KAPITEL ZEHN
Inspector Benjamin Ross
»Die Frage, die mir in den Sinn kommt, ist nicht nur, wo der Mistkerl in den Zug gestiegen ist und ihn wieder verlassen hat, sondern auch, woher zum Teufel er wusste, dass die Marchwood genau in diesem Zug saß«, rumpelte Superintendent Dunn, als ich ihm nach meiner Rückkehr zum Scotland Yard Bericht erstattete.
»Den gleichen Gedanken hatte ich auch, Sir«, pflichtete ich ihm bei. »Und die einzige zufriedenstellende Antwort, die ich darauf geben kann, lautet, dass er sie beobachtet haben muss, als sie in Egham eingestiegen ist.
Ich will andere Möglichkeiten nicht von vornherein ausschließen. Er könnte später in Richmond zugestiegen sein, nachdem Williams den Waggon mit dem Opfer verlassen hatte. Er könnte ungesehen hinter dem Rücken des Schaffners eingestiegen sein. Er könnte anschließend in Clapham wieder ausgestiegen sein. Oder er ist erst in Clapham ein- und in Vauxhall ausgestiegen oder in Vauxhall ein- und zusammen mit allen anderen Reisenden in Waterloo ausgestiegen. Das käme beispielsweise dann infrage, wenn es ein willkürlicher Mord gewesen wäre.
Aber wenn er geplant war, wovon ich überzeugt bin, dann ist die einfachste Erklärung, dass er in Egham eingestiegen ist. Er behielt den Schaffner im Blick und wartete geduldig, bis Williams die erste Klasse, wo Miss Marchwood saß, kontrolliert hatte. Er überzeugte sich, dass kein anderer Reisender in ihrem Abteil war. Nachdem er sicher war, dass niemand ihn würde stören können, sprang er bei diesem oder einem der folgenden Halts aus dem Waggon, eilte schnell zur ersten Klasse und schlüpfte hinein, nachdem Williams ausgestiegen war. Williams war auf dem Weg zum anderen Ende des Zuges und wandte ihm den Rücken zu, oder er war schon wieder in einem Waggon verschwunden.«
Eine Pause entstand, während Dunn sich nachdenklich den Kopf rieb. Schließlich verschränkte er die Hände vor sich auf dem Schreibtisch und sah mich an. »Also lebt unser Mörder ebenfalls in Egham? Wollen Sie das damit sagen? Reden wir von Benedict? Wenn Sie recht haben, scheint er ganz oben auf der Liste zu stehen.«
»Nicht unbedingt«, sagte ich rasch. »Auch wenn ein misstrauischer und eifersüchtiger Ehemann ein nahe liegender Verdächtiger ist. Wir wissen allerdings noch nicht, wie viele Personen in diese Sache verwickelt sind. Eine weitere Person könnte das Haus beobachtet haben. Er – oder unser Mörder – ist nach Egham gefahren, zum Haus auf dem Berg gelaufen und hat sich auf dem Gelände herumgetrieben. Er konnte sich leicht verbergen. Das Anwesen ist groß, und es gibt zahlreiche Bäume und Büsche … Falls er das Haus unbeobachtet observieren wollte, hatte er jede Gelegenheit dazu. Als er sah, wie Miss Marchwood das Haus verließ, folgte er ihr und stieg in denselben Zug. Es sei denn …«, fügte ich hinzu, als mir ein Gedanke kam. »Es sei denn, der Mörder hatte einen Komplizen. Der erste Mann, der das Haus beobachtete, folgte ihr bis zum Bahnhof und hat von dort voraustelegrafiert, dass sie im Waggon erster Klasse sitzt. Die zweite Person hat irgendwo unterwegs gewartet, in Richmond beispielsweise, und ist zu Miss Marchwood in das Abteil gestiegen.«
»Aber warum wurde sie überhaupt ermordet?«, fragte Dunn unverblümt.
»Weil der – oder die Mörder fürchten mussten, dass sie letzten Endes reden und uns verraten würde, was sie wusste. Ich glaube, sie war auf dem Weg zu uns. Oder zu meiner Frau.«
Dunn hob die Augenbrauen.
»Lizzie hat gestern Abend mit ihr gesprochen, nach dem Treffen der Temperenzbewegung«, erläuterte ich. »Sie hat Miss Marchwood bedrängt, sie ins Vertrauen zu ziehen, doch die Lady wollte nicht. Die Unterhaltung könnte jedoch durchaus dazu geführt haben, dass sie später ihre Meinung geändert hat in Bezug auf ein offenes Gespräch mit der Polizei. Was auch immer das Geheimnis sein mag, das sie mit sich herumtrug, es war eine erdrückende Last. Sie war eine fromme Person und höchst respektabel, in jeder Hinsicht. Sie wollte sich von dieser Last befreien, dieser Bürde, und der Mörder muss das gewusst haben. Er beschloss, dafür zu sorgen, dass sie es nicht mehr bis zur Polizei schaffte.«
»Ich wiederhole – steckt Benedict selbst dahinter?«, forderte Dunn mich erneut heraus.
