KAPITEL ACHT
Elizabeth Martin Ross
Als Bessie und ich am folgenden Sonntag im Saal der Temperenzbewegung eintrafen, begrüßte der kleine Mr. Pritchard mit seinen Schmalzlocken über der Stirn die Besucher. Er stutzte, als er mich bemerkte, doch er fasste sich schnell und eilte heran, um sich zu verbeugen.
»Du gütiger Himmel, Mrs. Ross! Das ist aber eine nette Überraschung. Sie sind uns herzlich willkommen, meine Liebe!«
»Sie haben nicht erwartet, mich zu sehen?«, fragte ich höflich.
»Nun ja«, antwortete Pritchard errötend. »Ich dachte – und ich gestehe gerne, dass ich mich geirrt habe –, ich dachte, Sie würden unsere Bewegung nicht recht gutheißen.«
»Ich kann mir beim besten Willen nicht erklären, wie Sie auf diesen Gedanken kommen, Mr. Pritchard«, antwortete ich und rauschte mit Bessie im Schlepptau an ihm vorbei.
Er starrte mir sichtlich nervös hinterher, doch dann kamen die nächsten Leute, und er musste sich um die Neuankömmlinge kümmern.
»Wird der Kinderchor wieder singen, was meinst du, Bessie?«, flüsterte ich.
»Ganz bestimmt«, antwortete Bessie sogleich. »Mr. Pritchard ist sehr stolz auf den Chor. Er ist sehr musikalisch.«
»Hat er dieses schauderhafte Liedchen komponiert, das die Kinder beim letzten Mal gesungen haben?«, wollte ich wissen.
»Keine Ahnung«, antwortete Bessie. »Ich kann ihn fragen.«
»Nein, nein, mach dir keine Umstände«, sagte ich zu ihr.
An der Tür entstand ein Tumult. Mr. Pritchard stolperte quasi rückwärts in seinen Bemühungen, die jüngsten Ankömmlinge zu begrüßen.
Zwei Ladys rauschten in den Saal, eine hinter der anderen. Die vordere war Mrs. Scott, immer noch mit der gleichen Kosakenmütze, doch diesmal mit einem purpurnen Rock und Mantel. Die Dame dahinter war in tiefer Trauer. Ein Schleier über einer schwarzen Haube verhüllte ihr Gesicht. Sobald sie im Saal war, schlug sie den Schleier nach hinten, und zum Vorschein kam ein von Trauer gezeichnetes Gesicht. Ich konnte außerdem erkennen, dass sie einen goldumrandeten Kneifer trug.
Ich spürte, wie sich Aufregung in mir ausbreitete. So beiläufig, wie ich nur konnte, wandte ich mich an Bessie: »Und das ist nicht zufällig Miss Marchwood?«
»Ja. Sieht sie nicht todtraurig aus?« Bessie stieß einen tief empfundenen Seufzer des Mitgefühls aus. »Die arme Miss Marchwood. Sie verliert demnächst ihre Anstellung, nicht wahr, Missus?«
»Vielleicht findet ihre Freundin Mrs. Scott eine andere Anstellung für sie. Bestimmt hat sie einen gewissen Einfluss in ihren Kreisen«, entgegnete ich.
»Ja. Bestimmt.« Bessies Stimmung hellte sich wieder auf.
Der Saal hatte sich unterdessen gefüllt. Diesen Sonntag schienen noch mehr Besucher gekommen zu sein, als beim letzten Mal. Mr. Walters händigte die Gesangbücher aus, und das Ritual folgte dem Muster des vergangenen Sonntags. Wir durften erneut den Chor der Kinder hören, die ein Lied mehr oder weniger des gleichen Inhalts wie am Sonntag zuvor zum Besten gaben. Anschließend wurden wir von Mr. Walters gebeten, den Prediger zu begrüßen, und Mr. Fawcett trat auf die Bühne.
Seine Ansprache folgte dem gleichen Schema. Er begrüßte uns einigermaßen freundlich, während sein Blick aus den faszinierenden aquamarinblauen Augen über die versammelte Zuhörerschaft glitt. Er verharrte kurz bei mir, und eine undefinierbare Gefühlsregung huschte über sein Gesicht, bevor sein Blick zur nächsten Reihe weiterglitt. Was war das gewesen? Überraschung? Amüsiertheit? Nein, dachte ich. Es ist Spott.
Schlagartig war aller Argwohn wieder da, den ich gegen den Mann hegte. Er wusste, dass er mich nicht umgarnt hatte wie Mrs. Scott, Miss Marchwood und all die anderen Ladys hier im Saal – sowie die sehr vereinzelten Männer. Sie alle hatte er mit seinem Charme und seiner Redekunst eingefangen. Ich war nicht von ihm gefesselt, und doch konnte ich nichts gegen ihn unternehmen. Keine Kritik, die ich gegenüber irgendjemandem im Saal äußerte, würde irgendetwas bewirken. Seine loyalen Anhänger würden sich im Gegenteil voller Entsetzen erheben, und man würde mich in Schimpf und Schande davonjagen. Meine Vorbehalte gegen diesen Mann wurden noch größer.
Er begann mit seiner Predigt über das vertraute Thema und illustrierte seine Botschaft mit mehreren dramatischen Geschichten von ruinierten Männern, Frauen, die ihre Ehre verloren hatten, und jeder Art von alltäglichem Desaster. Miss Marchwood schien sehr bewegt. Sie setzte ihren Kneifer ab, um sich mit einem Taschentuch die Augen zu betupfen. Mrs. Scott beugte sich zu ihr hinüber und murmelte ein paar Worte, die mir allerdings nicht als tröstend erschienen. Stattdessen schien sie die arme Frau dazu aufzufordern, sich zusammenzureißen und nicht die Contenance zu verlieren. Miss Marchwood nickte, steckte das Taschentuch weg und richtete den Blick konzentriert auf Mr. Fawcett, das Gesicht eine Maske versteinerten Unglücks.
Als es Zeit wurde für den Tee, begab ich mich an den Tisch mit dem Samowar. Ich wollte mit Miss Marchwood sprechen, doch Fawcett war vom Podium gekommen und hatte sie in einer abgelegenen Ecke des Saals in eine angeregte Unterhaltung verwickelt. Auch hier hatte ich nicht das Gefühl, dass er tröstende Worte für sie fand. Auch er schien sie genau wie zuvor Mrs. Scott aufzufordern, sich zusammenzureißen und Haltung zu bewahren. Miss Marchwood lauschte seinen Darlegungen und nickte ergeben.
