KAPITEL DREIZEHN
Inspector Benjamin Ross
Clarrie Brady lag in Wapping, in der Halle, die für Wasserleichen reserviert war. Morris und ich standen neben dem Tisch, zusammen mit Daisy Smith, die hergebracht worden war, um ihre Freundin zu identifizieren. Ein Sergeant der Flusspolizei war zugegen und beobachtete uns leidenschaftslos. Er hatte zu oft mit angesehen, wie Mädchen wie Clarrie aus der wässrigen Umarmung der Themse gezogen worden waren.
»Das … das ist sie«, schniefte Daisy. »Das ist die arme Clarrie. Wer hat ihr das angetan, Mr. Ross? Das Phantom?«
Womit sie die Schnur meinte, die um den Hals des toten Mädchens geschlungen war. Es war schwer zu sagen, ob sie zu Lebzeiten hübsch gewesen war. Das Wasser hatte die Spuren von Todeskampf und Strangulation nicht abgemildert, im Gegenteil. Die Narbe, die Jed Sparrow ihr zugefügt hatte, leuchtete förmlich in ihrem aufgedunsenen Gesicht, genau wie das Muttermal auf ihrer Stirn. Sie hatte tiefschwarzes Haar, das meiner Einschätzung nach nicht gefärbt war, im Gegensatz zu Daisys roten Locken. Ansonsten war sie winzig, klein wie eine Puppe, die ein unbekümmertes Kind weggeworfen hatte.
»Danke sehr, Daisy«, sagte ich. »Danke, dass Sie hergekommen sind und die Identität der Toten bestätigt haben. Ich verstehe, wie traurig dieser Anlass für Sie ist. Ich wünschte, ich könnte sagen, wer sie getötet hat, doch die Wahrheit ist – ich weiß es nicht. Ich habe nicht vergessen, was Sie mir über das Phantom aus der Themse erzählt haben. Ich suche weiter nach ihm, aber ich denke, dass ich vielleicht auch nach anderen möglichen Tätern Ausschau halten sollte.«
Es war ein kalter Tag. Der Winter nahte in Riesenschritten, und hier in diesem dunklen, grimmigen Raum, kaum einen Steinwurf vom Wasser entfernt, hing eine ungesunde Klammheit in der Luft. Daisy hatte sich einen blauen Wollschal über das dünne Kleidchen geworfen, der in grellem Kontrast mit ihren roten Haaren stand. Sie zitterte, seit wir eingetreten waren. Vermutlich wegen der Kälte und aus Angst. Sie zog den Schal fester um die dünnen Schultern und blickte mich aus tränenverschleierten Augen an.
»Was passiert jetzt mit ihr, Mr. Ross?«, fragte sie.
»Passiert?« Die Frage kam völlig überraschend. Doch Clarrie und Daisy waren Freundinnen gewesen, und es war nur natürlich, dass Daisy wissen wollte, wie es mit der Beerdigung stand. »Nun ja, es wird zunächst eine Anhörung …«, begann ich, bevor sie mich unterbrach.
»Nein, nein, das meinte ich nicht. Wird sie der Medizin übergeben?«
Die Frage war mir noch gar nicht in den Sinn gekommen. Daisys Frage war nicht vom Wunsch nach einer Beerdigung beseelt gewesen, sondern von der Angst, es könnte keine geben, oder zumindest keine im herkömmlichen Sinn. »Ich weiß es nicht …«, stammelte ich verlegen. »Ich glaube allerdings nicht …«
Sie packte mich am Ärmel und starrte aus zusammengekniffenen Augen zu mir hoch. Die Federn auf ihrem Hut wackelten, und sie sah aus wie ein zerzaustes Hähnchen. »Sie dürfen nicht zulassen, dass sie zu den Medizinern kommt, Mr. Ross! Das machen sie immer mit den Leichen von unsereinem, von den Armen und denen, die keine Angehörigen haben.«
»Hat Clarrie keine Angehörigen? Niemanden, der ihre Leiche haben will? Was ist mit ihrer Mutter?«
»Ach, schon lange tot«, sagte Daisy wegwerfend. »Clarrie ist im Arbeitshaus aufgewachsen, genau wie ich. Wir sind zusammen ausgebüxt. Sie haben uns nicht wieder erwischt. Na ja, ich schätze, sie haben sich nicht sonderlich angestrengt bei der Suche. Es gibt mehr als genug andere im Arbeitshaus. Clarrie und ich landeten auf der Straße und verdienten unseren Lebensunterhalt auf die einzige Weise, die wir konnten. Zuerst teilten wir unser Geld, sodass wir immer zu essen hatten, egal, was passierte. Dann bekam Jed Sparrow sie in die Finger. Er hätte mich auch nur zu gerne gehabt, aber ich konnte mich von ihm fernhalten. Ich schätze, Sie billigen das alles nicht, Mr. Ross, genauso wenig wie Ihre Frau. Aber sehen Sie, auf diese Weise musste ich nicht wieder zurück ins Arbeitshaus. Wie dem auch sei, Clarries Mutter war nie verheiratet, bestimmt nicht. Mädchen wie wir heiraten nicht. Wenn im Arbeitshaus überhaupt jemand je gewusst hat, wie sie heißt, dann haben sie es bestimmt längst wieder vergessen. Unterlagen gibt es sowieso keine. Und wenn es keine richtigen Verwandten sind, die Anspruch erheben, kriegt man die Leiche eh nicht.«
»Vielleicht könnte Sparrow Anspruch erheben?«, schlug ich vor, obwohl ich wusste, wie dumm die Idee war.