»Ich schließe ihn nicht aus, Sir«, sagte ich mit einem Seufzer, weil ich sah, dass Dunn eine neue fixe Idee in seinem Kopf hatte. »Nach meinem ersten Besuch in Benedicts Haus entwickelte er eine plötzliche und heftige Abneigung gegen Isabella Marchwood. Er setzte sie jedoch nicht auf der Stelle mit Sack und Pack vor die Tür, wie man vielleicht erwarten würde angesichts seines Wunsches, dass sie ihm nicht mehr unter die Augen kommen möge. Warum hat er sie noch im Haus behalten? Lag es einfach daran, dass seine Frau, wie er sagt, die Gesellschafterin als Freundin empfand? Oder wollte er auf diese Weise dafür sorgen, dass er wusste, wo sie steckte und was sie tat?« Ich zögerte. »Ich kann nicht anders, ich muss immer wieder an das denken, was dieser elende Sully über Benedict gesagt hat.«
»Wer ist Sully?«, fragte Dunn.
»Der Assistent von Dr. Carmichael, Sir. Sie werden ihn wahrscheinlich nicht kennen. Er ist ein unangenehmer Kerl, dessen bloßer Anblick einem Schauer über den Rücken jagt. Er liebt seine Arbeit mit den Leichen, glaube ich. Wie dem auch sei, er wollte von mir wissen, ob ich glaube, der Ehemann hätte sie umgebracht, und falls ja, warum im Park? Warum nicht zu Hause? Aber das wäre natürlich zu offensichtlich gewesen. Benedict wäre auf der Stelle verhaftet und sämtliches Hauspersonal wäre als Zeugen herangezogen worden. Doch er könnte seiner Frau nach London gefolgt sein an jenem Samstagnachmittag.«
»Und heute ist er dieser Marchwood gefolgt? Sie mögen wetten, dass irgendjemand das Haus beobachtet – ich setze mein Geld darauf, dass der Ehemann dahintersteckt. Sie fahren besser gleich nach Egham und reden erneut mit ihm.«
»Jawohl, Sir. Sir … ich hätte da noch eine Frage.«
Dunn hob die buschigen Augenbrauen. »Schießen Sie los, Mann! Was gibt’s?«
»Dieser Prediger, Joshua Fawcett, die Hauptattraktion bei den Temperenzversammlungen, die Isabella Marchwood besucht hat … Ich vermute, er könnte der Mann gewesen sein, mit dem Allegra Benedict sich treffen wollte, auch wenn ich keinerlei Beweise habe, dass sie ihn persönlich kannte. Doch sie wusste mit nahezu völliger Sicherheit aus den Erzählungen ihrer Gesellschafterin von ihm. Sie hatte eine große Summe Geldes bei sich. Ihr Pompadour mit dem Geld darin wurde nie gefunden. Ich denke, Fawcett ist möglicherweise ein Trickbetrüger, der einsame Frauen ausnimmt, indem er sie dazu überredet, ihm Geld für seine vorgeblich guten Taten zu spenden. Falls ich recht habe, so hat er diese Masche möglicherweise schon in anderen Städten angewendet. Meine Frau beschreibt ihn als jung, etwa dreißig, vielleicht ein wenig älter, aber mit dem Aussehen eines Dreißigjährigen. Er ist elegant gekleidet und trägt eine diamantenbesetzte Nadel in der Krawatte. Er hat lange Haare und blaue oder grüne Augen. Er ist äußerst eloquent und geschickt darin, sein Publikum zu kontrollieren und zu manipulieren. Meine Frau, die ein äußerst scharfsinniges Gespür für Menschen hat, hält ihn für einen Schwindler.«
»Ich werde Nachforschungen anstellen«, versprach Dunn. »Ich freue mich, dass Mrs. Ross eine so aufmerksame Beobachterin ist.« Er ließ sich zu einem Lächeln hinreißen. »Und ich weiß auch, dass Mrs. Ross ihren Verstand beisammenhat. Es ist eine Schande, dass wir bei der Metropolitan Police nicht ein paar Frauen von ihrem Schlag einstellen können.«
Der Gärtner war in der Nähe des Eingangs zum Anwesen damit beschäftigt, herabgefallene Blätter und Zweige zusammenzufegen. Er blickte auf, als ich vorbeikam, und begrüßte mich freundlich. »Guten Tag, Inspector!«
Ich hatte ihn bei meinem ersten Besuch nicht selbst gesprochen – das hatte Morris erledigt. Irgendjemand vom Personal musste ihm verraten haben, wer ich war. Bedienstete beobachten alles Kommen und Gehen im Haus einer Herrschaft und wissen im Allgemeinen bestens über alle Vorgänge Bescheid. Ich wünschte mir umso inbrünstiger, dass es Morris gelang, den ehemaligen Butler ausfindig zu machen, Seymour. Sein plötzlicher freiwilliger Abschied aus den Diensten von Benedict musste eine ziemlich drastische Ursache haben.
Noch immer zierte das schwarze Trauerband den Klopfer an der Haustür, jedoch waren die Vorhänge nicht länger allesamt zugezogen. Ich fragte mich, ob sie, sobald das Haus vom Tod Isabella Marchwoods erfuhr, aus Respekt erneut zugezogen werden würden.