»Oh, Mrs. Ross. Wir hätten nicht erwartet, Sie noch einmal bei uns zu sehen«, sagte eine kühle Stimme dicht neben mir.
Ich blickte auf und sah Mrs. Scott. Sie hielt mir eine Tasse mit Tee hin.
Ich nahm sie an. »Danke sehr. Aber warum denn nicht?«
Die Direktheit meiner Frage schien sie zu verblüffen. Sie zögerte, bevor sie mit der gleichen kühlen Stimme antwortete. »Ich hatte beim letzten Mal den Eindruck, vergangene Woche, dass Sie unsere Versammlungen ganz und gar nicht gutheißen.«
»Ich habe nicht gutgeheißen, dass Bessie Flugblätter verteilt«, konterte ich. »Das habe ich Mr. Fawcett auch zu verstehen gegeben.«
»War das Ihr einziger Einwand?«
In ihrem Blick war etwas, das zugleich distanziert und erbarmungslos wirkte. Ich fühlte mich an eine Katze erinnert, die mit einer Maus spielt. Nun, sie würde sehr bald merken, dass ich ihr nicht den Gefallen zu tun bereit war, die Rolle der Maus zu übernehmen.
»Warum? Sollte es noch mehr geben?«, fragte ich in einem Tonfall, der genauso kühl war wie der ihre.
Ihre Miene nahm einen Ausdruck offener Abneigung an. »Selbstverständlich nicht!«, sagte sie barsch und wandte sich zur Seite. »Mrs. Gribble! Wie weit ist das heiße Wasser in diesem Samowar?«
Ich nutzte die Gelegenheit für einen kurzen Blick in die Ecke, wo Miss Marchwood und Mr. Fawcett sich unterhalten hatten. Zu meiner Überraschung waren beide verschwunden.
Mrs. Scott hatte mir den Rücken zugewandt. Ich ärgerte mich über mich selbst – es wäre viel geschickter gewesen, wenn ich mich mit dieser abstoßenden Person angefreundet hätte. Mit ein wenig Glück hätte ich eine Einladung zu ihr nach Hause und zu einer ihrer »Swarrees« erhalten. Wie die Dinge standen, würde es nun wohl niemals dazu kommen.
Sie mochte mich nicht. Warum eigentlich? Weil ich die Unverfrorenheit besessen hatte, mich bei Fawcett persönlich über das Austeilen der Flugblätter zu beschweren? Weil sie erkannt hatte, dass ich alles andere als beeindruckt war von diesem Mann? Sie war klug genug, um es zu bemerken, so viel stand fest. Oder lag es daran, dass ich mit dem Mann verheiratet war, der mit der Aufklärung des Mordes an Miss Marchwoods Herrin betraut worden war, und dass sie mich als Spionin durchschaut hatte? Skandal!, dachte ich säuerlich. Das war die Antwort. Sie fürchtete den Skandal, und dass irgendjemand die Treffen der Bewegung in Verruf bringen könnte und auf diese Weise Fawcetts vielgelobte sogenannte Wohltätigkeitsarbeit stören. Ich war nicht willkommen, und sie legte Wert darauf, mir dies deutlich zu zeigen. Der Mord an Allegra Benedict durfte unter keinen Umständen seinen Schatten über die Treffen der Temperenzbewegung werfen.
Die ersten Besucher brachen bereits wieder auf. »Komm mit, Bessie!«, befahl ich, und wir schlüpften vor Mrs. Scott nach draußen. Ein Stück weit die Straße hinunter führte ein weiter Torbogen in einen überbauten Durchgang mit Häusern zu beiden Seiten. Hinter dem Durchgang befand sich ein Stallhof, der von ein paar im Wind schwingenden Laternen erhellt wurde. Dazwischen, im Durchgang selbst, herrschte tiefe Finsternis. Ich zog die widerstrebende Bessie in die dunklen Tiefen, wo wir uns nervös und ängstlich aneinanderdrängten, um uns gegenseitig zu beruhigen, während wir warteten.
»Mir gefällt es hier nicht, Missus«, murmelte Bessie. Das Rascheln ihrer Petticoats verriet mir, dass sie ihre Röcke gerafft hatte. »Es stinkt furchtbar nach Pferden. Können wir nicht draußen auf der Straße warten?« Ihre Stimme zitterte.
»Ich muss mit Miss Marchwood reden, aber sie ist noch nicht rausgekommen, also muss ich weiter warten. Ich habe Mr. Ross versprochen, dass uns niemand beobachten würde, wenn wir reden. Außerdem ist der Gestank nach Pferden vielleicht unangenehm, Bessie, aber er tut dir bestimmt nichts.«
»Aber die Ratten!«, warnte Bessie mit unheilschwangerer Stimme. »In Ställen gibt es immer Ratten, und sie krabbeln einem in die Röcke!«
Unwillkürlich spitzte ich die Ohren, um auf das Rascheln von Rattenpfoten in der Dunkelheit zu lauschen.
»Rede keinen Unsinn!«, befahl ich so entschieden, wie ich konnte.
»Und was, wenn sie uns sieht, Missus?«, zischte Bessie als Nächstes.
»Dann wird es ihren Argwohn bestätigen. Aber warum sollte sie in unsere Richtung sehen? Abgesehen davon, es ist viel zu dunkel hier, als dass sie etwas erkennen könnte.«
Draußen auf der Straße wurde es rasch dunkler. Der Nachtwächter hatte seine Runde bereits hinter sich und die Gaslaternen angezündet, doch sie warfen keinen hellen Lichtschein bis zu uns. Hinter uns war das Stampfen und gelegentliche leise Schnauben von Pferden in ihren Stallboxen zu hören. Pferdeschweiß, Dung, Sattelseife und Huföl mischten sich zu einem Aroma, das man kaum ignorieren konnte. Spürten die Tiere, dass wir hier waren? Hatte unsere Anwesenheit ihre Unruhe hervorgerufen? Oder lauerte irgendetwas anderes in der Dunkelheit?
»Ich möchte außerdem wissen, ob Mrs. Scott wieder Mr. Fawcett in ihrer Kutsche mitnimmt. Sie wartet jedenfalls schon vor der Tür«, murmelte ich, wie um mein Tun vor mir selbst zu rechtfertigen, wenn schon nicht vor Bessie. Meine Augen gewöhnten sich immer mehr an die Dunkelheit, und ich konnte die Wände der Häuser zu beiden Seiten ausmachen. Trotzdem war es immer noch ungemütlich dunkel.
