KAPITEL ELF

 

Elizabeth Martin Ross

 

Obwohl ich wusste, dass Mrs. Scott es sowohl als unhöflich wie auch als ignorant betrachten würde, noch vor der Mittagszeit einen Besuch abzustatten, trafen Bessie und ich kurz nach zehn im bleichen Sonnenschein vor den Toren von Wisteria Lodge ein.

Als ich drei Jahre zuvor aus Derbyshire nach London gekommen war, hatte mir meine Tante Parry, deren Gesellschafterin ich wurde, einen Führer ausgehändigt. Sie meinte, sie habe ihn hilfreich gefunden, als sie selbst viele Jahre zuvor aus der Provinz nach London gekommen war.

Der Führer muss schon damals veraltet gewesen sein, denn der Titel des Buches lautete Bebilderter Führer von London 1818. Ich hatte nichtsdestotrotz in der vorangegangenen Nacht darin gelesen, weil ich überhaupt nichts über Clapham wusste. Ich fand die Ortschaft aufgelistet unter den Sehenswürdigkeiten in der Londoner Umgebung. Clapham, so wusste der Führer zu berichten, war eine kleine Ortschaft in Surrey, dreieinviertel Meilen südlich von London gelegen, die hauptsächlich aus hübschen Häusern bestand. Nun ja. Die Tentakel der Großstadt hatten sich seit der Zeit, als der Führer geschrieben worden war, sehr viel weiter in sämtliche Richtungen ausgebreitet. Das Auftauchen der Eisenbahn hatte Clapham in den Aktionsbereich jener verlegt, deren Geschäft sich im Zentrum Londons befand und die zugleich genügend Geld verdienten, um wegzuziehen aus dem ewigen Qualm, Gestank und Nebel der Stadt und sich in einer angenehmeren, feineren Gegend niederzulassen. Es gab viel mehr Häuser hier als vor fünfzig Jahren, und nahezu alle waren massive bürgerliche Heime. Trotzdem hatte die Gegend viel von ihrer Ländlichkeit bewahrt, und man hatte nicht den Eindruck, in einem Vorort Londons zu sein – was hauptsächlich an der weitläufigen Wald- und Wiesenfläche lag, die allgemein »The Common« genannt wurde und die wir auf dem Weg zum Haus bewundert hatten. Selbst um diese frühe Tageszeit hatte dort reger Betrieb geherrscht; Leute spazierten umher oder ritten auf Pferden, und Kindermädchen hatten ihre jungen Schützlinge hergebracht, damit sie im Freien herumtollen konnten.

»Ist das hübsch hier!«, hatte Bessie staunend ausgerufen, und als wir nun vor dem Heim von Mrs. Scott standen, wiederholte sie ihre Bemerkung.

Wisteria Lodge war eine beeindruckende Backsteinvilla, sicher nicht älter als zwanzig Jahre. Es gab tatsächlich Wisteria-Ranken, die über die Fassade kletterten, auch wenn um diese Jahreszeit nur die nackten braunen Zweige zu sehen waren, an denen vereinzelt noch gelbe Blätter hingen. Die Dicke der Ranken ließ vermuten, dass die Gehölze schon beim Bau des Hauses angepflanzt worden waren. Im Frühling bot es wahrscheinlich einen wunderschönen Anblick mit den zahlreichen blauen und weißen Blütentrauben. Wahrscheinlich hatte es von Anfang an seinen Namen getragen, noch bevor die Torpfosten errichtet worden waren, denn der Name Wisteria Lodge war in den Stein gemeißelt.

