlich verwegenen Eindruck auf die versammelten Gäste gemacht.

Andererseits war Allegra ebenfalls einsam. Ich habe keinen Zweifel an alledem. Wir wissen mit Bestimmtheit, dass Allegra und George Angelis einander gekannt haben. Sie sind sich regelmäßig in der Galerie begegnet. Ich weiß nicht, woher Angelis kommt, aber selbst wenn er in diesem Land geboren wurde, stammen seine Vorfahren nicht von hier, so viel ist klar. Vielleicht waren er und Allegra beide Fremde in einem fremden Land. Beide stammen aus Ländern voller Sonnenschein und Weinberge … und beide waren gestrandet im verregneten, nebligen England, wo der Dämon Trunkenheit gemieden wird. Ich denke, es wäre genug, um zwei Menschen Freundschaft schließen zu lassen», sagte Ben mit einem Lächeln. »Und sie könnte sich bei den Treffen im Haus von Mrs. Scott noch vertieft haben.«

»Es ist eine wunderbare Theorie, Ben«, entgegnete ich. »aber sie hat einen fatalen Fehler. Damit es so sein könnte, wie du sagst, müsste sich Allegra mit Mrs. Scott angefreundet haben.«

»Du selbst hast vorgeschlagen, dass es möglicherweise so ist«, sagte er. »Du hast gesagt, dass sie vielleicht diese Soireen der Scott draußen in Clapham besucht haben könnte.«

»Ich weiß, was ich gesagt habe. Aber ich bin nicht sicher, ob es so war. Gib mir Zeit. Bessie und ich arbeiten dran.«

Er sah mich ernst an. »Sei bloß vorsichtig, Lizzie! Vergiss nicht, irgendjemand da draußen in diesem Zirkel ist ein Mörder.«

Inspector Benjamin Ross

 

Selbstverständlich war alles äußerst interessant, was Lizzie mir berichtet hatte. Es machte mich, noch sicherer, dass Allegra Benedict an jenem nebligen Nachmittag nicht aus reinem Zufall in den Park gegangen war. Sie hatte sich mit jemandem dort verabredet und war so verzweifelt darauf bedacht gewesen, die Verabredung nicht zu versäumen, dass sie beschlossen hatte, trotz des Nebels den Weg zu der Eiche zu suchen. Das legte die Vermutung nahe, dass sie und die unbekannte Person sich schon früher bei diesem Baum getroffen hatten. Sowohl die Eiche als auch der Weg dorthin mussten ihr vertraut gewesen sein. So vertraut, dass sie trotz der schlechten Sicht zuversichtlich gewesen war, den Treffpunkt zu finden.

Es scheint, ich bin zu bekannt. Die Gentlemen von der Presse kannten mich jedenfalls alle, und ich musste am nächsten Morgen ein richtiges Spießrutenlaufen hinter mich bringen, bevor ich mein Büro erreicht hatte. Ein Mistkerl vertrat mir schon hundert Meter vorher den Weg. Er war groß, schlank, ein eifrig dreinblickender Bursche mit einer langen dünnen Nase, der mich an einen Windhund erinnerte.

Er sprang neben mir her und bombardierte mich mit Fragen. »Ach, kommen Sie schon, Inspector Ross! Wissen Sie, die Presse kann Ihnen ein ganzes Stück weit helfen. Bedenken Sie nur, wie viele Leser wir erreichen! Jeder will mehr über das Phantom aus der Themse erfahren. Stimmt es, dass es sich um einen bekannten Irren handelt, der aus einer geschlossenen Anstalt geflohen ist? Sie müssen irgendetwas haben, das Sie mir erzählen können! Ich sorge persönlich dafür, dass meine Zeitung Ihren Namen nennt!«

Das wäre ein gefundenes Fressen für Superintendent Dunn, dachte ich mürrisch.