Glücklicherweise kam genau in diesem Moment Mrs. Scott aus dem Saal, mit Mr. Fawcett im Schlepptau. Die beiden warfen nicht einen Blick in unsere Richtung, als Fawcett ihr beim Einsteigen in die Kutsche half und anschließend selbst ins Innere kletterte. Der Kutscher klappte die Stufe ein und schloss die Tür, doch als er auf seinen Kutschbock steigen wollte, gab es eine Unterbrechung.
Plötzlich kam Miss Marchwood aus dem Saal gerannt. Sie eilte zur Kutsche, als der Kutscher gerade losfahren wollte, und packte den Rahmen des geöffneten Fensters, als Mrs. Scott das Fenster gerade nach oben schieben wollte.
»Jemima, ich muss mit Ihnen reden. Bitte!«
Ich sah, wie sich Mrs. Scott nach vorn in Richtung Fenster beugte, und hörte ihre Erwiderung.
»Das ist jetzt nicht der Augenblick, Isabella. Besuchen Sie mich in Clapham. Kutscher, fahren Sie los!«
Die Kutsche mit den beiden Fahrgästen ratterte los, und Miss Marchwood stand wie ein begossener Pudel auf dem Pflaster und starrte hinterher.
»Ein paar Münzen, Lady? Für eine heiße Suppe, gegen die Kälte.«
Ich zuckte zusammen, und Bessie schrie auf. Die Bitte, geäußert mit heiserer Stimme, schien direkt aus dem Boden unter meinen Füßen zu kommen. Zu all den anderen Gerüchen war plötzlich der von ungewaschenem Menschen und schalem Bier hinzugekommen. Was ich für einen Sack mit Abfall gehalten hatte, in den Schatten an der Hauswand und dem rückwärtigen Torbogen, hatte sich in unsere Richtung bewegt und bettelnd eine bleiche, klauenartige Hand ausgestreckt. Weder Bessie noch ich hatten bemerkt, dass ein armer Obdachloser sich den Torbogen als Schlafstätte ausgesucht hatte.
Ich kramte nach ein paar Pennys in meiner Tasche und ließ sie in die dürre Hand fallen. Dann rannte ich mit Bessie dicht auf den Fersen durch den Torbogen zurück auf die Straße und näherte mich der einsamen Gestalt von Miss Marchwood, als diese sich gerade zum Gehen wenden wollte.
Ich rief ihren Namen. »Miss Marchwood! Bitte warten Sie!«
»Ja?«, antwortete sie automatisch, ohne auf meine Bitte einzugehen. Sie setzte sich mit forschen Schritten in Bewegung, eindeutig nicht in der Stimmung für belanglose Unterhaltungen. Ich musste beinahe rennen, um mich neben ihr zu halten, während ich auf das verschleierte Gesicht einredete.
»Mein Name ist Ross. Sie haben meinen Mann kennengelernt. Er ermittelt im Todesfall Ihrer verstorbenen Herrin.«
Bei diesen Worten blieb sie stehen. Sie schlug den Schleier zurück, und ich bemerkte die aufkeimende Panik in ihren schlichten Gesichtszügen, deutlich erkennbar im Licht der Gaslaternen.
»Was wollen Sie?« Ihre Erregung war so heftig, dass der Kneifer von ihrer Nase fiel und an dem schwarzen Seidenband baumelte, mit dem er am Mantelkragen befestigt war.
»Sie müssen sich nicht erschrecken!«, versuchte ich sie zu beruhigen. »Ich wollte eigentlich nur mein Beileid ausdrücken. Es ist ein trauriger Verlust. Eine ganz furchtbare Erfahrung für Sie.«
»Was machen Sie hier?«, fragte sie, indem sie mit dem Kneifer hantierte und ihn zurück auf ihre Nasenwurzel klemmte. Meine Worte des Mitgefühls waren an ihr vorbeigegangen, als hätte ich sie nicht ausgesprochen.
»Ich habe Bessie zu diesem Treffen begleitet. Bessie ist unsere Haushaltshilfe. Wir waren ein wenig weiter hinten, im rückwärtigen Teil des Saals.«
»Bessie, ah, richtig, Bessie …« Isabella Marchwood starrte Bessie unsicher an. »Ja. Sie ist ein sehr gutes Mädchen.«
»Wenn es irgendetwas gibt, womit ich Ihnen helfen kann …«
»Sie?«, rief sie aus. »Nein, nichts. Gar nichts. Niemand kann helfen!«
»Bitte!«, bedrängte ich sie. »Haben Sie doch mehr Vertrauen in die Polizei. Sie wird den Mörder finden.«
»Den Mörder finden?«, kreischte sie und starrte mich erneut aus wilden Augen an. »Wozu soll denn das gut sein? Es bringt die arme Allegra nicht wieder zurück.«
»Nein, selbstverständlich nicht. Aber der Mörder wird vor einem Gericht zur Rechenschaft gezogen und seine Strafe erhalten.«
»Vor einem Gericht?«, kreischte sie. »Wie kann ein Gericht irgendetwas anderes als noch mehr Schaden anrichten? Der Gerichtsraum bis zum Bersten voll mit vulgären Gaffern, jedes grausige Detail enthüllt und der arme Mr. Benedict gezwungen dazusitzen und sich alles anzuhören! Von den Zeitungen erst gar nicht zu reden, als wäre es nicht so schon schlimm genug. Haben Sie gesehen, was die Zeitungen schreiben?«
»Ja, habe ich«, gestand ich. Ich war am Tag zuvor tatsächlich so weit gegangen, eine Abendausgabe eines Blattes zu kaufen, das über den Mord an Allegra Benedict und das Flussphantom berichtete, zusammen mit einer dramatischen Illustration, die eine entsetzt zurückweichende Frau zeigte, während eine Kreatur in einem Leichengewand mit grässlich langen Klauen nach ihr griff. Ich hatte Ben den Artikel gezeigt, als er nach Hause gekommen war, und ich möchte lieber nicht wiedergeben, was er zu dieser Geschichte zu sagen hatte.
»Eine Gerichtsverhandlung würde Reporter in Scharen anziehen. Es würde nur alles noch viel schlimmer machen …«, wiederholte Isabella Marchwood verzweifelt. Dann presste sie die Lippen zusammen. Nach einem Moment redete sie weiter, diesmal ein wenig ruhiger: »Hat der arme Mr. Benedict denn nicht schon genug gelitten?«
»Denken Sie nicht, er würde noch mehr leiden, wenn er wüsste, dass der Mörder ungestraft davonkommt?«, entgegnete ich.
Sie schüttelte den Kopf. »Sie verstehen das nicht. Wie können Sie auch?« Sie wandte sich um und ging die Straße hinunter davon.