»Sie ist vielleicht noch nicht bereit, Besucher zu empfangen, Missus«, warnte mich Bessie. »Mrs. Parry hat niemals vor zwölf Uhr mittags Besuch empfangen. Mrs. Scott ist vielleicht noch nicht angezogen und hat wahrscheinlich auch noch kein Frühstück gehabt.«

Beinahe hätte ich erwidert, dass meine Tante Parry niemals vor Mittag aufgestanden war, geschweige denn angezogen, und selbst ihr Frühstück um elf im Bett eingenommen hatte. Es geschah höchst selten, dass sie sich vor halb eins unten blicken ließ, auch wenn sie jedes Mal rechtzeitig für die mächtige Mahlzeit um ein Uhr auftauchte, die sie ein »leichtes Mittagessen« zu nennen pflegte. Doch das durfte ich Bessie nicht erzählen. Ich war einigermaßen zuversichtlich, dass Mrs. Scott einen derartigen Zeitplan als Müßiggang bezeichnet hätte und dass wir sie zumindest angezogen antreffen würden, auch wenn sie keine Besucher erwartete.

»Ich weiß«, sagte ich stattdessen. »Aber ich hoffe doch, dass sie schon angesichts der frühen Stunde erkennt, dass mich nur eine sehr wichtige Neuigkeit hergeführt haben kann.«

»Vielleicht lässt sie uns durch eine Magd ausrichten, dass wir eine Nachricht hinterlassen sollen«, fuhr Bessie düster fort. Jetzt, da wir tatsächlich vor dem Haus von Mrs. Scott standen, war die Begeisterung für den Besuch, die sie am Vorabend empfunden hatte, in ein deutliches Zögern umgeschlagen, den Drachen in seinem eigenen Lager aufzusuchen.

»Nun komm schon!«, befahl ich, und wir marschierten forschen Schrittes durch das Tor, die kurze Auffahrt entlang und die drei Stufen zu einer breiten Veranda hinauf, wo wir die Glocke läuteten.

Nach ein paar Minuten des Wartens öffnete eine mürrisch dreinblickende, respektable Person in schwarzer Kleidung, die nur die Haushälterin sein konnte, und musterte uns mit gelinder Überraschung.

Ich war vorbereitet hergekommen. »Bitte bringen Sie der gnädigen Herrin meine Karte«, sagte ich anstelle einer Begrüßung und reichte ihr das kleine weiße Rechteck aus Karton. »Richten Sie ihr bitte aus, dass ich um Verzeihung bitte wegen der frühen Stunde, doch ich habe wichtige Neuigkeiten, von denen ich glaube, dass sie sie ohne Verzögerung hören sollte.«

Allein ihre Neugier würde, so hoffte ich, die Dame des Hauses bewegen, mich zu empfangen. Die Haushälterin las die Karte sorgfältig und bat uns dann, in der Eingangshalle zu warten.

Während wir allein waren, nutzten Bessie und ich die Gelegenheit, den Blick in die Runde schweifen zu lassen. Es gab zweifelsohne Gemälde im Überfluss, allesamt in dem Stil gehalten, wie Angelis es Ben erzählt hatte. Die meisten zeigten arabische Szenen, einige vielleicht auch indische. Ich fragte mich, ob es eines von diesen Gemälden war, das Angelis unter den neugierigen Augen von Mr. Pritchard angeliefert hatte. Eines, das gebracht worden war, um ein kostbareres, heimlich verkauftes Stück zu ersetzen. Andere orientalische Souvenirs belegten die Reisen des verstorbenen Majors und seiner Witwe. Auf dem Tisch in der Halle stand eine vielarmige Bronzefigur, gleich neben einer Box aus einem dunklen Holz mit eingelegtem Elfenbein zur Ablage ausgehender Briefe.

In der Halle selbst, eigentlich im ganzen Haus, war es sehr still. Das einzige Geräusch war das leise Ticken einer hohen Standuhr in einer Ecke. Ich fühlte mich unwohl, und das nicht nur, weil mein früher Besuch ohne Einladung ein gesellschaftlicher Fauxpas war, wie Bessie mir so treffend verdeutlicht hatte, sondern weil dieses Haus in gleich mehrerlei Hinsicht unbekanntes Territorium für mich darstellte. Ich war der Lady erst zweimal begegnet. Beide Treffen waren kurz gewesen, und keines davon war freundlich verlaufen. Abgesehen von dem, was Bessie mir über Mrs. Scott erzählt hatte – dass ihr verstorbener Mann Soldat gewesen war –, wusste ich so gut wie gar nichts von ihr. Ben hatte von Mr. Angelis erfahren, dass sie die furchtbare Belagerung von Lucknow überlebt hatte. Woraus ich eine Sache ableiten konnte: Mrs. Scott war kampferfahren. Demzufolge war Überraschung meine einzige Waffe – und ich war sicher, dass auch diese schnell stumpf werden würde.