»Kommen Sie voran mit Ihren Ermittlungen? Stehen Sie davor, jemanden zu verhaften?«

»Ja – Sie. Weil Sie mich bei meiner Arbeit behindern!«, schnauzte ich ihn an.

Er stieß ein hohes Kichern aus, und seine Augen glänzten bei dem Gedanken, welch eine gute Story das wäre – sollte ich tatsächlich so töricht sein, ihn zu verhaften. Er wusste, dass ich es nicht wagen würde.

»Meine Güte, Sie sind aber kurz angebunden, Inspector. Kommen Sie schon, irgendwas haben Sie doch ganz bestimmt … irgendwas«, bekniete er mich.

Ich marschierte weiter und ignorierte ihn, bis mir bewusst wurde, dass eine andere Stimme in meinem Ohr redete. Ich blickte zur Seite und sah, dass ein weiteres Mitglied der vierten Macht im Staat den Platz des ersten eingenommen hatte. Dieser war von mittlerer Statur und stämmig, mit einem geröteten Hängebackengesicht – eher eine Bulldogge als ein Windhund.

»Perkins, Inspector, vom Daily Telegraph. Sie kennen mich, Sir. Wir sind eine seriöse Zeitung, Inspector, wie Sie sehr wohl wissen. Wir sind kein Boulevardblatt. Unter unseren Lesern finden sich wichtige Persönlichkeiten und ehrbare Bürger aller Schichten. Geben Sie mir irgendeine Information, die ich veröffentlichen kann. Stimmt es, dass das Phantom ein Ausländer ist? Gerüchte behaupten, er wäre ein russischer Anarchist. Wie wäre es mit einem Exklusivinterview?«

Ich entkam mit einem erleichterten Seufzer in die Hallen des Scotland Yard.

»Ich muss noch einmal nach Egham«, sagte ich zu Dunn. »Ich muss mich noch einmal mit Miss Marchwood unterhalten. Sie muss mir die Wahrheit sagen. Was sie im Moment nicht tut, da bin ich absolut sicher.«

»Und Morris mitnehmen?«, entgegnete er. »Vergessen Sie nicht, dass es eine Obergrenze gibt für Ihre Auslagen … und Morris’ Spesensatz ist noch geringer.«

»Morris ist immer noch mit der Suche nach dem Butler beschäftigt, und ich brauche ihn diesmal nicht«, versicherte ich dem Superintendent. »Ich tue mein Bestes, um meinen Spesensatz nicht zu überschreiten.«

Es gelang mir, unbemerkt an den Reportern vorbei aus dem Gebäude zu schlüpfen und den Bahnhof in Waterloo zu erreichen. Ich fuhr bis nach Egham und marschierte zu Fuß den Berg hinauf zum Herrenhaus der Benedicts. Dunn hätte meine Tour auf Schusters Rappen sicherlich begrüßt. Tatsache war, dass der Einspänner, den Morris und ich beim letzten Mal benutzt hatten, bereits einen anderen Fahrgast gefunden hatte. Er rollte jedenfalls gerade um die Ecke, als ich aus dem Bahnhofsgebäude auf den Vorplatz trat. Ich fragte mich müßig, ob es der gleiche Einspänner war, den Angelis genommen hatte, als er zu Benedict gefahren war, um seinem Chef über das Verschwinden von Allegra zu berichten. Ich hätte den Kutscher Billy Cooper danach fragen können. Er hätte sich bestimmt an einen Mann wie Angelis erinnert und daran, dass er eine ganze Weile vor dem Haus gewartet hatte, um den Besucher anschließend wieder zum Bahnhof zu bringen. Sicherlich war er auch neugierig gewesen, was für eine wichtige Nachricht das sein konnte, die einen Mann von London nach Egham und am gleichen Abend wieder zurück nach London führte, zu später Stunde und bei denkbar schlechtem Wetter. (Abgesehen davon hätte die Befragung des Kutschers mir ermöglicht, auch die Fahrt in meine Spesenabrechnung aufzunehmen.)