»Bestimmt nicht! Sie ist ihm egal, und er ist auch nicht mit ihr verheiratet«, schnappte Daisy. »Er war nicht ihr Ehemann, und er zahlt bestimmt nicht für irgendeine Beerdigung.« Ihr Griff um meinen Arm wurde fester, und Verzweiflung stand in ihrem Gesicht. »Oh, Mr. Ross, wenn sie sie aufschneiden, steht sie am Jüngsten Tag nicht wieder von den Toten auf!«
»Am Jüngsten Tag, Daisy?«, fragte ich völlig verblüfft. »Wieso um alles in der Welt denn das?«
»Wie kann sie wiederauferstehen, wenn sie von den Ärztestudenten in Stücke geschnitten wurde?«, entgegnete sie unbändig. »Ihre Einzelteile sind überall verteilt! Es steht in der Bibel. Ich hab es nie selbst gelesen, aber ich hab’s mir erzählen lassen. Ein Engel bläst eine Trompete, und alle Toten werden sich erheben und rumtanzen. Aber wie soll man rumtanzen, wenn der Kopf an einem Ort ist und die Beine an einem anderen und die Innereien in irgendwelchen Gläsern und wenn irgendjemand die Arme verloren hat? So wird es sein für die arme Clarrie, wenn die Ärztestudenten sie in die Finger kriegen, ganz gleich, wie feste der Engel in seine Trompete bläst!«
Sie war so verzweifelt angesichts dieses Gedankens, dass ich mich bemühte, sie zu trösten. »Ich bezweifle stark, dass der Leichnam in einem Zustand ist, der die ›Ärztestudenten‹ oder die anatomischen Abteilungen der Universitäten interessieren würde. Sie war zu lange im Wasser.«
Daisys Griff um meinen Arm lockerte sich. »Ich hoffe es, Mr. Ross«, sagte sie traurig. »Können Sie nicht mit dem Coroner reden, Sir? Ihn darum bitten, dass sie nicht in Stücke geschnitten wird?«
»Das mache ich«, versprach ich ihr. »Allerdings glaube ich wirklich nicht, dass es so weit kommen wird, wie ich bereits sagte. Die Leichen für die Anatomie müssen normalerweise frisch sein.«
Daisy schniefte ein letztes Mal und rieb sich heftig mit dem Handrücken über die Nase. »Ich gehe dann jetzt«, murmelte sie. »Danke, dass Sie sie gefunden haben, Mr. Ross. Sie haben gesagt, Sie würden sie finden, und das haben Sie getan.« Mit diesen Worten wandte sie sich ab und rannte aus dem Raum.