Parker öffnete mir die Tür und empfing mich diesmal beinahe erfreut. »Oh, Inspector Ross! Sind Sie hier, um den gnädigen Herrn zu sprechen, Sir? Kommen Sie bitte herein!«
Ich war froh, sie nicht länger in Tränen aufgelöst zu sehen, doch ich befürchtete, meine schlechten Neuigkeiten würden ihren vorherigen Zustand erneut heraufbeschwören. Ich hatte mit Burns ausgemacht, dass ich der Überbringer der Nachrichten sein sollte. Ich hatte Benedict bereits im Zusammenhang mit dem Mord an seiner Frau befragt, und er musste weiterhin als Verdächtiger in diesem Fall betrachtet werden (zumindest nach dem Dafürhalten von Superintendent Dunn). Er war nun sogar – angesichts der Tatsache, dass das neue Opfer ebenfalls Teil der Ermittlungen gewesen war und in seinem Haushalt gelebt hatte – weit oben auf der Liste der Verdächtigen. Ich konnte Dunns Argumentation gut verstehen. Es würde interessant werden zu beobachten, welche Wirkung meine Nachricht auf Benedict hatte. Er war intelligent genug, um zu begreifen, dass die Indizien ihn allmählich mehr und mehr belasteten – und in der Vergangenheit waren nicht wenige Männer allein aufgrund von Indizienbeweisen gehängt worden.
Benedict war in seinem Arbeitszimmer. Auf einer Staffelei hatte man ein großes Ölgemälde aufgebaut. Es war eine jener Kompositionen, die man üblicherweise Stillleben nennt, was so viel heißt wie: Alles auf dem Bild ist entweder tot oder unbelebt. Es zeigte leblose Vögel mit herabhängenden Köpfen, einen unglückseligen Hasen, der an den Läufen aufgehängt war, zwei Fische mit glasigen Augen, die aussahen wie Forellen, ein oder zwei Zinnflaschen sowie eine Flasche Wein in einer Bastumhüllung. Ich hätte es bestimmt nicht in meinem Haus aufgehängt, doch ich wage zu behaupten, dass es in großen Landhäusern einen gewissen Bedarf an dieser Art von Werken gibt.
»Nun?«, begrüßte mich Benedict bei meinem Eintreten, indem er sich von seiner neuen Erwerbung abwandte. »Haben Sie endlich Fortschritte bei Ihren Ermittlungen gemacht?«
»Unglücklicherweise habe ich weitere traurige Nachrichten zu überbringen«, erwiderte ich. »Miss Marchwood wurde heute ermordet.«
Er starrte mich an. »Unsinn!«, sagte er nur.
»Ich habe den Leichnam mit eigenen Augen gesehen, Sir, heute Vormittag. An der Waterloo Bridge Station.«
Er entfernte sich von dem Gemälde, während er mich weiterhin ungläubig anstarrte. Entweder war er ein exzellenter Schauspieler, oder die Nachricht war einfach so unglaublich und schockierend, dass sein Verstand sich weigerte, sie zu akzeptieren. Schließlich drehte er sich um und zupfte an einer Klingelschnur.
Parker erschien.
»Wo ist Miss Marchwood?«, wollte Benedict von dem Zimmermädchen wissen.
»Die Lady ist ausgegangen, Sir«, antwortete Parker. »Sie hat am frühen Morgen das Haus verlassen. Ich glaube, sie wollte nach London fahren. Sie sagte, sie wäre nicht zum Mittagessen zurück.«
Benedict entließ das Zimmermädchen mit einem verärgerten Wink und wandte sich wieder an mich. »Wie um alles in der Welt ist das möglich, dass die Marchwood auf dem Bahnhof von Waterloo ermordet wurde? Es herrscht reger Betrieb dort, alles voller Menschen. Abgesehen davon, wer sollte sie umbringen wollen?« Er klang völlig verwirrt, und ich meinte sogar einen Unterton von aufkeimender Panik in seiner Stimme zu erkennen.
»Ich fürchte, sie ist erst gar nicht lebend in Waterloo angekommen, Sir. Sie wurde im Zug ermordet, irgendwann hinter Richmond.« Ich achtete aufmerksam auf seine Reaktion. »Wir wissen das deswegen so genau, weil der Schaffner zwischen Twickenham und Richmond mit ihr gesprochen hat, bevor er in Richmond aus dem Waggon ausgestiegen ist. Zu diesem Zeitpunkt war Miss Marchwood allein im Waggon und noch am Leben. Doch im Bahnhof von Waterloo entdeckte der gleiche Schaffner, dass sie inzwischen den Tod gefunden hatte.«
»Ein Herzanfall?«, flüsterte Benedict. Ich konnte seine Worte kaum verstehen.
»Nein, Sir, definitiv kein Herzanfall.« Ich zögerte. »Und auch keine andere natürliche Todesursache.«
Benedict setzte sich schwer in einen Sessel und starrte zu mir hoch. Seine Hände hielten die Lehnen fest gepackt. Sein Gesichtsausdruck war gehetzt, und ich denke, er schenkte mir erst in diesem Augenblick Glauben.
Er hat es nicht gewusst, dachte ich. Er ist nicht unser Mörder. Dunn irrt sich.
»Wer hat sie umgebracht?«, fragte er mit belegter Stimme.
»Das wissen wir nicht, Sir. Sie starb auf die gleiche Weise wie Mrs. Benedict.«
Ein schmerzlicher Ausdruck erschien auf seinem Gesicht, und er zuckte zusammen.
»Warum?«, fragte er.