Wie dem auch sei, am Tag meines zweiten Besuchs herrschte zum ersten Mal seit längerer Zeit wieder mildes Wetter. Es war überraschend warm, wie es hin und wieder um diese Jahreszeit der Fall ist. Die Bäume waren längst kahl, doch die Landschaft war noch nicht winterlich. Ich war halb den Berg hinauf, als mir ein Fußgänger entgegenkam. Er trug einen dunklen Gehrock und einen schwarzen Zylinder, der von einem schwarzen Seidenschal gehalten wurde. Die beiden Enden des Schals flatterten beim Gehen hinter ihm her. Es war Sebastian Benedict persönlich.

Er war keine fünf Meter mehr von mir entfernt, als er mich erkannte, und ich fragte mich, wie gut seine Augen ohne Brille waren.

»Inspector!«, rief er aus. »Haben Sie Neuigkeiten? Haben Sie den Schurken, der meine Frau ermordet hat?«

»Ich fürchte, nein, Sir«, entschuldigte ich mich. »Aber wir sehen unter jeden Stein.«

Er blickte unzufrieden drein. »Und was machen Sie dann schon wieder hier? Hier werden Sie den Kerl nicht finden. Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß. Sie verschwenden Ihre Zeit mit Ihrer Fahrt hierher, anstatt sich in London auf die Spur des Verbrechers zu setzen.«

»Ich hatte gehofft, noch einmal mit Miss Marchwood sprechen zu können, Sir«, sagte ich. »Sie wohnt doch noch in Ihrem Haus? Ich hoffe, sie ist noch nicht ausgezogen!«

»Nein, nein, sie wohnt noch bei uns«, sagte Benedict ungeduldig. »Auch wenn ich ihren Anblick nicht mehr ertrage. Ich habe ihr gesagt, dass sie auf ihrem Zimmer bleiben soll. Sie hat ihre Pflichten sträflich vernachlässigt. Ich gebe ihr noch eine oder zwei Wochen, um eine neue Anstellung zu finden, und dann muss sie gehen.«

»Inwiefern hat sie ihre Pflichten vernachlässigt, Sir?«

Er starrte mich an, und dann stieg eine rote Woge von seinem Hals bis unter die Haarspitzen. »Sind Sie so dumm, Inspector? Sie wurde eingestellt als Gesellschafterin von Allegra. Und doch war sie nicht … nicht dabei, als es geschah.«

»Verzeihen Sie, Sir, aber eine Gesellschafterin ist keine Gefängniswärterin und auch keine Leibwächterin«, warf ich ein.

»Sie sind impertinent, Inspector.« Seine Gesichtsfarbe wechselte von Rot zu Weiß. »Ich werde mich bei Ihren Vorgesetzten am Scotland Yard über Ihr Verhalten beschweren! Ich lasse mich doch nicht von jemandem beleidigen, der im Dienst der Öffentlichkeit steht! Zu Ihrer Information – ich habe meine Frau nicht wie eine Gefangene gehalten. Sie kam und ging, wie es ihr beliebte. Doch sie war jung, und als sie in dieses Land kam, war alles neu und fremd für sie. Ich habe Miss Marchwood eingestellt, um auf Allegra aufzupassen. Sehr gut aufzupassen! Ich habe erwartet, dass sie dies auch tut, und doch hat sie versagt. Ich hätte jedes Recht, diese Person auf der Stelle aus meinem Haus zu werfen! Ich gebe ihr nur deswegen noch eine Gnadenfrist, weil Allegra sie mochte. Verdient hat sie es nicht!«

Er hob die Hand und tippte mit dem Gehstock an die Hutkrempe. »Einen guten Tag noch, Inspector.«