Ich eilte ihr hinterher. »Miss Marchwood!«, sagte ich drängend. »Bitte glauben Sie mir, ich möchte Ihnen helfen. Wenn es etwas gibt, von dem Sie glauben, dass Sie es meinem Mann oder irgendeinem Polizeibeamten nicht sagen können, aber vielleicht einer anderen Frau, mir zum Beispiel …« Ich verstummte.
Sie hielt inne und fixierte mich mit einem so eisigen Blick, dass ich mich an ihre Freundin Jemima Scott erinnert fühlte. Obwohl – welche Freundin mit einer Kutsche ließ eine andere Frau allein und zu Fuß den Weg zum Bahnhof von Waterloo laufen? Es wäre kein großer Umweg gewesen für Mrs. Scott, und sie hätte Miss Marchwood ohne Weiteres zu sich und Mr. Fawcett in die Kutsche nehmen können.
»Ich habe Ihnen nichts zu sagen. Bitte halten Sie mich nicht länger auf. Ich muss meinen Zug nach Egham erreichen.« Sie zog den Schleier wieder vor ihr Gesicht.
»Aber bis nach Waterloo ist es von hier aus fast einen Kilometer!«, protestierte ich. »Gibt es denn keinen Kutschenstand in der Nähe?«
»Ich bin daran gewöhnt zu laufen«, sagte sie und marschierte erneut in forschem Tempo los.
»Dann erlauben Sie mir und Bessie wenigstens, Sie bis zum Bahnhof zu begleiten. Es ist bereits recht dunkel …«
»Ich brauche Ihre Gesellschaft nicht, Mrs. Ross. Gute Nacht.«
Sie eilte davon, und es war zwecklos, ihr hinterherzurennen und noch länger zu argumentieren.
Bessie und ich machten uns durch die von Gaslaternen erleuchteten Straßen auf den Heimweg. Ich war so sehr in Gedanken versunken, dass ich zusammenschrak, als sie sich mit einer Frage an mich wendete.
»Sie mögen Mr. Fawcett nicht, hab ich recht, Missus?«
»Ich halte Mr. Fawcett für einen Scharlatan«, antwortete ich unverblümt. »Es tut mir leid, wenn ich dir damit Kummer bereite, Bessie, aber es ist nun einmal so. Seine vorgebliche Sache ist zweifellos eine gute. Ich weiß, dass Alkohol und Trunksucht die Ursache für alle möglichen Unglücke und Verbrechen sind. Aber Männer wie er sind schnell darin, sich an eine gute Sache zu heften und sie für ihre eigenen Zwecke auszunutzen. Genau das ist es, was der gute Mr. Fawcett getan hat. Er schadet der guten Sache des Kampfes gegen die Trunkenheit, anstatt ihr zu helfen, und das ist unverzeihlich.«
»Schon komisch«, sagte Bessie. »Ich finde ihn gar nicht mehr so nett wie bis vor Kurzem. Er ist nicht zu Ihnen gekommen und hat mit Ihnen geredet, nicht wahr, Missus? Das war nicht sehr höflich von ihm.«
»Er war viel eifriger darauf bedacht, sich alleine mit Miss Marchwood zu unterhalten, und ich würde eine Menge dafür geben, wenn ich wüsste, was er gesagt hat.«
»Sie ist in Trauer«, sagte Bessie schockiert. »Selbstverständlich wollte er ihr sein Beileid ausdrücken, die richtigen Sachen sagen, Sie wissen schon, was Geistliche zu solchen Zeiten eben sagen.«
»Ich glaube nicht, dass er ein ›Geistlicher‹ ist, wie du es nennst. Es würde mich nicht überraschen, falls er sich selbst zu dieser theologischen Qualifikation verholfen hat, welche auch immer das sein mag. Und ich glaube auch nicht, dass er Miss Marchwood Trost und Unterstützung geben wollte. Wenn du wirklich wissen möchtest, was ich denke, Bessie – meiner Meinung nach ist er erschrocken, dass ein Mitglied seiner Anhängerschaft, sprich Miss Marchwood, in eine Mordermittlung hineingeraten ist. Die Ermittlungen der Polizei gehen in derartigen Fällen sehr weit. Alle möglichen Spuren werden verfolgt. Manche führen in Sackgassen, andere bieten mit Glück neue Hinweise, und wiederum andere bringen Dinge ans Licht, die den Betroffenen unangenehm sind. Mr. Fawcett hat irgendetwas zu verbergen, ganz sicher. Ich sage nicht, dass er etwas mit dem Mord zu tun hat – glaube das nicht, Bessie. Aber wenn ein Mann etwas zu verbergen hat, dann mag er es nicht, wenn Fragen gestellt werden, aus Angst vor dem, was sie möglicherweise ans Licht bringen.«
Das Warten im Torbogen, während Mrs. Scott davongefahren war, und die sich daran anschließende, wenig zufriedenstellende Unterhaltung mit Miss Marchwood draußen vor dem Saal hatten eine gute halbe Stunde Zeit in Anspruch genommen. Was bedeutete, dass es unterdessen noch dunkler geworden war. Anständige Menschen saßen längst zu Hause vor dem eigenen Kamin. Bessie und ich wanderten durch Straßen, die nahezu leer waren – mit Ausnahme derjenigen, die unterwegs waren für ein nächtliches Amüsement. Ich marschierte mit forschem Schritt, begierig, so schnell wie möglich nach Hause zu kommen.
»Der Inspector fragt sich ganz bestimmt, wo wir so lange bleiben, Missus«, sagte Bessie, während sie neben mir hertrippelte.
»Ich bedaure nur, dass wir nicht mehr herausgefunden haben, was wir ihm erzählen können«, erwiderte ich. »Wenn ich Miss Marchwood doch nur hätte überreden können, sich mir anzuvertrauen! Aber vielleicht bekomme ich noch eine Gelegenheit.«
Auf der anderen Straßenseite, an der Ecke, hatte sich ein Pub mit Kundschaft gefüllt. Menschen drängten sich im Eingang, und aus dem Innern ertönten das Geräusch eines Klaviers und der Lärm von Stimmen. Plötzlich gab es einen Tumult. Stimmen wurden laut, Frauenstimmen, und ein wütender Streit entbrannte. Glas barst, Stühle kippten.
»Kommen Sie weiter, Missus«, drängte Bessie und zerrte an meinem Arm. »Es gibt bestimmt gleich eine Schlägerei!«
Sie hatte recht. Die Tür flog auf, und zwei weibliche Gestalten wurden von einem stämmigen Barmann unter dem wilden Gelächter der übrigen Gäste unsanft auf die Straße gesetzt.