»Ich wünschte nur, ich hätte sie lebendig gefunden!«, sagte ich leise zu mir selbst. Ich hob den Kopf und sah Morris an. »Was war das für ein Gerede vorhin über den Jüngsten Tag? Was halten Sie davon?«
Bevor Morris etwas sagen konnte, meldete sich der Flusspolizist zu Wort, der bis zu diesem Moment geschwiegen hatte. »Die Armen sind sehr abergläubisch, Inspector«, sagte er. »Es ist nicht das erste Mal, dass ich mitkriege, wie viel Kummer es auslöst, wenn der Leichnam einer Person ohne Angehörige zu einer Universität gebracht wird. Die Armen fürchten, dass der oder die Tote keine Wiederauferstehung erfährt, genau wie es das Mädchen eben gesagt hat. Sie glauben, der Leichnam sollte an einem Stück gelassen werden, verstehen Sie? Es ist zwecklos, mit ihnen zu diskutieren – es sitzt einfach fest in ihren Köpfen. Aber Sie haben wahrscheinlich recht, Sir – ich glaube nicht, dass die Universität die Leiche haben will.«
Morris, der in wortlosem Mitgefühl auf die Leiche gestarrt hatte, hob den Kopf und blickte mich an. »Glauben Sie, dass es das Werk des Phantoms ist, Sir?«
»Möglich wäre es.« Ich wandte mich an den Sergeant von der Flusspolizei. »Können wir die Schnur um ihren Hals durchschneiden?«
Der Beamte trat vor und zerschnitt die Schnur. Sie löste sich, und im Nacken kam ein doppelter Knoten zum Vorschein.
»Ich nehme sie an mich«, sagte ich zu dem Beamten. »Die Schnur ist von der gleichen Sorte, mit der Allegra Benedict im Green Park erdrosselt wurde.«
Morris strich sich mit dem Zeigefinger über den Schnurrbart. »Glauben Sie, er hat das Mädchen zuerst umgebracht?«, fragte er. »Vor Mrs. Benedict?«
»Ganz genau«, sagte ich. »Daisy Smith hat erzählt, dass Clarrie seit dem Tag vor dem Mord an Mrs. Benedict nicht mehr gesehen wurde. Wenn der gleiche Mann beide Frauen umgebracht hat, dann hat er Clarrie möglicherweise bereits irgendwann freitags getötet. Vielleicht jedoch auch erst am nächsten Tag, dem Samstag, an dem auch der Mord im Green Park verübt wurde. Unser Killer wurde blutrünstig, und nachdem er Clarrie ermordet hatte, nahm er sich gleich als Nächstes Allegra vor. So könnte man es jedenfalls darlegen«, schloss ich.
»Aber warum sollte er die arme kleine Straßendirne umbringen?«, fragte Morris mit einem Nicken zu der Leiche. »Insbesondere, wenn es das Phantom ist? Es hat sich bis jetzt stets damit zufriedengegeben, die Mädchen zu erschrecken, indem es ihnen die Hände um den Hals gelegt hat. Warum sollte es jetzt hingehen und morden? Weil dieses Mädchen ihn gesehen hat? Selbst da hatte er seine Verkleidung an. Außerdem würde ihre Aussage vor Gericht nicht besonders schwerwiegend gewesen sein.«
»Übung«, sagte ich gepresst. »Wie Mr. Dunn bereits sagte, das erste Mal zu töten ist schwierig, danach wird es immer leichter. Der Mörder hatte die Absicht, Allegra Benedict zu töten, doch er wollte sicher sein, dass die Methode, die er benutzte, erstens einfach war und zweitens sicher. Also probierte er sie an diesem armen Ding hier aus, und als das keine Probleme bereitete, warf er die Leiche ins Wasser und machte sich daran, Allegra zu töten. Es war nicht so, wie wir zuerst dachten, dass er zufällig im Nebel auf sie stieß und sie für eine Prostituierte hielt, oh, nein. Es war eine zielgerichtete Tat, und es gibt einen Grund dafür. Er ist ein kaltblütiges Monster, Morris, ohne jegliche Spur von normalem menschlichem Mitgefühl.«
»Oder ein Verrückter«, sagte der Beamte von der Flusspolizei düster.
»Nicht verrückt genug, als dass er nicht wüsste, was er tut«, entgegnete ich. »Der Mord an Allegra Benedict war sehr sorgfältig geplant. Und jetzt verfügt er über eine effektive Methode, die er bereits dreimal benutzt hat, mindestens, wenn wir Miss Marchwood mitzählen. Er wird nicht zögern, erneut von ihr Gebrauch zu machen. Keine Frau ist vor ihm sicher!«
Noch am gleichen Abend wurde Joshua Fawcett in seiner Wohnung in Clapham ausfindig gemacht und zum Scotland Yard gebracht, wo er die Nacht vor seinem Verhör in einer Zelle schlafen musste. Dunn war der Ansicht, dass unserem Verdächtigen auf diese Weise der Ernst seiner Lage deutlich wurde. Ich sagte Lizzie nichts von alledem, als ich nach Hause kam. Wenn wir Fawcett festhielten, würde sich die Neuigkeit schnell genug herumsprechen, doch ich nahm nicht an, dass sie schon an diesem Abend bis in mein Haus vordrang. Es war früh genug, ihr alles zu erzählen, wenn wir Anklage erhoben – falls es so weit kam. Dunn war absolut sicher, dass ein oder zwei Sitzungen im Verhör ausreichten, um alles an Geständnis aus Fawcett herauszuholen, was wir brauchten. Ich war anderer Ansicht.