Hm, dachte ich. Das hätte besser laufen können. Doch letzten Endes blieb mir gar nichts anderes übrig, als einigen Personen in dieser Angelegenheit auf die Füße zu treten. Jeder hatte sich eine Geschichte zurechtgelegt, die er mir erzählte. Als Allegra Benedict starb, waren sie alle woanders gewesen. Benedict zu Hause, Miss Marchwood in der Galerie, Angelis ebenfalls in der Galerie oder draußen im Nebel auf der Suche nach der verschwundenen Frau. Ebenso Gray, der Assistent. Der Ordner von der Burlington Arcade konnte sich nicht an die Frauen erinnern. Der Juwelier Tedeschi hingegen hatte Morris bestätigt, dass die beiden bei ihm gewesen waren. Auch mit ihm würde ich mich noch einmal unterhalten müssen. Doch er war zum Zeitpunkt des Mordes in seinem Geschäft gewesen. Nur eine einzige Person hatte frei und offen mit mir geredet und mir wichtige Informationen geliefert, und das war der Junge gewesen, Charlie Tubbs, der Straßenfeger.

Das gleiche Zimmermädchen wie zuvor, immer noch mit verheultem Gesicht, öffnete mir die Tür und informierte mich, dass Miss Marchwood oben auf ihrem Zimmer war.

»Sie wird nicht nach unten kommen, Sir. Ich weiß das. Ganz bestimmt nicht. Es ist schlimm hier unten. Alle sind so außer sich … Mr. Benedict … Sie können sicher verstehen, wie er sich fühlt. Der arme gnädige Herr.« Sie senkte die Stimme und beugte sich vertraulich vor. »Miss Marchwood will ihm nicht begegnen, Sir, weil ihr bloßer Anblick ihn wütend zu machen scheint.«

»Mr. Benedict hat das Haus verlassen«, sagte ich. »Ich bin ihm auf halbem Weg den Berg hinunter begegnet. Ich bin sicher, dass er keine Einwände erhebt, wenn ich während seiner Abwesenheit im Salon mit Miss Marchwood spreche.«

Das Stubenmädchen, dessen Name Parker war, wie mir ein wenig verspätet einfiel, blickte mich für einen Moment unsicher schwankend an, doch weil ich entschieden stehen blieb, wo ich war, nämlich auf der Schwelle, gab sie schließlich nach.

»Besser, Sie kommen rein, Sir. Ich gehe nach oben und frage die Lady, ob sie nach unten kommen kann und sich mit Ihnen unterhalten möchte. Sie ist sehr erschüttert, wissen Sie? Wir alle sind sehr erschüttert.«

Mit diesen Worten und einem Schluchzen führte sie mich in den Salon mit dem Flügel, in dem ich mich schon einmal aufgehalten hatte. Während ich dort auf das Erscheinen von Isabella Marchwood wartete, untersuchte ich einmal mehr und zum Zeitvertreib die Fotografie von Allegra Benedict. Sie sah atemberaubend jung und schön und unschuldig aus – und vielleicht auch ein klein wenig unberechenbar. Was mochte vorgegangen sein hinter diesen Augen, die so offen in die Kamera blickten, mit diesen zu einem leichten Lächeln verzogenen Lippen, das möglicherweise dem Fotografen gegolten hatte? Jeder hatte sie geliebt, wie es schien. Doch was hatte sie, noch ein halbes Kind, eigentlich vom Leben erwartet? Eine leidenschaftliche Romanze? Sebastian Benedict war jedenfalls keiner jener strahlenden Helden aus den einschlägigen Geschichten gewesen. Die Reise nach England jedoch musste einem jungen Menschen wie ihr als ein höchst aufregendes Abenteuer erschienen sein. Was hatte sie von ihrem neuen Leben dort erwartet? Mit ziemlicher Sicherheit eine Menge mehr als das, was sie schließlich vorgefunden hatte …

Ich seufzte mitfühlend mit dem jungen Mädchen in dem silbernen Rahmen, dann wandte ich mich der rubinroten Vase zu. Italienische Glaskunst möglicherweise. Die rote Rose, die bei meinem letzten Besuch in ihr gesteckt hatte, war einer rosafarbenen gewichen. Es war keine Jahreszeit für Rosen. Die Blumen waren unter Glas gewachsen und sicherlich nicht billig gewesen.