»Ich weiß nicht, warum, Sir. Ich vermute, dass sie auf dem Weg zum Scotland Yard war. Vielleicht ist ihr etwas eingefallen, das sie uns sagen wollte.«
»Sie hätte es mir sagen können!«, brauste Benedict auf. Er beugte sich in seinem Sessel vor, das Gesicht mit einem Mal rot vor Ärger. »Aber sie hat es nicht gewagt. Weil sie sich geschämt hat, Ross! Geschämt! Sie und ich, wir wissen beide den Grund.«
Er verstummte, doch der Ärger schien aus ihm herauszuströmen. Er sah mich voller Hass an. Er war überzeugt, dass seine Frau ihn betrogen hatte – und dass ich darüber Bescheid wusste. In seinen Augen war er der gehörnte Ehemann, die jahrhundertealte Lachfigur.
»Wir wissen nicht genau, warum«, sagte ich behutsam.
Es stimmte schließlich. Ich hatte eine Theorie, dass Isabella Marchwood auf dem Weg zu mir gewesen war, genauso, wie ich Fawcett verdächtigte, der Mann zu sein, für den das Geld in Mrs. Benedicts Pompadour bestimmt gewesen war. Doch ich hatte keinerlei Beweise. Fawcett würde nichts zugeben. Ich musste schon mehr gegen ihn in der Hand haben, und das war der Grund, weswegen ich Dunn gebeten hatte, mir bei der Suche zu helfen. Ich wusste immer noch nicht, wer Allegra Benedict umgebracht hatte, und es wäre ein gefährlicher Fehler anzunehmen, dass die beiden Verbrechen, Erschleichen von Geld durch Täuschung auf der einen und Mord auf der anderen Seite automatisch miteinander in Verbindung standen.
Die Menschen zu schröpfen macht einen Mann nicht zum Mörder. Wenn überhaupt, dann eher das Gegenteil. Der Mut von Trickbetrügern erstreckt sich darauf, Geld von den Leichtgläubigen zu ergaunern. Sie sind selten, falls überhaupt jemals, gewalttätig, und sie verlassen sich stattdessen auf ihren Einfallsreichtum und ihre Schlagfertigkeit. Enttarnt machen sie sich aus dem Staub und versuchen ihr Glück woanders. Genau das würde Fawcett tun, sollte ich ihn ohne Beweise mit den Vorwürfen konfrontieren. Er würde einfach verschwinden und sich in einer anderen Stadt neu erfinden.
Was die Frage anging, ob mehr als Geld im Spiel gewesen war – wer wusste das schon zu sagen? Vielleicht hatte Allegra überhaupt keine Affäre mit Fawcett gehabt. Hatte ihre hingebungsvolle Freundin und Gesellschafterin am Ende nur das Wissen verheimlichen wollen, dass Allegra den Schmuck ihrer Mutter verkauft hatte, um dem Mann Geld zu geben?
Ein aufgeschreckter Ehemann benötigt keine Beweise. Nur Verdachtsmomente und ein instinktives Wissen, dass er irgendwie getäuscht wurde. Er geht automatisch vom Schlimmsten aus. Benedict wusste, dass seine Ehe keine Liebesheirat gewesen war. Er war viel älter als seine Frau, sie war eine Schönheit gewesen und er andererseits höchst gewöhnlich. Vielleicht hatte er vom ersten Tag an befürchtet, dass irgendwann ein jüngerer Rivale auftauchen, Allegra beeindrucken und sie eine glühende Leidenschaft zu ihm empfinden könnte.
»Meine Frau war untreu«, sagte Benedict mit tonloser Stimme. »Sie hat mich betrogen. Und Marchwood, die sie von ihrer Torheit hätte abhalten können – oder zu mir kommen und mich warnen –, Marchwood hat geschwiegen. Sie hat sich zur Komplizin im Spiel meiner Frau gemacht. Sie hat sie gedeckt. Ich kann nicht sagen, dass ich traurig bin über die Nachricht von ihrem Tod. Es ist schockierend, zugegeben, und unerwartet. Aber erwarten Sie nicht von mir, dass ich mich jetzt hinstelle und scheinheilige Tränen vergieße. Ich bezweifle, dass ich überzeugend wäre.« Er verzog den Mund zu einer freudlosen Grimasse.
Ich schätzte seine Aufrichtigkeit. Dunn hätte vielleicht gesagt, er wäre gerissen. Es war besser, jetzt zu offenbaren, dass man nicht traurig war, als Betrübnis vorzutäuschen, die zu einem späteren Zeitpunkt bestenfalls als Humbug auffliegen konnte und schlimmstenfalls als glatte Lüge.
»Ich muss Sie fragen, Sir, wo Sie den heutigen Vormittag verbracht haben«, sagte ich.
Benedict hob die Augenbrauen und stieß ein bellendes Lachen aus. »Also bin ich jetzt verdächtig? Nun, ich war hier, Inspector. Die Bediensteten können es bestätigen, und falls Sie ihre Aussagen anzweifeln … Das hier …« Er winkte mit der Hand in Richtung des Stilllebens auf der Staffelei. »… das hier wurde heute Morgen geliefert. Ich hatte es bereits erwartet und es so eingerichtet, dass ich im Haus war und es bei seiner Ankunft inspizieren konnte. Es besteht immer die Gefahr, dass Kunstwerke beim Transport beschädigt werden. Ich habe eine Empfangsquittung unterzeichnet. Sie können es beim Transportunternehmen nachprüfen.«
»Danke sehr«, sagte ich verlegen.