Die Haushälterin kehrte zurück. »Wenn Sie mir bitte nach hinten in den Morgensalon folgen würden, Ma’am? Wenn Ihre Dienerin solange hier wartet, bringe ich sie anschließend nach unten in die Küche.«

Bessie, die sich in einer Ecke herumgetrieben und eine Topfpalme studiert hatte, reckte stolz den Kopf, weil sie für die Dienerin einer Dame gehalten wurde. Sie kam aus ihrer Ecke hervor. Ich folgte der Haushälterin.

Der hintere, sogenannte Morgensalon der Wisteria Lodge entpuppte sich als ein freundlicher, sonniger Raum, selbst an einem so bleichen, winterlichen Morgen. Im Kamin war bereits ein Feuer entzündet worden, um die Kühle zu mildern, doch frühestens vor einer halben Stunde, denn es knisterte und spuckte noch, während die Späne langsam Feuer fingen, und es roch merklich nach Rauch. Auf einem geöffneten Sekretär lag ein halb geschriebener Brief. Ein Stift steckte in einem Tintenfass. Ich bemerkte nirgendwo Zeitungen.

Mrs. Scott begrüßte mich. Sie trug ein einfaches, silbergraues Kleid mit passendem Korsett und eine kleine Witwenhaube aus Spitze sowie Musselinmanschetten über den Handgelenken, um die Ärmel zu schonen, während sie ihre morgendlichen Arbeiten erledigte. Sie sprach mit geschulter Höflichkeit.

»Mrs. Ross? Wie nett, dass Sie mich besuchen. Wie sind Sie von der Stadt hierhergekommen?«

»Mit dem Zug«, antwortete ich. »Und ich muss mich entschuldigen für mein ungewöhnliches Eindringen. Ich sehe, ich habe Sie beim Briefeschreiben gestört … Ich hoffe, ich werde Sie nicht zu lange aufhalten.«

»Überhaupt nicht«, murmelte Mrs. Scott und deutete auf einen Sessel. »Möchten Sie vielleicht einen Tee nach Ihrer weiten Reise?«

Ich lehnte dankend ab, setzte mich jedoch. Meine Gastgeberin nahm mir gegenüber Platz und verschränkte abwartend die Hände im Schoß. Sie trug ihren Ehering, doch keinen anderen Schmuck. Sie wartete darauf, dass ich mich erklärte. Ihre Miene war völlig ausdruckslos.

»Ich bin gekommen, weil ich Ihnen eine traurige Neuigkeit überbringen muss«, begann ich. »Ich habe es gestern Abend von meinem Mann erfahren. Ich fürchtete, es würde heute Morgen in den Zeitungen stehen, oder falls nicht heute Morgen, dann in den Spätausgaben. Wie dem auch sei, ich dachte, es wäre besser, wenn ich komme und es Ihnen persönlich mitteile. Ich wollte nicht, dass Sie es aus der Zeitung erfahren. Ich muss Ihnen berichten, dass Miss Marchwood tot ist.«

Ich sah, wie ihre Hände weiß wurden, als sie sie fester verschränkte. Nach einer kaum merklichen Pause hatte sie sich wieder gefangen. »Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihre Zuvorkommenheit. Was die Neuigkeit angeht, so tut es mir leid, dies zu hören. Können Sie mir sagen, wie und wo es dazu gekommen ist? Sie sagten, Sie hätten es von Ihrem Mann erfahren – verstehe ich das richtig, dass die Umstände, sagen wir, ungewöhnlich waren? Es kommt jedenfalls höchst unerwartet. Als ich sie am Sonntagnachmittag zum letzten Mal gesehen habe, war sie zwar trauriger Stimmung, jedoch ansonsten von guter Gesundheit.«