»Und wagt es nicht, wieder reinzukommen!«, brüllte er die beiden an. »Tragt euren Streit woanders aus!«
Die Frauen ignorierten ihn völlig. Sie waren viel zu sehr mit ihrem Gezänk beschäftigt, warfen sich Anschuldigungen und Beleidigungen an den Kopf und fluchten dabei wie die Soldaten, schwangen die Fäuste, kratzten und bissen und zerrten an ihren Kleidern.
»Warum kommt keiner von den Männern nach draußen und trennt die beiden?«, fragte ich.
»Es sind Straßenmädchen, Missus«, erklärte Bessie. »Sie zanken ständig wegen irgendwas. Eine der beiden war wahrscheinlich im Revier der anderen.«
»Revier?«, fragte ich.
»Ja, Missus, Revier. Sie teilen die Straßen und Pubs untereinander in Reviere auf. Eine der beiden hat wahrscheinlich versucht, der anderen die Kundschaft wegzunehmen. Das ist nichts für Sie, Missus!«, erklärte Bessie todernst. »Kommen Sie, verschwinden wir lieber von hier!«
Doch in diesem Augenblick rief eines der keifenden und zankenden Mädchen: »Sieh nur, was du getan hast! Meine Federn! Du hast meine schönen Federn geknickt!«
Sie hatten sich vorübergehend voneinander gelöst und standen sich einen Schritt voneinander entfernt gegenüber, beide außer Atem und fürs Erste außerstande, den Kampf fortzusetzen. Eine der beiden hielt einen lächerlich kleinen Hut vor sich mit einem übel zugerichteten Strauß grell gefärbter Federn. Das unbedeckte Haar hatte sich gelöst und hing ihr wirr bis auf die Schultern. Im Licht der Kneipenbeleuchtung, das durch die Fenster auf die Straße fiel, konnte ich erkennen, dass die Haare grellrot schimmerten.
Zu Bessies Bestürzung rannte ich quer über die Straße auf die Rothaarige zu. »Daisy!«, rief ich. »Daisy Smith!«
Die Rothaarige schenkte mir keinerlei Beachtung; sie streckte noch immer der anderen ihren beschädigten Hut hin. Ihre Miene war von Wut verzerrt und von etwas, das ich nur als Blutdurst zu beschreiben vermag.
»Dafür wirst du bezahlen, Lily Spraggs! Das war mein bester Hut!«
So groß war die Wut und der Durst nach Rache in ihrem Gesicht und ihrer Stimme und die offensichtliche Absicht, der anderen ernsthaften Schaden zuzufügen, dass Lily Spraggs sich klugerweise für den besseren Teil der Tapferkeit entschied und flüchtete.
Die Rothaarige stand allein auf dem Schlachtfeld und murmelte wütend vor sich hin, während sie ihren Hut begutachtete und sich bemühte, die gebrochenen Federn wieder zu richten.
»Daisy Smith! Sie sind doch Daisy Smith, oder nicht?« Ich musste beinahe brüllen, um ihre Aufmerksamkeit zu erhaschen.
Endlich blickte sie auf und sah von Bessie zu mir und wieder zu Bessie. »Wer will das wissen?«, verlangte sie zu erfahren und stemmte herausfordernd die Hände in die Hüften. »Und wer sind Sie überhaupt?«
Ich erschrak, als mir klar wurde, dass sie sich auf den nächsten Kampf vorbereitete. Bessie packte mich beim Arm und zog mich sicherheitshalber ein paar Schritte zurück.
»Missus! Lassen Sie sie!«
Daisy rückte nach. »Ich habe Lily Spraggs in die Flucht geschlagen, und ich schaffe euch beide auch noch, wenn es sein muss! Ich arbeite seit fast einem Jahr in diesem Pub! Ich hab gute Stammkunden da drin! Ihr drängt euch da nicht rein, habt ihr das kapiert?« Sie zögerte. »Obwohl, wenn ich euch so ansehe, angezogen wie für eine Beerdigung – was glaubt ihr denn, was für Geschäfte ihr da drin machen wollt?«
Das war zu viel für Bessie, die wie ein kleiner Vulkan hochging. »Hören Sie! Ich bin ein anständiges Mädchen, und meine Missus ebenfalls! Das heißt, sie ist eine anständige verheiratete Lady!«
»Ach, tatsächlich?«, entgegnete Daisy sarkastisch. »Und warum hängt ihr beide dann hier draußen vor dem Pub herum? Und du – du warst wohl die Letzte in der Schlange, als der liebe Gott gutes Aussehen verteilt hat, eh?«
Ich schlang beide Arme um Bessie, damit sie sich nicht auf Daisy stürzen und die Rauferei von Neuem und mit einer neuen Teilnehmerin beginnen konnte.
»Ich bin Elizabeth Ross«, ächzte ich, während ich all meine Kräfte zusammennehmen musste, um die sich windende Bessie festzuhalten. »Ich glaube, Sie kennen meinen Mann bereits und sind ihm am vorletzten Samstag – halt still, Bessie! – auf der Waterloo Bridge begegnet, im dichten Nebel. Inspector Benjamin Ross. Nein, nein, laufen Sie nicht weg, bitte!«
Daisy war zurückgewichen und wandte sich ab, um zu flüchten. Ich ließ Bessie los und setzte ihr hinterher.
Hinter mir hörte ich Bessie rufen. »Wenigstens haben meine Haare ihre natürliche Farbe, und die kommt bestimmt nicht aus einer Flasche Henna!«
»Daisy! Warten Sie!«, ächzte ich, während ich hinter dem flüchtenden Straßenmädchen herrannte. Hinter mir vernahm ich Bessies tappende Schritte und ihre zunehmend verzweifelten Bitten umzukehren. »Mein Mann möchte Sie unbedingt sprechen, hören Sie! Er untersucht einen Mordfall. Sie sind diesem Flussphantom schon einmal begegnet …«
Daisy blieb so unvermittelt stehen, dass ich gegen sie prallte. Bessie holte uns ein und schob sich hastig zwischen uns, um mich zu schützen. Daisy musterte sie verächtlich, bevor sie mich mit geschürzten Lippen musterte. »Halten Sie mal«, sagte sie schließlich und reichte mir ihren Hut.
Ich begriff, dass sie ohne ihren geliebten Hut nirgendwo hingehen würde und demzufolge nicht vorhatte, erneut zu flüchten. Stattdessen begann sie, ihr unordentliches Haar zu richten und wieder hochzustecken. »Die meisten Nadeln sind rausgefallen!«, schimpfte sie dabei leise. Schließlich nahm sie ihren Hut wieder aus meinen Händen und untersuchte ihn untröstlich. »Sieh sich das einer an! Die Hutnadel ist ebenfalls verschwunden!«
»Ich habe eine Hutnadel, warten Sie, Sie können sie haben«, sagte ich hastig. Ich zog die Nadel heraus und reichte sie ihr.