Benedict fixierte mich mit einem durchdringenden Blick. »Und ich habe auch meine Frau nicht umgebracht, Inspector«, sagte er. »Sie haben mir keine diesbezügliche Frage gestellt, aber ich bin sicher, dass Sie und Ihre Vorgesetzten über diese Möglichkeit gesprochen haben. Ich hatte einen Grund, könnte man sagen. Doch bis zu dem Augenblick, wo ich mit Ihnen gesprochen habe, nach Allegras Tod, habe ich ihr vertraut. Voll und ganz vertraut!«
Er warf die Hände hoch in einer Geste, die völlig unenglisch wirkte und die er sich möglicherweise in Italien angeeignet hatte.
»Wäre nicht Marchwoods Heimlichtuerei gewesen und ihre offensichtlichen Bestrebungen, ein paar unschöne Wahrheiten vor mir zu verbergen, würde ich ihr wahrscheinlich heute noch vertrauen. Auch Sie, Ross, haben mitgeholfen, die Saat des Zweifels in meine Gedanken zu pflanzen, wie ich bereits sagte. Aber wissen Sie was?« Er beugte sich erneut vor und sah mir in die Augen. »Hätte ich früher erfahren, dass meine Frau mich betrügt, vor ihrem Tod, hätte ich sie deswegen zur Rede gestellt. Wäre sie willens gewesen, Reue zu zeigen und die unselige Affäre zu beenden, um wieder meine loyale Ehefrau zu sein, hätte ich ihr verziehen und sie wieder aufgenommen. Ich habe meine Frau geliebt, Inspector.«
Vielleicht glaubte er es selbst. Es war die Art von Liebe, wie er sie kannte. In meinen Augen war es eher die Dankbarkeit eines Mannes, dem man etwas Kostbares gestohlen hatte, das am Ende wieder in seinen Besitz zurückgekehrt war.
»Darf ich fragen«, wechselte ich das Thema, indem ich mich einem mehr praktischen Aspekt zuwandte, »ob Sie wissen, wer die nächsten Angehörigen von Miss Marchwood sind? Kennen Sie jemanden, mit dem wir uns in Verbindung setzen sollten wegen ihres Todes?«
»Ich habe keine Ahnung.« Er schüttelte den Kopf und sah mich an, als hätte ich einen völlig unmöglichen Vorschlag unterbreitet. »Ich habe nie mit ihr über persönliche Dinge geredet. Sie war eine Angestellte. Ich kann Ihnen höchstens den Namen und die Anschrift der Agentur nennen, von der sie kam. Vielleicht gibt es dort Unterlagen.«
»Danke sehr.«
Während Benedict die Adresse auf ein Blatt Papier schrieb, fuhr ich fort: »Ich hätte noch eine Bitte an Sie, Sir. Ich bedaure, dies tun zu müssen, aber würden Sie bitte mit mir zurück nach London fahren und die Leiche identifizieren?«
Er stieß ein erschrockenes Ächzen aus und sah erbleichend zu mir auf. »Sie wollen, dass ich … dass ich in dieses Hospital zurückkehre, wo ich Allegra gesehen habe … Sie wollen wirklich, dass ich wieder an diesen Ort zurückkehre und mir den Leichnam einer weiteren Frau ansehe?«
»Sie war seit neun Jahren bei Ihnen angestellt, Mr. Benedict, und Sie kannten sie gut. Sie könnten uns auch alternativ einen Namen geben, den eines Verwandten oder eines engen Freundes der Familie. Wenn ich recht informiert bin, war sie entfernt befreundet mit einer Witwe, mit der sie sich jeden Sonntag bei der Temperenzbewegung getroffen hat. Allerdings zögere ich, eine Frau zu fragen …«
»Selbstverständlich, Sie haben recht«, sagte er unwirsch. »Sie lassen mir erstens keine andere Wahl, und zweitens ist es ja wohl meine Pflicht. Ich komme gleich mit Ihnen. Lassen Sie mir nur ein paar Minuten Zeit, damit ich mich fertig machen kann. Wenn Sie vielleicht unten warten möchten?«
»Ich warte draußen«, erbot ich mich. »Beim Tor.«
Der Gärtner arbeitete immer noch am gleichen Fleck wie bei meiner Ankunft. Ich schlenderte zu ihm und erkundigte mich, ob er gesehen hatte, wie Miss Marchwood an diesem Vormittag das Haus verlassen hatte. Er bedachte mich mit einem eigenartigen Blick, als würde ihn meine Frage verwirren, bevor er einräumte, sie gesehen zu haben, wenn auch nur flüchtig. Er hatte ihr einen guten Morgen gewünscht, und sie hatte den Gruß erwidert. Mehr hatten sie nicht miteinander gesprochen. Sie hatte den Schleier vor dem Gesicht getragen, und er hatte ihre Miene nicht sehen können. Sie war vermutlich den Berg hinunter nach Egham gegangen. Er hatte niemanden gesehen, der ihr gefolgt war.
»Ich war beschäftigt, Sir. Ich habe nicht darauf geachtet. Aber sie gehört zu dieser Sorte von Lady, wenn ich mir erlauben darf, das zu sagen, zu dieser stillen Sorte. Man nimmt keine Notiz von ihr und achtet nicht auf das, was sie tut. Später, nicht lange nachdem sie gegangen war, kam der Bote mit einem Paket für Mr. Benedict. Ich ging mit ihm zum Haus, um ihm beim Reintragen zu helfen, dann die Treppe hinauf und zum Arbeitszimmer von Mr. Benedict. Es sah aus wie eins von diesen Bildern.«
Das Eintreffen des Boten hatte eine willkommene Ablenkung im Arbeitstag des Gärtners dargestellt. Nicht jedoch das Kommen oder Gehen der Gesellschafterin. Warum auch? Niemand hatte Isabella Marchwood je Beachtung geschenkt, einer stillen, zurückhaltenden und dennoch gequälten Seele. Niemand würde sie vermissen.