Und so fand ich mich früh am Morgen des nächsten Tages zu guter Letzt in einer Verhörzelle an einem Tisch mit Fawcett wieder. Endlich lernte ich den Mann persönlich kennen. Sergeant Morris und ein weiterer Beamter hatten die Verhaftung am Abend vorher durchgeführt. Morris’ Worten zufolge hatte Fawcett keinerlei Widerstand geleistet. Die Nacht in der Zelle schien ihn nicht weiter aus der Fassung gebracht zu haben. (Mir dämmerte, dass er wahrscheinlich bereits zu früheren Gelegenheiten Bekanntschaft mit dem Inneren von Polizeiwachen überall im Land gemacht hatte.) Beim Betreten des Verhörraums blickte er sich mit gelindem Interesse um, bevor er uneingeladen Platz nahm. Er hatte sich nicht rasiert, aber er sah immer noch schick aus, die Garderobe war sauber, nur die Schuhe waren ein wenig stumpf. Das lange Haar reichte in Locken bis zum Kragen, doch die diamantene Nadel war verschwunden, die er normalerweise in seiner Krawatte trug. Sie stellte eine Waffe dar und war ihm nicht nur wegen seiner eigenen Sicherheit weggenommen worden, sondern auch um der Beamten willen, die ihm nahe kamen. Im Großen und Ganzen jedoch wirkte er ziemlich unbeeindruckt. Er wirkte sehr überlegen. Sein Verhalten war beinahe so, als wäre er derjenige, der mich verhörte.
»Ich nehme an, mein Protest gegen dieses unerhörte Vorgehen ist wenig sinnvoll«, sagte er gelassen, während ich auf dem Stuhl ihm gegenüber Platz nahm. »Ich protestiere dennoch auf das Schärfste, und ich möchte, dass Sie das zu Protokoll nehmen.«
»Wie Sie meinen«, antwortete ich in einem Tonfall, der ihm, wie ich hoffte, klarmachte, dass er so energisch protestieren konnte, wie er wollte – es gab niemanden im Raum, den er damit beeindrucken konnte. Jeder Gelegenheitsdieb, jeder Kleinkriminelle, jeder Jed Sparrow dieser Welt ist schnell dabei, wenn es ums Protestieren geht.
Biddle, der mit Papier und Stift an der Seite saß, begann umständlich zu schreiben – vermutlich notierte er Fawcetts Protest, fürs Protokoll. Fawcett warf ihm einen Blick zu, und ein flüchtiges Lächeln huschte über sein Gesicht.
Er lächelte jedoch nicht mehr, als er mich wieder ansah. »Sie haben keinen Grund, das hier zu tun. Auf welche Weise kann ich Ihnen behilflich sein?«
»Ich hoffe, Sie können uns bei unseren Ermittlungen wegen des Mordes an Allegra Benedict weiterhelfen, und zwar ein ganzes Stück«, antwortete ich.