Daisy drehte sie in diese und jene Richtung und bemerkte anerkennend: »Sie hat einen silbernen Knopf an einem Ende. Das ist echt schick, meine Güte.« Sie befestigte den kleinen Hut wieder auf ihrem Kopf. »Sitzt er gerade?«
»Ja«, versicherten Bessie und ich gemeinsam. »Er sitzt perfekt.«
Daisy verschränkte die Arme und fixierte mich mit einem harten Blick. »Sie nehmen mich nicht auf den Arm, Lady? Sie sind tatsächlich mit diesem Kerl verheiratet, dem ich vorletzten Samstag im Nebel auf der Brücke begegnet bin?«
»Allerdings. Und er möchte dringend mit Ihnen über dieses ominöse Flussphantom reden. Sie kennen auch dieses andere Mädchen, das die Kreatur klar und deutlich gesehen hat. Mein Mann würde sich auch gerne mit ihr unterhalten, aber er kennt ihren Namen nicht.«
Daisy biss sich auf die Unterlippe, bevor sie antwortete. »Ich habe von der Frau gehört, die im Green Park ermordet wurde«, sagte sie verschlagen. »Ihr Mann glaubt also, dass das Phantom aus der Themse dahintersteckt? Es wäre das erste Mal, dass es sich so weit vom Wasser entfernt, meines Wissens. Die anderen Mädchen, sie sind ihm alle am Wasser begegnet, genau wie ich, am Abend, bevor ich mit Ihrem Mann zusammengerannt bin. So ein verdammtes Pech war das.«
»Es war in der Tat großes Pech«, pflichtete ich ihr bei. »Sie hatten Glück, dass Sie dem Flussphantom entkommen sind.«
»Nein! Es war verdammtes Pech, dem Gesetz in die Finger zu rennen!«, schnappte Daisy. »Er hat mir nicht geglaubt, das konnte ich spüren. Ich bin eben ein Nichts und Niemand. Aber jetzt, nachdem irgendeine reiche Lady erwürgt wurde, sieht die Sache plötzlich ganz anders aus. Jetzt heißt es von überall her: ›Wir müssen dieses Phantom aus der Themse finden!‹« Daisy stieß ein sarkastisches Kichern aus.
»Mein Ehemann ist nicht sicher, dass dieses Phantom der Mörder von Mrs. Benedict ist«, widersprach ich vorsichtig. »Trotzdem möchte er es unbedingt finden. Wenn Sie ihm dabei irgendwie helfen können …?«
»Ich bin nicht daran interessiert, der Polizei zu helfen«, unterbrach sie mich. »Es endet doch immer nur damit, dass sie einem Scherereien machen. Deswegen sag ich Ihnen jetzt das Gleiche, das ich schon Ihrem Kerl gesagt habe. Ich gehe zu keiner Polizeiwache, nicht mal in die Nähe.«
»Dann kommen Sie doch mit zu uns nach Hause. Es ist nicht weit von hier, und mein Mann ist inzwischen auch schon da«, flehte ich sie an.
»Wird er mir meine Zeit bezahlen?«, fragte Daisy nach kurzem Überlegen.
»Ich bin sicher, das wird er. Oder wenn nicht, dann tue ich es«, versprach ich ihr.
Ein spitzbübisches Grinsen erschien auf ihrem Gesicht. »Ehrlich, wird er nicht ziemlich dumm aus der Wäsche gucken, wenn Sie mit mir im Schlepptau aufkreuzen? Das lass ich mir nicht entgehen. Und erst die Nachbarn!« Sie kicherte heiser. »Nur zu, Lady. Gehen Sie voraus, ich folge Ihnen. Ich bin Ihnen dicht auf den Fersen.«
»Wissen Sie was, Missus?«, murmelte Bessie, nachdem wir uns alle drei in Bewegung gesetzt hatten. »Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist. Wir sollten sie durch den Hintereingang ins Haus bringen, durch den Hof und die Küche. Dann sehen die Nachbarn nichts, und wenn sie in der Küche bleibt, kann sie auch nichts stehlen.«
»Hey! Das hab ich gehört!«, protestierte Daisy.
Auf der Rückseite unserer Häuserreihe befanden sich die Gärten, die von einer hohen Mauer, in die Türen eingelassen waren, begrenzt wurden. Hinter der Mauer verlief eine Gasse, die hauptsächlich von Kohlenträgern beim Anliefern von Brennstoff benutzt wurde, damit sie nicht von der Straße aus durch das ganze Haus laufen mussten. Durch diese Gasse brachten wir Daisy, über den Pfad zwischen Kohlenbunker und Außentoilette und durch die Hintertür in die Küche.
Als wir drinnen waren, stieß Bessie einen erleichterten Seufzer aus. »Meine Güte, ich hatte Angst, jemand könnte aus dem Fenster sehen und uns bemerken.«
»Mich bemerken, soll das wohl heißen.«, sagte Daisy. Sie blickte sich um und setzte sich an den Küchentisch. »Das ist sehr gemütlich hier, ich muss schon sagen.«
Bessie verschränkte die Arme vor der Brust und starrte Daisy streitlustig an. »Ich weiß genau, wie viele Löffel wir haben«, sagte sie in finsterem Ton.
»Das reicht jetzt, Bessie!«, unterbrach ich sie hastig. »Ich gehe Mr. Ross holen.«
Ich muss gestehen, ich genoss den Augenblick, als ich Ben weckte, der in seinem Sessel vor dem Kamin eingedöst war, und ihm mitteilte, dass wir Besuch hätten.
»In der Küche, Ben. Es ist dieses Mädchen, Daisy Smith, die du so dringend wiederfinden wolltest.«
Bens Unterkiefer klappte hinunter. »Was? Wo hast du sie gefunden?« Doch er war bereits aufgesprungen und rannte in Richtung Küchentür, noch während er redete.
Daisy saß immer noch am Tisch, und Bessie hatte sich mit verschränkten Armen neben ihr aufgebaut.
»Warum machst du nicht Tee für uns alle, Bessie?«, schlug ich vor.
»Was denn, ich?«, krächzte sie. »Ich soll Tee machen für jemanden wie die da?« Sie zeigte mit dem Finger auf Daisy.
»Ich mag ihn heiß und stark«, sagte Daisy gehässig. »Mit zwei Stückchen Zucker in der Tasse.«
»Bitte, Bessie!«, sagte ich hastig. »Wir werden uns hinterher alle besser fühlen.«
Bessie stolzierte zum Herd und nahm den Kessel herunter.