Vielleicht hatte das Fuhrwerk des Boten verhindert, dass Miss Marchwood bereits auf dem Weg den Berg hinunter angegriffen worden war, sinnierte ich. Es musste um diese Zeit auf dem Weg zum Haus gewesen sein.
Benedict und ich fuhren schweigend nach Waterloo zurück. Während er mit leerem Blick aus dem Zugfenster starrte, ging ich in Gedanken die Fakten noch einmal durch. Verstohlen nahm ich meine Taschenuhr hervor und maß die Zeit zwischen den einzelnen Halts. Wo war Isabella Marchwood gestorben? Auf dem Stück vor Clapham – oder erst danach? War ihr Mörder in Clapham, Vauxhall oder gar erst in Waterloo aus dem Zug gestiegen? Ich spähte bei jedem dieser Bahnhöfe aus dem Fenster, als könnte ich vom Zug aus irgendwelche Indizien entdecken. Sowohl in Clapham als auch in Richmond waren uniformierte Beamte der Eisenbahnpolizei zu sehen, die auf den Bahnsteigen Reisende befragten. Burns machte seinen Teil der Arbeit.
Benedict schien alledem keinerlei Aufmerksamkeit zu schenken. Er saß in Gedanken verloren da; vielleicht wappnete er sich innerlich für die wahrlich nicht angenehme Aufgabe, die vor ihm lag.
Ich musste, als wir aus Clapham fuhren, daran denken, dass Mrs. Scott in dieser Ortschaft wohnte. Fawcett wahrscheinlich ebenfalls – wie ich von Lizzie erfahren hatte, war er beide Male nach dem Ende der Treffen bei Mrs. Scott in der Kutsche mitgefahren.
Es konnte etwas bedeuten, oder aber auch nicht. Genau wie alle anderen scheinbaren Zusammenhänge.
Theorien! Mit einem Seufzer steckte ich meine Taschenuhr ein, als wir Waterloo erreichten. Wir haben nichts als Theorien, was die beiden brutalen Morde an respektablen Frauen angeht! Ich betrachtete Allegra Benedict nach wie vor als ehrbare Frau – Fawcetts geschmacklose Verführung einer verletzlichen, naiven Frau, falls es das gewesen war, zerstörte nicht das Bild, das ich mir von ihr gemacht hatte, ganz im Gegensatz zu ihrem Ehemann.
Benedict überstand die Tortur einigermaßen gefasst. Diesmal wurde er nicht ohnmächtig und murmelte auch kein zusammenhangloses Zeug. Er starrte entschlossen auf das aufgedeckte Gesicht der Toten und nickte. »Ja«, sagte er. »Das ist Isabella Marchwood, die Gesellschafterin meiner verstorbenen Frau. Benötigen Sie meine Dienste noch länger?«
»Heute nicht, Sir.«
»Dann fahre ich nach Hause.« Er wandte sich ab und ging zur Tür, ohne auf mich zu warten. Vor der Tür angekommen, wandte er sich um. »Ich hoffe, Sie bitten mich nicht ein drittes Mal hierher, um das Opfer eines Mörders zu identifizieren, den Sie anscheinend nicht zu fassen imstande sind.«
Aus dem Augenwinkel sah ich Scully grinsen, doch als ich ihn anblickte, war das Grinsen verschwunden.
»Der Gentleman scheint sich zu fangen, Sir«, sagte er mit ausdrucksloser Miene.
»Bleibt ihm ja gar nichts anderes übrig«, erwiderte ich im gleichen Tonfall.
Draußen auf dem Gang ertönte der Lärm von Stimmen. Dr. Carmichael kam herein. Scully hastete wie üblich nach vorn, um ihm aus dem Straßenmantel und in den Kittel zu helfen.
»Guten Tag, mein lieber Ross«, begrüßte Carmichael mich. »Wie man hört, hat der Gentleman die Verstorbene identifiziert. Ich bin ihm draußen begegnet.«
»Isabella Marchwood«, sagte ich. »Wie wir bereits wussten.«
»Hm«, brummte Carmichael. »Das hier könnte Sie möglicherweise interessieren.« Er trat zu dem Marmortisch und schlug das bis zum Kinn der Toten reichende Laken noch weiter zurück.
Ein wenig unsicher trat ich an den Tisch. Ich gewöhne mich, wie es scheint, niemals daran. Die vertraute rote Linie zog sich über ihren Hals.
»Ich habe mir erlaubt, die Schnur zu entfernen«, sagte Carmichael. »Sie hatten sie ja bereits an ihrem Platz um den Hals der Toten gesehen, im Eisenbahnwaggon. Es gibt ein recht interessantes Detail.«
Er zog ein gefaltetes Blatt Papier hervor und klappte es auf. Zwei Stücke Schnur kamen zum Vorschein, identisch mit der Schnur um den Hals von Allegra Benedict. Carmichael blickte mich unter erhobenen buschigen Augenbrauen hervor an, während er darauf wartete, dass ich meine Beobachtung machte.