Er schüttelte den Kopf, als wüsste er überhaupt nicht, wovon ich redete. »Es tut mir leid, Inspector Ross, aber ich kann Ihnen nicht folgen, beim besten Willen nicht.«
»Sie werden doch wohl nicht abstreiten wollen, dass sie Mrs. Benedict kannten?«
»Nein, aber ich würde auch nicht sagen, dass ich sie gut kannte. Wir waren uns begegnet. Sie war zu Besuch bei einer oder zwei Abendveranstaltungen im Haus von Mrs. Jemima Scott, einer treuen Anhängerin und unermüdlichen Arbeiterin für unsere gute Sache. Miss Marchwood, eine weitere Stütze unserer Kongregation, hatte sie mitgebracht. Mrs. Benedict war eine sehr charmante Frau, wie ich mich sehr wohl erinnere, entweder italienischer oder französischer Herkunft. Selbstverständlich war ich schockiert, als ich von ihrem tragischen Tod erfuhr, und kurze Zeit darauf auch noch von Miss Marchwoods Dahinscheiden. Mrs. Scott war ebenfalls äußerst betrübt. Jeder normale Mensch würde so empfinden. Eine grauenhafte Geschichte!« Er beugte sich vor und sah mich an. »Aber ich kann Ihnen nicht helfen bei Ihrer Suche nach dem verantwortlichen Schurken!«
Es war ein grober Fehler von Dunn, ihn herbringen zu lassen!, dachte ich wütend. Er weiß, dass wir außer Spekulationen nicht das Geringste gegen ihn in der Hand haben. Er ist darauf vorbereitet, hier zu sitzen und abzuwarten, während ich mich vor ihm zu einem absoluten Narren mache! Doch mir blieb nichts anderes übrig, als das Spiel weiterzuspielen.
»Wir glauben, dass Ihre Bekanntschaft mit Mrs. Benedict sehr viel weiter ging, als Sie einräumen, Mr. Fawcett. Lassen Sie mich Ihnen eine direkte Frage stellen.«
Ein wachsamer Blick schlich in seine Augen. Lizzie hatte sich groß und breit über ihre bemerkenswerte Farbe ausgelassen, eine Art von leuchtendem Grün-Blau. Mir kamen sie sehr eigenartig vor, wie die Glasaugen in einem Puppenkopf. Doch Frauen lassen sich von derartigen Dingen beeindrucken, schätze ich. Wie dem auch sei, das wachsame Flackern war beinahe im gleichen Moment wieder verschwunden, und die irritierende Gelassenheit kehrte zurück. Ich spürte, wie sich angesichts seiner Selbstgefälligkeit unwillkürlich meine Nackenhaare aufrichteten, und ich hatte Mühe, meine Abneigung gegen ihn zu verbergen. Nicht, dass es eine Rolle gespielt hätte. Er wusste ohnehin instinktiv, was ich von ihm hielt.
»Nur zu, Inspector.«
»Am vorletzten Samstag, dem Tag ihres Todes – bitte sagen Sie jetzt nicht, dass Sie sich nicht erinnern.« Er hatte mich stirnrunzelnd angesehen, aber ich hatte nicht vor, ihm seine Mätzchen durchgehen zu lassen. »Es herrschte außergewöhnlich dichter Nebel, und die Nachricht über den Mord hatte bereits am nächsten Morgen die Runde durch die ganze Stadt gemacht. Weswegen an besagtem Sonntag Ihre treue Stütze der Kongregation, Miss Marchwood, nicht am Treffen der Temperenzbewegung teilnehmen konnte. Sie war Mrs. Benedicts Gesellschafterin. An jenem Samstag also … waren Sie mit Mrs. Benedict im Green Park verabredet? Sagen wir, gegen vier Uhr nachmittags?«
»Nein.« Das schwache Lächeln kehrte zurück. »Warum um alles in der Welt sollte ich? Was für eine geradezu absurde Frage!«
Ich tat mein Bestes, seine Selbstzufriedenheit zu ignorieren, doch meine Stimme klang unwirsch, als ich fortfuhr. »Wo waren Sie zur fraglichen Zeit?«
»In meiner Unterkunft, in Clapham«, antwortete er umgehend.
»Sie scheinen sich ganz sicher zu sein«, gab ich zu bedenken. »Sie haben keine Sekunde über meine Frage nachgedacht.«
»Das war nicht nötig. Ich bin samstagnachmittags immer zu Hause. Verstehen Sie, Inspector …« Er beugte sich vor, um meine Aufmerksamkeit auf einen wichtigen Punkt zu lenken, den er vorzubringen im Begriff stand. »Für die meisten Menschen ist der Sonntag ein Tag der Ruhe. Für uns Geistliche und Kirchenmänner hingegen ist es der arbeitsreichste Tag der Woche, denn wir verrichten das Werk des Herrn. Es ist der Tag, an dem wir unsere Predigt halten. An Samstagen, Inspector Ross, schreibe ich meine Predigten für den folgenden Sonntag. Da heute Freitag ist, kann ich bereits jetzt mit einiger Sicherheit sagen, dass ich morgen Nachmittag erneut an dieser Arbeit sitze. Woche für Woche, das ist nun einmal mein Lebensrhythmus.« Er lehnte sich zurück, umgeben von einer Aura scheinheiliger Langmut, sodass ich ihn am liebsten über den Tisch hinweg gepackt und mit bloßen Händen gewürgt hätte.