»Miss Marchwood«, sagte ich behutsam, »war gestern Morgen auf dem Weg von Egham nach London, mit dem Zug. Bei der Ankunft in Waterloo bemerkte ein Schaffner, der auf dem Weg zur Spitze des Zuges in den Erster-Klasse-Waggon sah, eine Frau, die zu schlafen schien. Er stieg ein, um sie zu wecken, und stellte fest, dass sie tot war. Sie wurde ermordet.«

»Ermordet!« Endlich verriet Mrs. Scotts Gesicht eine Regung. »Wie ist das möglich? Wer sollte Isabella Marchwood ermorden? Sie war eine angenehme Person, doch ansonsten ohne jeglichen Belang.«

Mir wurde bewusst, dass ich die Frau wirklich nicht mochte, und ich hatte Mühe, es nicht zu zeigen. »Die Polizei ermittelt bereits«, sagte ich nur.

»Ich denke, wir sollten doch einen Tee nehmen«, entschied Mrs. Scott. Sie erhob sich und ging zu einer Klingelschnur. »Wissen Sie, wie es passiert ist?«, fragte sie, nachdem sie wieder Platz genommen hatte.

»Sie wurde erdrosselt.«

Mrs. Scott schwieg. »Wie ihre verstorbene Herrin, Mrs. Benedict?«, fragte sie dann.

»Auf genau die gleiche Weise.«

Die Haushälterin erschien und erhielt den Auftrag, Tee für uns zu bringen.

»Es ist nie ganz ungefährlich für eine Frau, allein zu reisen, insbesondere mit der Eisenbahn«, sagte Mrs. Scott schließlich. »Das ist der Grund, warum ich die Kosten für mein eigenes Fuhrwerk aufbringe.« Sie hatte die Unterbrechung genutzt, um sich wieder zu fassen, und ihr Tonfall war forsch. »Ich nehme an, sie wurde ausgeraubt?«

»Nein«, erwiderte ich kopfschüttelnd. »Ihre Handtasche wurde unter dem Sitz gefunden. Es war ein wenig Geld darin, wie mein Mann mir erzählt hat, und sie hatte auch noch ihre goldgeränderte Brille.«

»Nichts, was einen Dieb interessiert hätte«, beobachtete Mrs. Scott. »Aber vermutlich wusste er das nicht, als er mit der Absicht zu stehlen in den Waggon stieg. Er fand es erst heraus, nachdem er sie getötet hatte.«

»Ich bin nicht informiert über das, was die Polizei darüber denkt«, sagte ich entschuldigend. Es entsprach der Wahrheit. Ich wusste nicht mehr als das, was ich ihr bereits erzählt hatte.

Ein Tablett mit Tee traf ein und wurde auf einem kleinen Tisch abgestellt, dessen Oberfläche aus kunstvoll graviertem gehämmertem Messing bestand. Mrs. Scott schenkte eine Tasse voll und reichte sie mir, ironischerweise mit der gleichen Geste wie im Temperenzsaal nach der Versammlung.

»Die Polizei weiß nicht, warum sie nach London wollte«, fuhr ich vorsichtig fort. Ich hatte das Gefühl, mich auf dünnes Eis zu begeben, wie das Sprichwort sagt. »Ich habe allerdings zufällig mit angehört, wie Sie Miss Marchwood zu sich nach Clapham eingeladen haben.«

Mrs. Scott hob fragend die Augenbrauen.

»Nach dem letzten Treffen der Temperenzbewegung im Saal«, erinnerte ich sie. »Ich war draußen auf dem Gehweg. Sie hat durch das Fenster Ihrer Kutsche mit Ihnen gesprochen, und ich habe das Gespräch gehört.«

»Sie haben Ohren wie ein Luchs, Mrs. Ross, und Augen wie ein Adler«, sagte Mrs. Scott kalt. »Ich habe Sie auf dem Gehweg gar nicht gesehen.«

Ich hatte mich, zusammen mit Bessie, unter dem Torbogen versteckt. Ich hatte nicht vor, ihr diese Tatsache auf die Nase zu binden.