»Sie sind nicht miteinander verknotet«, sagte ich schließlich. »Im Gegensatz zu der anderen Schnur, nachdem Sie sie vom Hals der Toten geschnitten hatten.«
»Ganz recht. Sie sind nicht verknotet. Ich habe die Schnur durchtrennt, um sie vom Hals der Toten zu entfernen. Dabei fiel sie in zwei unterschiedlich lange Teile auseinander, wie Sie hier sehen. Sie war nicht doppelt verknotet wie beim ersten Mal. Damals vermutete ich, der Mörder wollte ganz sicher sein, dass sein Opfer nicht wieder aufwachte und davonkam. Diesmal machte er sich nicht die Mühe – oder vielleicht hatte er auch nicht die Zeit dazu, wenn er die Tat unterwegs in der Eisenbahn begangen hat. Er machte einen einfachen Knoten, zog ihn zu, bis er glaubte, dass sie tot war, dann ließ er sein Opfer liegen. Er hatte es eilig.«
»Ja«, sagte ich langsam, während ich auf die beiden unterschiedlich langen Stücke Schnur starrte. »Der Mord im Park, im dichten Nebel und der einsetzenden Dunkelheit war eine Sache. Aber im hellen Tageslicht, in einem Eisenbahnwaggon, wenn beim nächsten Halt jemand einsteigen konnte … das war sicherlich eine überstürzte Angelegenheit.«
Oder eine verzweifelte. Und dennoch … ich streckte die Hand aus und berührte eine der Schnüre mit den Fingerspitzen. »Ich mag Muster«, hörte ich mich laut zu Carmichael sagen. »Und in dieser Geschichte ist kein Muster, nur eine Anzahl von Vorkommnissen und Leuten, die an irgendeiner Stelle zusammenkommen und sich in verschiedene Richtungen voneinander entfernen.«
Carmichael stieß ein kurzes, unerwartetes Kichern aus. Er neigte nicht zu Humor, sodass ich ihn überrascht und fragend anstarrte.
»Haben Sie noch nie einen schottischen Folkloretanz gesehen, Inspector? Die Paare reichen sich die Hände, trennen sich, drehen sich, treten aufeinander zu, voneinander weg, wechseln den Platz, begeben sich ans Ende der jeweiligen Reihe und lösen dort ein anderes Paar ab … Wenn man es noch nie versucht hat und zum ersten Mal dabei ist, ist es verwirrend. Doch es steckt ein Muster dahinter, ganz sicher, und sobald ein Anfänger dieses Muster erst begriffen hat, ist er auf und davon und wirbelt fröhlich mit den anderen durch den Saal.«
»Wir hätten ihn längst finden müssen«, sagte Morris traurig. »Dann wäre die arme kleine Frau jetzt noch am Leben.«
Er sprach nur laut aus, was ich mir selbst schon ein Dutzend Mal vorgeworfen hatte seit dem Anblick von Isabella Marchwoods zusammengesunkenen Leichnam auf dem Sitz in diesem Zugabteil in Waterloo. Doch es hatte wenig Sinn, mich von seiner Niedergeschlagenheit anstecken zu lassen.
»Kopf hoch, Morris!«, ermahnte ich ihn. »Wir finden den Übeltäter.«
»Ich finde ja nicht einmal diesen Butler, Seymour«, grollte Morris. »Er scheint wie vom Erdboden verschluckt. Ich war in sämtlichen Londoner Vermittlungsagenturen für Hauspersonal. Ich glaube, ich kenne inzwischen die Wirkungsstätte von so ungefähr jedem Butler im gesamten Land, mit Ausnahme von Mortimer Seymour.«
»Ah«, sagte ich. »Vielleicht kann ich Ihnen ein Stück weiterhelfen.« Ich reichte ihm das Blatt, auf dem Benedict eigenhändig Namen und Anschrift der Agentur vermerkt hatte, die ihm ursprünglich Miss Marchwood vermittelt hatte. »Sie liegt etwas außerhalb von London, wie Sie bemerken werden, in Northwood. Falls er dort wegen einer Gesellschafterin angefragt hat, dann vielleicht auch deshalb, weil sie ihm zuvor bereits den Butler vermittelt hatten und er mit Mortimer Seymour sehr zufrieden war. So zufrieden, dass er, als der Butler seinen Haushalt verließ, vor Wut an die Decke gegangen ist. Vielleicht versuchen Sie es dort. Und noch etwas – finden Sie heraus, ob diese Agentur in ihren Unterlagen vermerkt hat, wer die nächsten Verwandten von Isabella sind. Sie müssen Unterlagen über all das Personal besitzen, das sie an das Establishment vermitteln.«
Morris nahm das Blatt und stieß einen Seufzer aus. »Wahrscheinlich kommt wieder nichts dabei heraus – genau wie bei all den anderen Agenturen, die ich im Lauf der Woche besucht habe«, sagte er.
Nach Morris’ düsterer Einschätzung unserer Situation war es eine Erleichterung, dass Lizzie und Bessie die schlechten Nachrichten einigermaßen gefasst aufnahmen, als ich sie den beiden am Abend überbrachte. Bessie zeigte, wie ich leider gestehen muss, sogar eine gewisse Aufregung, die mich an die neugierigen Gaffer im Bahnhof von Waterloo erinnerte.
»Was für eine schreckliche Geschichte! Die arme Miss Marchwood! In einem Zug, außerdem! Man stelle sich bloß vor! Meine Güte …!« Ihre Augen leuchteten vor Begeisterung.