Ein leises Klicken hinter mir veranlasste mich, den Kopf zu drehen, und ich sah, dass Isabella Marchwood in den Raum gekommen war. Sie stand neben der Tür und beobachtete mich nervös. Wie am vorhergehenden Tag war sie auch heute ganz in Schwarz gekleidet und hatte einen Spitzenschleier übergeworfen. Sie war schon bei unserer ersten Begegnung eine sehr nichtssagende Person gewesen. Heute hingegen sah sie ausgesprochen krank aus, weiß im Gesicht, ausgezehrt, verhärmt und mit einem nervösen Zucken um die Mundwinkel. Ich fragte mich, wie dicht sie vor dem völligen Zusammenbruch stehen mochte.

»Ihr Arbeitgeber wird uns nicht stören«, sagte ich beruhigend. »Er hat das Haus verlassen. Ich habe ihn selbst gesehen – ich bin ihm auf dem Weg hierher begegnet. Er war unterwegs in Richtung Egham. Bitte setzen Sie sich doch.«

Sie trat zögernd näher und setzte sich nicht weit von der Tür entfernt – damit sie, wie ich mutmaßte, bei der unverhofften Rückkehr ihres Herrn nach draußen und auf ihr Zimmer stürzen konnte … oder falls ich ihr zu viel Angst einjagte.

»Ich fürchte, ich muss Sie noch einmal belästigen«, begann ich.

»Haben Sie ihn gefunden?«, fragte sie eifrig und beugte sich aufgeregt mit gegen den flachen Busen gepressten, übereinandergelegten Händen vor.

»Noch nicht«, musste ich einräumen, während ich mich fragte, ob ich mir erneut die Beschuldigungen anhören musste, die mir schon Benedict an den Kopf geworfen hatte.

Doch sie seufzte nur und schüttelte den Kopf. Mit abgewandtem Blick und kaum hörbar leiser Stimme fragte sie: »Halten Sie es für wahrscheinlich, dass Sie ihn finden, oder eher nicht?«

»Es ist mein Beruf, ihn zu finden, Miss Marchwood. Ich werde mein Bestes geben. Vielleicht könnten wir noch einmal über die Ereignisse des vergangenen Samstags reden, auch wenn es Ihnen schwerfällt und frische Wunden aufreißt?«

Sie protestierte nicht, doch sie begann ihre Geschichte zu rezitieren. Ihre Stimme klang monoton und dunkel. Ich verwende absichtlich das Wort »rezitieren«, denn sie benutzte beinahe die gleichen Worte wie schon zuvor, was meinen Verdacht nur noch erhärtete, dass sie sich ihre Aussage längst zurechtgelegt hatte, speziell für meinen ersten Besuch. Wenn eine Person Angst hat, auch nur einen Satz von einer Erzählung abzuweichen, dann bedeutet es in der Regel, dass sie Angst hat, etwas durchsickern zu lassen, das sie lieber verstecken möchte, oder dass sie Angst hat, sich zu widersprechen oder sich sonst auf irgendeine Weise als inkonsistent zu erweisen. Ich habe diese Erfahrung bereits bei vielen Zeugen gemacht. Nicht das, was sie einem erzählen, ist die wichtige Information. Sondern das, was sie einem nicht erzählen.

»Es gab keinen anderen Grund, an jenem Samstagnachmittag nach London zu reisen – abgesehen von dem Wunsch, eine Brosche zum Juwelier zu bringen?«, fragte ich, als sie geendet hatte.

»Aber wir haben die Brosche zum Juwelier gebracht!«, sagte sie sofort, erschrocken und halsstarrig zugleich.

»Allerdings, das haben Sie. Ein Constable hat mit dem Juwelier gesprochen, Mr. Tedeschi.«

Bei diesen Worten blickte sie auf. »Was hat er gesagt?«, sprudelte sie hervor.