Andererseits war an seiner Antwort eine unwiderstehliche Logik. Wahrscheinlich saßen samstags landauf, landab Geistliche an der gleichen Arbeit. Ich hakte nichtsdestotrotz nach.
»Hat jemand Sie dabei gesehen? Ihre Wirtin? Ein Besucher?«
Er blickte verletzt drein. »Ich habe meiner Wirtin eingeschärft, dass ich zu diesen Zeiten auf gar keinen Fall gestört werden will. Das Schreiben meiner Predigt nimmt den ganzen Nachmittag in Anspruch. Ich gehöre nicht zu der Sorte, die alles in fünf Minuten runterschreibt. Ich muss nachdenken. Die Beispiele müssen sorgfältig ausgewählt werden! Der Prediger muss die Herzen und Köpfe seiner Zuhörer erreichen, Inspector, ohne sie zu verwirren. Er muss erklären, verdeutlichen, inspirieren. Mehr als einmal habe ich bis tief in die Nacht an einer Sonntagspredigt gesessen.«
Ich ließ mich nicht beeindrucken von dem Bild, das er von sich zu zeichnen bemüht war: ein aufrechter Geistlicher, der im Schein von Kerzenlicht an seiner Predigt schreibt.
»Aber es gab ein Treffen im Saal der Temperenzbewegung, nicht weit entfernt von Waterloo an jenem Nachmittag«, erinnerte ich ihn. »Unser Dienstmädchen, Bessie Newman, war dort, um Flugblätter abzuholen.«
»Das wurde mir berichtet, ja. Bitte verzeihen Sie, dass man ihr diese Flugblätter überlassen hat, ohne vorher Ihre ausdrückliche Genehmigung einzuholen. Ich gab bereits Ihrer Frau mein Bedauern zu verstehen. Jedoch war ich am fraglichen Samstagnachmittag nicht im Saal, genauso wenig wie an irgendeinem anderen Samstag. Mr. Walters hat das Treffen an jenem Tag geleitet. Wenn Sie vielleicht die Güte hätten, Ihr Dienstmädchen zu fragen – es wird meine Worte zweifellos bestätigen.«
»Sie haben eine treue Schar von Helfern«, sagte ich, weiterhin angestrengt bemüht, ihm nicht zu zeigen, wie sehr er mich reizte, und in vollem Bewusstsein, dass es mir nicht gelang – schlimmer noch, er genoss mein Unbehagen sichtlich.
Er nickte liebenswürdig.
»Aber Sie konnten Allegra Benedict nicht überzeugen, Ihrer Bewegung beizutreten.«
»Nein. Sie gehörte zu einer anderen Glaubensgemeinschaft. Sie haben völlig recht, Inspector. Und weil sie nicht zu meiner Kongregation gehörte, ist es mir ein völliges Rätsel, was Sie auf die Idee bringt, ich hätte eine Verabredung mit ihr gehabt, noch dazu im Green Park?« Er schüttelte den Kopf. »Was für eine überspannte Vorstellung, Inspector.«
»Das werden wir noch sehen, Mr. Fawcett!«, schnappte ich zurück, und wieder huschte das flüchtige Lächeln über sein Gesicht. Er hatte meine Argumente mühelos zerpflückt und spürte meine Verunsicherung, zumal ich jegliche Bemühungen eingestellt hatte, es zu verbergen. Ich riss mich mit aller Macht zusammen.
»Ich glaube, dass sie zwar nicht in den Saal zu Ihren Versammlungen gekommen ist, aber dass Sie nichtsdestotrotz in engem Kontakt mit ihr standen, Mr. Fawcett. Sie wusste von Ihrem sogenannten guten Werk, weil sie Sie im Haus von Mrs. Scott davon hatte reden hören. Sie sah sich aufgefordert, zu Ihren finanziellen Mitteln beizutragen, entweder weil sie glaubte, das Geld würde guten Zwecken zugeführt, oder weil sie einen anderen Grund hatte, warum sie Ihnen gefallen wollte. Wie dem auch sei, sie hat Sie an jenem Tag getroffen, um Ihnen das Geld zu geben, das sie aus dem Verkauf einer Brosche aus dem Erbe ihrer Mutter erlöst hatte. Wir haben mit dem Juwelier in der Burlington Arcade gesprochen. Mrs. Benedict begab sich von dort direkt zum vereinbarten Treffpunkt.«
Er blinzelte verunsichert, als ich den Juwelier erwähnte. Das war keine Spekulation von meiner Seite gewesen. Allegra hatte den Schmuck tatsächlich verkauft.