Lizzie wurde ein wenig blasser. »Das ist ja furchtbar«, sagte sie leise. »Ich hatte solche Sorge um sie.« Sie zögerte. »Ich frage mich …«
»Ja?«, ermunterte ich sie.
»Ich habe mir schon am Sonntagabend Sorgen um ihre Sicherheit gemacht, weil sie vorhatte, vom Versammlungssaal aus allein und zu Fuß zum Bahnhof zu laufen, nach Einbruch der Dunkelheit. Sicher, die Straßen von London sind hell erleuchtet, aber sonntags sind nicht so viele Menschen unterwegs. Ich wundere mich nur, dass man sie nicht schon auf dem Weg zum Bahnhof verfolgt und unterwegs angegriffen hat. Insbesondere, wenn es das Phant…« Sie brach mit einem Seitenblick auf Bessie ab. »Doch niemand hat sie angegriffen«, fuhr sie nach kurzem Zögern fort. »Schließt das nicht jeden aus, der am Sonntagnachmittag im Saal war?«
»Sie hat ein paar Minuten draußen vor dem Saal mit dir gesprochen«, erinnerte ich sie. »Falls irgendjemand ihr gefolgt ist und euch beobachtet hat, so wurde er vielleicht verschreckt. Er hätte außerdem in seinem Versteck warten müssen, bis du und Bessie außer Sicht gewesen wärt, bevor er sich an die Verfolgung machen konnte. Und bis dahin hätte Miss Marchwood bereits einen beträchtlichen Vorsprung gehabt. Abgesehen davon herrscht in der Umgebung von Bahnhöfen meistens mehr Betrieb, und viele Leute sind unterwegs. Es war möglicherweise nicht so einfach, wie du glaubst.«
Lizzie schien nicht überzeugt. »Ich wünschte nur, ich wüsste, was Isabella Marchwood und Fawcett zu besprechen hatten.«
»Ich kann es mir ungefähr denken. Aber ich muss ganz sicher sein.« Ich warf ebenfalls einen bedeutungsvollen Blick auf die uns aufmerksam lauschende Bessie.
Fawcett und Miss Marchwood hatten wahrscheinlich über das Geld gesprochen, das Allegra Benedict dem Mann gegeben hatte. Er würde nicht gewollt haben, dass es bekannt wurde. Er würde versucht haben, Miss Marchwood das Versprechen abzunehmen, mit niemandem darüber zu reden. Sie hatte ihr Wort gehalten. Der Mörder hatte dafür gesorgt.
»Ich denke, was für ein gewaltiger Schock es für Mrs. Scott sein muss«, sagte meine Frau in diesem Moment langsam. »Sie und Miss Marchwood waren sehr engagiert bei der Durchführung der Temperenzveranstaltungen. Ich möchte eigentlich nicht, dass sie völlig unvorbereitet in der Zeitung davon liest. Ich könnte sie gleich morgen früh besuchen, bevor sie eine Gelegenheit hat, die Zeitung zu lesen, und ihr die Nachricht überbringen. Es wäre meine christliche Pflicht.«
»Sie wohnt in Clapham«, erinnerte ich Lizzie.
»Es ist nur ein Katzensprung von hier bis zum Bahnhof, und es gibt viele Zugverbindungen nach Clapham. Es ist keine weite Reise. Ich schätze, sie ist wohlbekannt, und es dürfte nicht schwierig sein, ihr Haus zu finden.«
»Ich habe ihre Adresse«, verriet ich ihr. »Ich habe sie in Angelis’ Auftragsbüchern gefunden.«
»Oh, das ist ja wunderbar!«, sagte meine Ehefrau strahlend, obwohl sie es bereits gewusst hatte. Ich hatte ihr davon erzählt, dass Angelis ein Gemälde in Clapham abgeliefert hatte.
»Ja, nicht wahr?«, erwiderte ich ein klein wenig sarkastisch. »Schön, wenn du unbedingt musst, dann fahr halt hin. Ich weiß, ich kann darauf vertrauen, dass du nichts ausplauderst.«
Meine Worte brachten mir einen missbilligenden Blick ein.
»Das Haus nennt sich Wisteria Lodge«, sagte ich hastig. »Meiner Meinung nach ein ziemlich versponnener Name für das Heim einer so grimmigen Person, wie du sie mir beschrieben hast.«
»Vielleicht sollte ich lieber mit Ihnen kommen, Missus«, meldete sich überraschend Bessie zu Wort. »In der Eisenbahn treibt ein Mörder sein Unwesen. Er könnte in Ihr Abteil springen und Sie erdrosseln! Wenn wir zu zweit sind, wird er sich nicht trauen. Und wenn der Strolch es dennoch versucht, springe ich ihn von hinten an und zerre ihn von Ihnen herunter.«
»Danke sehr, Bessie«, sagte Lizzie. »Ich weiß es wirklich zu schätzen, dass du mich beschützen willst. Doch ich glaube nicht, dass das notwendig sein wird oder dass ich mit einem Angriff rechnen muss.« Als sie Bessies trauriges Gesicht sah, ließ sie sich jedoch erweichen. »Allerdings darfst du mich gerne begleiten, wenn du unbedingt möchtest.«
Bessie strahlte meine Ehefrau an, bevor sie eilig, in beinahe lustiger gespielter Sorge die Mundwinkel wieder nach unten zog. »Das ist richtig, Missus. Vorsicht ist besser als Nachsicht!«