»Sie haben sicher die Neuigkeiten gehört, Daisy – über den Frauenleichnam, den man im Green Park gefunden hat?«, wandte sich Ben an unseren Besuch.
»Dann hat er sie also umgebracht, wie? Das Phantom aus der Themse?«
»Es wäre möglich«, räumte Ben vorsichtig ein. »Aber bevor ich dieses Phantom nicht gefunden habe, kann ich nichts mit Bestimmtheit sagen.«
»Ihr Bullen redet immer so gesalbt daher«, beobachtete Daisy. »Erst recht die zivilen von Ihrer Sorte, oder nicht? Was soll das heißen, nichts mit Bestimmtheit sagen? Sind Sie am Ende mit Ihrem Latein oder was?«
»Wenn Sie so wollen – ja, Daisy, wir sind am Ende mit unserem Latein. Deswegen muss ich unbedingt mit dem Mädchen reden, das das Phantom schon einmal gesehen hat. Ich muss ganz genau wissen, wie er vorgegangen ist, seinen Modus Operandi …«
»Was soll das schon wieder heißen, eh? Haben Sie ein Wörterbuch verschluckt, oder was?«
»Verzeihung.« Ben lächelte sie zerknirscht an. »Ich meine, ich muss wissen, was er genau macht, nicht nur bei diesem anderen Mädchen, auch was er bei Ihnen getan hat. Sie sagen, er hätte Ihnen die Hände um den Hals gelegt?«
»Allerdings«, sagte Daisy. »Widerlich kalte, klamme Finger hatte er!«
»Er hat nicht versucht, Ihnen eine Schnur um den Hals zu legen?«
»Nein, sag ich doch! Er hatte widerliche kalte Finger, wie von einem Toten!«
»Und dieses andere Mädchen? War es bei ihr genauso?«, wollte Ben wissen.
»Ich denke schon«, sagte Daisy. »Sie müssen sie schon selbst fragen, schätze ich.«
»Und das möchte ich auch«, erinnerte Ben sie.
Bessie stellte die Teetasse mit lautem Klappern vor unserem Gast ab. Daisy schnüffelte, nippte, nickte und goss etwas von der heißen Flüssigkeit in die Untertasse. Dann hob sie die Untertasse an die Lippen und schlürfte genüsslich, während wir warteten. Es war nicht zu übersehen, dass sie den Moment genoss und die Gelegenheit, uns alle auf die Folter zu spannen.
»Nun, Mr. Inspector Ross«, sagte sie zu guter Letzt. »Das klingt ja ganz so, als würden Sie mir endlich glauben, oder wie?«
»Was das Phantom aus der Themse angeht? Ja, Daisy, das tue ich.«
»Weil es eine anständige, ehrbare Lady ermordet hat, schätze ich. Sie wären längst nicht so interessiert, wenn es mich oder jemand anderen wie mich umgebracht hätte, habe ich recht?«
»Nein«, sagte Ben einfach. »Sie haben unrecht.«
Daisy blinzelte. Ihr Verhalten wechselte von sarkastisch zu nachdenklich. »Mensch, wissen Sie was? Ich glaube Ihnen sogar.« Sie zögerte, während sie ihn aufmerksam musterte. »Wenn ich Ihnen alles sage, was ich weiß«, fuhr sie schließlich fort, »würden Sie dann etwas für mich tun?«
»Sie werden für Ihre Zeit bezahlt«, versprach Ben.
Zu unser aller Überraschung, insbesondere Bessies, schüttelte Daisy den Kopf, was die armen, zerbrochenen Federn auf ihrem Hütchen wild tanzen ließ.
»Ich will Ihr Geld gar nicht. Ich möchte, dass Sie jemanden finden. Na ja, Sie müssen sie schließlich finden, wenn Sie mit ihr reden wollen! Das Mädchen, das das Phantom deutlich gesehen hat. Sie heißt Clarrie Brady. Eigentlich heißt sie Clarissa, aber alle rufen sie nur Clarrie.« Daisy verschränkte die Arme und legte sie vor sich auf den Tisch. »Sehen Sie, ich arbeite auf der Südseite des Flusses, gleich um die Ecke des Pubs, vor dem Ihre Frau mich heute Abend gefunden hat. Clarrie hat auf der Nordseite gearbeitet, bis hinauf zu The Strand. Dort gibt es allerdings eine Menge Mädchen, deswegen stand sie meistens näher am Fluss.«
»Weswegen sagen Sie ›stand‹, Daisy?«, fragte Ben scharf. »Wo arbeitet sie jetzt?«
»Das ist es ja«, sagte Daisy. »Seit vorletztem Freitag hat sie niemand mehr gesehen. Als wir uns auf der Brücke begegnet sind am vorletzten Samstagabend, da war ich auf dem Weg nach drüben, um sie zu warnen, dass das Phantom wieder sein Unwesen treibt, und ihr zu sagen, dass ich ihm gerade selbst begegnet war. Aber ich konnte sie nirgends finden. Sie hatte immer noch in ihrem Revier gearbeitet, das wusste ich, weil ich sie erst am Freitagmorgen dort gesehen hatte. Es gibt ein Kaffeegeschäft gleich hinter der Brücke, und dort habe ich sie getroffen. Wir haben einen Kaffee getrunken, bevor wir von der Arbeit nach Hause gegangen sind. Wir haben uns ein wenig unterhalten, weil wir Freundinnen sind. Wir kennen uns, seit wir Kinder waren. Na ja, jedenfalls, seit sie diesem Phantom begegnet ist, seit es direkt vor ihr gestanden hat in seinem Leichengewand, hatte sie eine Heidenangst davor, ihm noch einmal zu begegnen. Sie meinte zu mir, sie sei sicher, dass es wisse, wer sie ist, und dass es speziell auf der Suche nach ihr sei. Sie arbeitet nicht irgendwo anders. Ich hab alle Mädchen gefragt, die ich getroffen habe. Niemand hat sie gesehen.«
Sie schüttelte traurig den Kopf, und mir wurde jetzt erst klar, wie erstaunlich jung sie noch war, kaum älter als unsere Bessie. Ich wollte lieber nicht darüber nachdenken, wie lange sie ihrem gegenwärtigen Gewerbe schon nachging.