»Ich weiß nicht, warum die Dame Geld brauchte, aber ich habe sicherlich keines von ihr bekommen. Sie können meine Unterkunft gerne durchsuchen. Sie werden es nicht finden. Sie werden überhaupt keine Geldsummen in meinem Besitz finden, Inspector. Alle Gelder werden für mein Werk verwendet.« Er schürzte die Lippen. »Wenn ich recht informiert bin, ist ihr Ehemann wohlhabend? Ich muss schon sagen, ich finde es überraschend, dass sie ein Schmuckstück verkauft haben soll. Aber wenn Sie das sagen, Inspector, dann muss es wohl so sein. Trotzdem vermag ich mir nicht annähernd vorzustellen, was sie mit dem erlösten Betrag vorhatte.« Er schüttelte den Kopf. »Es gibt so viele aufgewühlte Seelen da draußen, Inspector. Wer weiß schon, was in ihrem Kopf vorging?«
Ich atmete tief durch. Wer A sagt, muss auch B sagen. »Mehr noch, Mr. Fawcett, ich glaube, dass Sie und Mrs. Benedict eine heimliche Liebesbeziehung hatten.«
Jetzt versteifte er sich, dann stieg Röte in sein Gesicht, und auf seiner Stirn bildete sich eine tiefe Falte. »Das ist eine höchst beleidigende Unterstellung, Inspector Ross! Ich streite selbstverständlich alles ab! Auf das Entschiedenste! Nicht nur, weil ich ein Mann Gottes bin, der sich, gebunden durch die Erfordernisse seiner Religion, hingebungsvoll seiner Arbeit widmet, sondern auch, weil sie eine äußerst respektable verheiratete Frau ist … war, heißt das. Ich darf doch stark annehmen, dass Sie diese skandalöse und, wie ich nicht eine Sekunde zweifle, justiziable Theorie nicht gegenüber dem Ehemann der Verstorbenen geäußert haben? Ist es schon so weit gekommen? Dass die Polizei Verleumdungen gegen Personen äußert, die nicht mehr darauf antworten können?«
Sein heftiger Ausbruch verriet mir zumindest eines: Ich hatte ihn getroffen. Das energische Dementi war mit einer solchen Leidenschaft vorgetragen worden, dass ich das Gefühl hatte, ihn nicht wenig erschreckt zu haben. Man kann nun sagen, dass jeder so auf meine Anschuldigung reagiert hätte, erst recht, wenn er unschuldig gewesen wäre. Doch ich hatte eine Vielzahl schuldiger Männer verhört, und ich hatte meine Erfahrungen gemacht. Aha, Mr. Fawcett, dachte ich, Sie haben nicht gedacht, dass Ihre amourösen Verstrickungen bekannt würden.
»Ich muss darauf bestehen zu erfahren«, fuhr er fort, »auf welcher Grundlage Sie diese impertinenten Anschuldigungen äußern. Sie haben keinerlei vernünftige Argumente, um sie zu untermauern.«
»Wir glauben«, sagte ich, indem ich seine Forderung ignorierte, »dass Miss Marchwood Ihre Korrespondenz zu Mrs. Benedict beförderte.«
Doch jetzt war er wieder auf sicherem Grund. Ich sah, wie er sich entspannte, und verfluchte meine Ungeschicktheit. Miss Marchwood konnte nicht länger als Zeugin berufen werden.
»Das hat sie Ihnen selbst gesagt? Miss Marchwood, meine ich? Sie hat diese lächerliche Behauptung aufgestellt?« Seine Augen funkelten.