»Es wurde bereits dunkel«, sagte ich ausweichend. »Ich frage mich, ob Sie Miss Marchwood vielleicht erwartet haben und sie gestern auf dem Weg zu Ihnen war?«

»Nein, war sie nicht«, erwiderte Mrs. Scott. »Sie wäre nicht hergekommen, ohne mir vorher ihren Besuch zu avisieren.« Bei ihren Worten blickte sie mir sehr direkt in die Augen. Selbst die verachtete Miss Marchwood hatte es nicht gewagt, unangemeldet hereinzuplatzen, wie ich es zu tun die Unverfrorenheit besaß.

»Werden Sie Mr. Fawcett informieren?«, fragte ich sie. »Und ihre anderen Freunde von der Temperenzbewegung?«

Sie rührte in ihrem Tee, ohne dass der Löffel auch nur im Geringsten zitterte. »Ich kann nicht überall herumfahren, um jeden zu informieren. Abgesehen davon – wie Sie selbst gesagt haben, wird es zweifellos in den Zeitungen stehen. Die Öffentlichkeit hegt eine morbide Faszination für derart schäbige Dinge.« Sie legte den Teelöffel beiseite. »Allerdings werde ich Mr. Fawcett sofort eine Note schreiben. Ich werde Harris sagen, dass er eines der Kutschpferde satteln und ihm meinen Brief überbringen soll. Er wird sehr traurig sein. Isabella Marchwood war eine getreue Unterstützerin unserer Sache.«

»Das habe ich gesehen«, erwiderte ich ausdruckslos. »Neben dem regelmäßigen Besuch der Versammlungen – was hat Miss Marchwood sonst noch getan, um zu helfen?«

Ich konnte ihr nichts vormachen und hatte das auch gar nicht erwartet. Sie sah mich mit dem gleichen Gesichtsausdruck an, mit dem sie mich auch schon bei unserer ersten Begegnung bedacht hatte. Sie war sich der Tatsache bewusst, dass hinter meinem Besuch zu dieser frühen Stunde mehr als reine Höflichkeit steckte.

»Sie brachte regelmäßig Gebäck mit«, sagte sie. »Das war sehr hilfreich.«

»Das glaube ich gern. Mr. Fawcett wird es sicher schwierig finden, mit diesem traurigen Wissen im Hinterkopf die Versammlung am nächsten Sonntag zu leiten.«

»Ganz und gar nicht!«, widersprach sie entschieden. »Seine Arbeit ist viel wichtiger als eine Unannehmlichkeit wie der Verlust von Isabella Marchwood.«

Sie schien mein Erschrecken angesichts ihrer brutalen Offenheit bemerkt zu haben, denn sie fügte hastig hinzu: »Persönlich wird er sicherlich Kummer empfinden, doch Sie werden verstehen, dass seine Arbeit an erster Stelle steht. Sie haben ja keine Vorstellung, Mrs. Ross, wie weit das Laster der Trunksucht unter den Armen und Mittellosen verbreitet ist! Selbst wenn ein Mann nur noch ein paar Pence in den Taschen hat, gibt er sie für Bier und Schnaps aus, gleichgültig, ob seine Familie daheim hungert. Ich wünschte, ich könnte sagen, die Frauen sind anders, aber viele sind genauso. Mr. Fawcett hatte sein Amt bei den Armen Londons gerade angetreten, als mir das große Glück zuteil wurde, davon zu hören. Ich hörte ihn predigen und war auf der Stelle überzeugt vom unschätzbaren Wert seines Werkes und der Schwierigkeit der Aufgabe. Er wollte, dass ich das Problem mit eigenen Augen sah, also begleitete ich ihn zu einem Lokal, wo billiger Fusel ausgeschenkt wurde. Er beteuerte, dass ich keine Angst um meine Sicherheit haben müsste, denn er war bereits so bekannt und respektiert in seinem Bezirk, dass niemand uns zu nahetreten oder mit Gewalt drohen würde, solange ich in seiner Gesellschaft war. Ich erwiderte, dass ich keine Angst hätte, da ich bereits an vielen gefährlichen Orten überall auf der Welt gewesen wäre, in Zeiten größter Unruhen, und dass ich sehr wohl wüsste, wie ich mich angesichts eines feindseligen Mobs durchsetzen konnte.