»Dass Mrs. Benedict und Sie bei ihm gewesen wären und eine Brosche dagelassen hätten.«

»Sehen Sie!«, sagte sie schnell. »Genau das haben wir. Ich habe es Ihnen doch gesagt. Warum fragen Sie erneut danach?«

»Weil ich, Miss Marchwood, ein kleines Problem habe. Es ist folgendermaßen: Sie haben das Juweliergeschäft gegen vier Uhr dreißig verlassen, aber Sie sind erst kurz nach fünf Uhr dreißig in der Galerie erschienen. Mr. Angelis ist sich sicher, was den Zeitpunkt betrifft. Dazwischen liegt eine ganze Stunde. Was haben Sie beide in dieser Zeit gemacht? Oder, genauer gefragt – was hat Mrs. Benedict in dieser Zeit gemacht?«

»Ich weiß es doch nicht!«, heulte sie los. »Ich weiß nicht, um welche Zeit genau wir den Laden von Tedeschi verlassen haben! Wir wurden im Nebel getrennt. Ich bin die Straße auf und ab gelaufen und habe nach ihr gesucht. Ich habe keine Ahnung, wie lange ich gebraucht habe.« Sie zupfte an ihrem Ärmel und brachte ein kleines, spitzenbesetztes Taschentüchlein zum Vorschein. »Woher soll ich wissen, wo die arme Allegra war? Ich hatte sie verloren … für immer, wie sich herausgestellt hat. Vielleicht hat sie schon tot auf der kalten Erde gelegen … oh, es ist mehr, als ich ertragen kann!«

Ich empfand Mitleid mit der armen kleinen Frau, doch ich musste meine Fragen stellen.

»Dann lassen Sie mich ganz offen fragen – gab es einen weiteren Grund für Ihre Reise nach London an jenem Nachmittag? Eine andere Besorgung vielleicht? Oder wollte eine von Ihnen beiden sich mit einer dritten Person treffen?«

»Nein, nein!«, heulte sie zu Tode erschrocken auf. »Es ist so, wie ich es gesagt habe! Sie glauben mir nicht, aber es ist wahr, ich schwöre es! Ich habe Allegra im Nebel verloren! Mr. Benedict gibt mir die Schuld, natürlich tut er das. Nachdem Sie gestern hier waren, bekam er einen furchtbaren Wutanfall. Er hat ein paar entsetzliche Dinge gesagt, aber nichts kann schlimmer sein als das, was ich selbst zu mir sage. Ich gebe mir die Schuld! Seit Ihrem Besuch will er mich nicht mehr sehen. Ich muss in meinem Zimmer bleiben und meine Mahlzeiten allein einnehmen. Wenn ich nach draußen in den Garten gehe, muss ich mich außer Sicht der Fenster seines Arbeitszimmers halten. Und wenn ich ihn kommen sehe, habe ich mich zu entfernen und woanders hinzugehen. Ich habe alle Ladys in meiner Bekanntschaft angeschrieben und angefragt, ob sie eine Möglichkeit wissen. Ich will hier fort. Ich will nicht länger bleiben! Er hasst mich! Ich hasse mich selbst. Es ist alles meine Schuld, ganz allein meine Schuld!«

Tränen kullerten über ihre Wangen, während sie dies sagte. Als sie fertig war, schluchzte sie unkontrolliert und wirkte völlig aufgelöst – genau so, wie sie nach den Worten von Angelis in der Galerie aufgetaucht war, um Allegras Verschwinden zu melden. Das winzige Taschentüchlein war völlig unzulänglich, um ihren Tränenfluss aufzufangen.