Erneut ignorierte ich ihn. »Es gibt bekräftigende Aussagen von Mrs. Benedicts Kammerzofe und einem früheren Butler in Diensten von Mr. Benedict.«
Morris war in Egham gewesen und hatte Henderson befragt, die Kammerzofe, die noch im Haus von Benedict lebte. Morris fiel es leicht, Zugang zum niederen Personal großer Haushalte zu bekommen. Die Kammerzofe hatte jedenfalls munter geplaudert, nachdem Morris ihr verraten hatte, dass der ehemalige Butler Seymour ausgesagt hatte. Sie war definitiv zwei Mal hinzugekommen, als ihre gnädige Herrin Briefe im Kamin verbrannt hatte, und bei einer Gelegenheit (was sie unter tiefem Erröten gestand) war es ihr gelungen, ein unverbranntes Stück vom Gitterrost zu retten, aus reiner Neugier. Es war mit Jos… unterzeichnet, der Rest des Namens war verbrannt gewesen. Unglücklicherweise (für uns) hatte sie das versengte Fragment nicht aufgehoben.
Fawcett warf die Hände in die Luft. »Schwatzendes Dienstpersonal! Meine Güte, Inspector, ein Mann von Ihrer Erfahrung weiß doch wohl, wie er derartige sogenannte Informationen einzuschätzen hat! Ich muss gestehen, ich bin sehr überrascht. Einer ungebildeten Kammerzofe Glauben zu schenken, deren Verstand von Liebesromanen und anderem Schund benebelt ist! Und einem ehemaligen Butler! Einem entlassenen Butler mit einem Groll gegen seine Herrschaft!« Er schüttelte in gespielter Sorge über meine Naivität den Kopf. »Kein Gericht in ganz England würde aufgrund dieser Aussagen ein Urteil fällen, Inspector.«
Er hatte recht. Ich konnte nichts beweisen, und das wusste er. Wenn ich jetzt weiter darauf beharrte, würde es mehr und mehr danach aussehen, als klammerte ich mich an Strohhalme.
»Lassen Sie mich eines klarstellen, Inspector«, fuhr er fort. »Wollen Sie andeuten – ich vermag es kaum zu glauben, aber alles deutet darauf hin –, ich hätte meine Hand im Spiel gehabt bei der Ermordung der unglückseligen Mrs. Benedict?«
»Wir bitten Sie lediglich um Zusammenarbeit bei unseren Ermittlungen«, hörte ich mich hölzern antworten.
»Und Miss Marchwood? Glauben Sie, dass ich Ihnen auch bei dieser grauenvollen Geschichte helfen könnte? Gibt es vielleicht noch mehr ungelöste Verbrechen aus jüngster Zeit, die Sie mir gerne zur Last legen würden? Ich fange an mich zu fühlen, wie der Sündenbock aus dem Alten Testament, der, beladen mit den Sünden der Kinder Israels, hinausgeschickt wurde in die Wildnis.«
»Ich habe zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine weiteren Fragen, Sir«, schnarrte ich.
Er hatte mich in die Enge getrieben. »Wird mir irgendein Vergehen vorgeworfen?«
»Zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht, Sir«, gestand ich.
»Dann steht es mir frei zu gehen?«
»Ja. Es steht Ihnen frei zu gehen, Sir.« Ich konnte Biddle in seiner Ecke sehen, der mich verblüfft anstarrte. Nun ja, Constable Biddle war jung und hatte noch jede Menge zu lernen.
Fawcett erhob sich elegant von seinem Stuhl und klopfte seine Garderobe ab. »Ich gehe davon aus, dass man mir meine Krawattennadel unverzüglich zurückgibt. Ich möchte schließlich nicht, dass sie am Ende im Polizeigewahrsam verloren geht.«
Ich beugte mich über den Tisch. »Sie treiben es auf die Spitze, Fawcett. Ja, Sie dürfen gehen. Aber Sie werden London nicht verlassen.«
»Warum sollte ich?«, entgegnete er. »Einen guten Tag noch, Inspector.«
Kurze Zeit später beobachtete ich von meinem Fenster aus, wie er die Straße hinunterschlenderte. Dunn hatte wahrscheinlich recht, und er würde nicht verschwinden – jedenfalls nicht sofort. Wir hatten unsere Trümpfe ausgespielt, und wie sich herausgestellt hatte, waren sie zu schwach gewesen. Er hatte überhaupt nichts zugegeben, und wir konnten überhaupt nichts beweisen. Trotzdem – es musste ihn nervös machen, dass wir von seiner Liaison mit Allegra Benedict wussten. Ein Mann wie Fawcett machte sicher Pläne für seine Zukunft. Was, so fragte ich mich, würde er nun tun?