»Als Sie mir von Ihrer Freundin erzählt haben, an jenem Samstag auf der Brücke«, sagte Ben langsam, »da erwähnten Sie auch einen Freund.«
Sie stieß ein angewidertes Schnauben aus. »Jed Sparrow. Er schert sich einen Dreck um sie. Er sucht inzwischen nicht mal mehr nach ihr. Er hat zwei Tage nach ihr gesucht, und jetzt hat er sich ein neues Mädchen geangelt.«
»Wo finde ich diesen Sparrow?«
»Im Pub. Im Conquering Hero. Das ist der Laden, wo Ihre Frau mich heute Abend gefunden hat. Er war vorhin dort. Vielleicht ist er es immer noch. Aber wenn Sie ihn finden, sagen Sie ihm nicht, dass ich Ihnen gesagt habe, wo Sie nach ihm suchen müssen … sonst kommt er mich besuchen …«
»Keine Sorge, Daisy. Ich verrate ihm nichts. Wie sieht Ihre Freundin aus? Clarrie Brady, meine ich.«
»Sie ist klein, ein wenig schmächtig, wie die da …« Daisy nickte in Richtung der sich schon wieder entrüstenden Bessie. »Aber sie hat ein hübsches Gesicht, nicht wie die da …«
»Wenn sie noch ein Wort über mein Aussehen sagt, dann kippe ich ihr den heißen Tee über die gefärbten Haare und den albernen Hut!«, kreischte Bessie empört.
»Bessie, geh bitte ins Wohnzimmer und mach Feuer im Kamin«, befahl ich. »Ich bin sicher, Daisy meint es nicht so. Sie neckt dich nur.«
»Nein, tut sie nicht!«, grollte Bessie. »Sie meint es so.« Sie brachte ihr Gesicht ganz dicht vor das von Daisy. »Ich bin jedenfalls nicht auf der Straße, oder?«
»Wie denn auch?«, entgegnete Daisy. »Mit dieser Visage …«
Ich sprang auf, fing Bessies Hand ab und schob sie nach draußen in die Eingangshalle. »Hör zu, Bessie. Ich weiß, sie ist sehr unhöflich dir gegenüber, aber das kommt nur daher, weil du dich von ihr provozieren lässt. Sie neckt dich, und du schnappst zurück. Überlass alles dem Herrn Inspector und mir, hörst du? Der Herr Inspector braucht die Informationen dringend, die sie besitzt.«
Bessie wand sich aus meinem Griff. »Ich gehe ins Wohnzimmer und mache Feuer«, sagte sie eisig.
Ich kehrte in die Küche zurück. Daisy hatte es sich gemütlich gemacht und schenkte sich soeben eine zweite Tasse Tee ein.
»So, sie ist also klein und hübsch«, sagte Ben gerade ein wenig gereizt. »Von dieser Sorte gibt es Hunderte in London.«
»Sie hat ein Muttermal auf der Stirn, gleich hier.« Daisy zeigte auf ihre linke Schläfe. »Und eine Narbe unter dem Auge, hier.« Sie legte den Zeigefinger auf den rechten Wangenknochen. »Von einem Glas, das Jed Sparrow ihr einmal ins Gesicht geworfen hat. Das hat ihm hinterher leidgetan«, fügte sie hinzu.
»Das will ich wohl hoffen!«, sagte ich indigniert. »Das arme Ding konnte sich nicht wehren.«
»Nein, er hatte Angst, es könnte ihr Aussehen stören«, erklärte Daisy. »Deswegen hat es ihm leidgetan. Aber die Narbe ist gut verheilt, und man sieht kaum noch etwas. Außerdem schmiert sie Fettfarbe drüber, das Zeug, das Schauspieler benutzen.«
Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Ben. »Also, wo ist sie? Ich kann sie nirgends finden. Aber wenn die Bobbys auf Streife nach ihr Ausschau halten, bestehen größere Aussichten auf Erfolg.«
»Ich werde die Beschreibung an alle Constables weiterleiten«, versprach Ben.
»Und Sie geben nicht auf, wenn Sie sie in zwei, drei Tagen noch nicht gefunden haben? Angenommen, Sie finden das Phantom zuerst, suchen Sie dann weiter nach Clarrie, wie Sie nach der feinen Lady suchen würden, wenn sie verschwunden wäre? Versprechen Sie das? Weil es nämlich das ist, was ich als Gegenleistung für meine Informationen möchte.«
»Ja, das tue ich«, sagte Ben. »Sie haben mein Wort darauf, Daisy.«
Daisy erhob sich. »Vielen Dank für den Tee. Ich gehe hinten raus, den gleichen Weg, den ich gekommen bin.« Bei der Tür blieb sie noch einmal stehen und sah über die Schulter. »Geben Sie mir zehn Minuten Vorsprung, bevor Sie zum Conquering Hero rennen – falls es das ist, was Sie als Nächstes vorhaben.«
»Mache ich«, versprach Ben.
»Und falls Sie mich suchen sollten – hinterlassen Sie bei Sally eine Nachricht, der Bedienung vom Hero. Ich bin dann weg.«
Als Daisy gegangen war, setzte ich mich zu Ben an den Tisch. »Was ist Clarrie Brady deiner Meinung nach zugestoßen?«, fragte ich ihn.
Er zuckte die Schultern. »Vielleicht ist sie weggelaufen, weg aus London, aus lauter Angst vor dem Flussphantom und weil sie so sicher war, dass es nach ihr suchte, oder …«
»Oder?«, fragte ich leise.
Ben seufzte. »Oder Sparrow hat sie umgebracht und die Leiche irgendwo verscharrt, und wir haben sie bis jetzt nicht gefunden. Er hat sich ohne Zögern ein neues Mädchen gesucht. Woraus ich schließe, dass er nicht damit rechnet, dass sie zurückkommen könnte. Die einzige andere Möglichkeit …« Er sah mich verlegen an. »Ich fürchte, Lizzie, die andere Möglichkeit ist, dass das Phantom sie am Ende doch gefunden hat. Vielleicht war es keine Einbildung, dass es nach ihr gesucht hat. Sie hat das Phantom klar und deutlich gesehen. Wer auch immer hinter der Verkleidung steckt, er hat es bemerkt. Ich nehme an, er trägt eine Maske vor dem Gesicht, aber sie hat ihn trotzdem klar und deutlich im Nebel gesehen, und das hat ihn vielleicht nervös gemacht. Er hat nach ihr gesucht und sie gefunden. Allerdings haben wir bis jetzt keine Leiche gefunden, Lizzie, jedenfalls nicht, dass ich wüsste. Drück die Daumen und kreuz die Finger.«
Er zog seine Uhr hervor und warf einen Blick darauf. »Die zehn Minuten sind fast um. Ich gehe rüber zum Conquering Hero und sehe, ob unser gar nicht so heroischer Mr. Sparrow noch dort ist.«