Eine schluchzende Zeugin ist außerstande, eine zusammenhängende Aussage zu machen. Ich versuchte sie zu beruhigen. »Hören Sie, es ist nicht Ihre Schuld, dass ein Mörder unterwegs war. Aber ich muss wissen, wieso Mrs. Benedict im Green Park herumgelaufen ist. Wenn sie die Piccadilly auf und ab geirrt wäre, ja – das könnte ich verstehen. Aber dass sie bei derart schlechtem Wetter in den Park gegangen sein soll, obwohl Sie beide nach Ihren Worten nur bis zur Galerie wollten …«

Draußen vor der Tür erklang ein Rascheln, und das Stubenmädchen Parker öffnete.

»Verzeihung, Miss Marchwood und Inspector Ross, aber der gnädige Herr kommt die Auffahrt hoch. Er unterhält sich gerade auf ein Wort mit dem Gärtner, doch er wird jeden Moment hier sein.«

Isabella Marchwood sprang auf. »Er darf mich nicht sehen! Er wird mich auf der Stelle hinauswerfen! Ich weiß nicht, wo ich hinkann. Bitte, Inspector, Sie müssen sofort gehen! Ich kann nicht länger mit Ihnen reden!«

Mit diesen Worten stürzte sie aus dem Salon, und ich konnte hören, wie sie die Treppe hinaufrannte.

Ich nahm meinen Hut und durchquerte die Eingangshalle zur Haustür. Als ich öffnete, stand Benedict vor mir.

»Ich hoffe sehr, dass dieser Besuch Ihre Zeit wert gewesen ist, Inspector«, sagte er. »Das nächste Mal, wenn Sie kommen, erwarte ich, dass Sie Fortschritte zu vermelden haben.«

Er stapfte an mir vorbei ins Haus. Die Tür wurde geschlossen, und ich stand allein auf der Schwelle.

»Verdammt, verdammt, verdammt …«, murmelte ich vor mich hin, als ich mich vom Haus entfernte. Noch zehn Minuten, und ich hätte etwas wirklich Nützliches von dieser Frau erfahren. Sie hatte Angst vor ihm, so viel war klar. Wenn sie Allegra dabei geholfen hatte, etwas zu tun, das Benedict nicht gutgeheißen hätte, dann war sie zweifellos fest entschlossen, ihn das nicht herausfinden zu lassen. Selbst wenn das bedeutete, die Aufklärung des Mordes an ihrer früheren Herrin zu behindern.

Den ganzen Weg bis zum Bahnhof und weiter im Zug zurück nach London drehte und wendete ich jedes Wort, das Isabella Marchwood gesagt hatte. Bei unserer ersten Unterhaltung am Tag zuvor war sie sehr viel beherrschter erschienen. Diesmal hatte sie kurz vor dem Zusammenbruch gestanden. In diesem verzweifelten Zustand hatte sie ganz bestimmt irgendetwas Unbedachtes gesagt, und wenn es nur ein einziges Wort war …

Außerdem musste ich Benedicts Verhalten ihr gegenüber mit in Betracht ziehen. Bei meinem ersten Besuch war Miss Marchwood noch persönlich nach oben in sein Arbeitszimmer gegangen, um ihn über meinen Besuch zu informieren und nach unten zu begleiten. Sie schien den Haushalt im Griff gehabt zu haben.

All das hatte sich in der Zwischenzeit dramatisch verändert. Benedict hatte, wie ich soeben von ihr erfahren hatte, einen Wutanfall erlitten und ihr befohlen, ihm aus den Augen zu gehen. Warum die plötzliche Verhaltensänderung ihr gegenüber? Ich konnte nicht anders, als anzunehmen, dass es mit meinem Besuch zusammenhing. Was hatte ich gesagt? Oder lag es nur daran, dass seine anfängliche Wut von Sorge und Schock gedämpft worden war? Hatte er aufgrund meines Besuchs und meiner Fragen realisiert, dass der Tod seiner Frau nun Gegenstand einer polizeilichen Ermittlung war mit sämtlichen sich daraus ergebenden Konsequenzen? Dass man ihn nicht mehr für sich allein trauern lassen würde? Dass durch unsere Ermittlungen Öffentlichkeit entstand, dass seine Beziehung zu seiner Frau mit einem Mikroskop untersucht werden würde und dass nicht nur wir, sondern auch die Presse in seine Privatsphäre eindringen würden? Was wiederum sein Geschäft beeinträchtigen konnte. Er brauchte jemanden, dem er die Schuld an alledem geben konnte. Er vermochte sie nicht bei sich selbst zu suchen – ich nahm an, das lag nicht in seiner Natur. Also hatte er sich gegen Isabella Marchwood gewandt. Sie war angestellt worden, um Allegra vor jeglicher Unbill zu schützen, und sie hatte versagt, so einfach war das für Benedict. Dass ein Mörder im Nebel sein Unwesen getrieben hatte, entschuldigte ihren Fehler nicht.

Oder hatte ich – trotz meiner Vorsicht – den Verdacht in ihm erweckt, dass diese traurige Angelegenheit vielleicht gar kein unglücklicher Zufall gewesen war? Dass seine Frau sich nicht im Nebel verlaufen hatte und zufällig einem mörderischen Irren in die Finger gelaufen war, wie es manchmal eben passiert? Dass die Anwesenheit seiner Frau im Park nicht darin begründet lag, dass sie wegen der schlechten Sicht eine falsche Abzweigung genommen hatte? Sondern dass man ihn getäuscht und dass Isabella Marchwood mit Allegra unter einer Decke gesteckt hatte? Es würde seine Wut erklären.

Ich überlegte, dass Isabella von Anfang an einen verängstigten Eindruck gemacht hatte. Geschockt, von Trauer übermannt, erschüttert, all diese Dinge … und all diese Dinge gepaart mit Angst. Sie hatte guten Grund, Benedict zu fürchten – und mich ebenfalls, sollte sie tatsächlich etwas verbergen. Meine Fragen am heutigen Nachmittag hatten ihre Angst unübersehbar geschürt. Doch wovor sonst fürchtete sie sich? Oder vor wem? Was hatte ich übersehen?

»Die Brosche!«, rief ich aus. Meine Mitreisenden erschraken so sehr, dass sie mich mit fassungslosen Blicken anstarrten.

»Bitte verzeihen Sie«, murmelte ich, und sie wandten sich wieder ihren Zeitungen oder Büchern zu oder der Betrachtung der vorbeifliegenden Landschaft draußen vor dem Fenster, während sie mich gleichzeitig misstrauisch im Auge behielten.

Isabella Marchwood hatte alarmiert reagiert, als sie erfahren hatte, dass wir bei Tedeschi gewesen waren und überprüft hatten, ob die beiden Frauen wirklich in seinem Laden gewesen waren. Sie hatte nicht befürchtet, der Juwelier könnte ihrer Geschichte widersprechen, denn er hatte sie bereits bestätigt. Die Frauen waren dort gewesen. Warum also dieses Erschrecken, diese Angst? Was hat er gesagt?, war ihre Frage an mich gewesen. Was hatte Tedeschi der Polizei tatsächlich gesagt? Was konnte er möglicherweise gesagt haben, das ihrer Geschichte auf irgendeine Weise widersprochen hätte?

Es gab nur einen Weg, das herauszufinden. Ich musste so schnell wie irgend möglich zu diesem Juwelier. Ich begab mich zur Burlington Arcade, sobald der Zug in London angekommen war, doch Tedeschi hatte den Laden bereits verlassen und Feierabend gemacht. Er würde erst am nächsten Morgen gegen elf Uhr wiederkommen, informierte mich eine Verkäuferin, und ich hinterließ eine Nachricht, dass ich vorbeikommen würde, um ihn zu sprechen.

Ich verließ die Burlington Arcade und trat auf die Piccadilly hinaus. Ein Blick auf meine Uhr verriet mir, dass es bereits Viertel vor fünf war und rasch dunkel wurde. Trotzdem. Angelis war sicherlich noch in der Galerie. Ich wandte mich in diese Richtung.