»Das Lokal, das Mr. Fawcett mir zeigte, war ein Gin-Palast. Ich habe schon eine Reihe schlimmer Anblicke in meinem Leben gesehen, Mrs. Ross. Ich war mit meinem Mann während der Aufstände in Indien. Doch als ich dieses Lokal betrat, diesen Ort voller Verzweiflung und Sucht, und als ich die Verderbtheit auf den flegelhaften Gesichtern der Zecher sah, da dachte ich im ersten Moment, ich wäre in der Hölle gelandet!«

Ich war geschockt von der plötzlichen Grausamkeit in ihrer Stimme. Sie, so viel schien festzustehen, glaubte fest an Fawcett und seine Sache. Es wäre ein hoffnungsloses Unterfangen gewesen, sie davon zu überzeugen, dass er – nach meiner festen Meinung – ein Hochstapler war. Er hatte sich seinen weiblichen Akolythen mit viel Bedacht ausgesucht. Er hatte ihr listigerweise den Feind, die Trunksucht, von Angesicht zu Angesicht vorgeführt. Er hatte ihr gesagt, dass sie gegen diesen Feind kämpfen mussten. Sie war die Witwe eines Soldaten. Sie wusste alles über den Kampf. Sie hatte sich ohne Zögern ins Getümmel gestürzt.

»Ich war erfüllt von Abscheu, Mrs. Ross. Ich bin sicher, es wäre Ihnen nicht anders ergangen. Dies waren Briten, Männer und Frauen, die ihren Lebensunterhalt durch ehrliche Arbeit hätten verdienen und ihre Nachkommen zu hart arbeitenden, aufrechten und gottesfürchtigen Menschen hätten erziehen sollen. Sie lungerten herum und hatten ein völlig verwahrlostes Benehmen. Einige waren halb bewusstlos vom Alkohol! Das darf nicht länger geduldet werden, sonst geht das ganze Land vor die Hunde! Wo sollen die kräftigen jungen Männer herkommen, welche die Ränge unserer British Army und der glorreichen Navy füllen? Wer soll in unseren Industriebetrieben arbeiten? Wo bleiben die starken, hart arbeitenden Mütter, die gesunde Kinder aufziehen? Wir müssen jede Form von charakterlicher Schwäche aus unserer Gesellschaft ausmerzen, genauso wie die körperlichen Gebrechen!«

Ihre Wangen leuchteten rot, und ihre Augen funkelten. Sie hatte sich vorgebeugt und die Fäuste geballt. Fawcett war für sie der Führer eines Kavallerieangriffs, und sie war direkt an seiner Seite.

»Und was unternimmt Mr. Fawcett, um die Betroffenen dazu zu bringen, dass sie ihr Leben ändern?«, fragte ich.

»Er organisiert Versammlungen unter ihnen und predigt ihnen den Irrtum ihrer Wege. Er hilft ihnen bei der Suche nach einer einträglichen Beschäftigung, und wenn sie bereit sind zu arbeiten, gibt er ihnen, falls nötig, stabile Stiefel und Arbeitskleidung. Viele von ihnen sind nämlich bettelarm und haben nichts als Lumpen auf dem Leib.

Außerdem organisiert er Unterricht für ihre Kinder, damit sie lesen und schreiben lernen und eine bessere Chance auf eine Arbeit haben. Denjenigen, die am Verhungern sind, hilft er mit Nahrung und Lebensmitteln. Er gibt ihnen niemals direkt Geld, denn das würde nur ihren Müßiggang beflügeln. Und die Hilfe ist selbstverständlich abhängig davon, dass jedes Familienmitglied dem Laster des Trinkens und der Verkommenheit entsagt.

Er hat mich mitgenommen zu einer Familie, die durch seine Bemühungen errettet wurde. Der Vater hatte eine Anstellung als Gepäckträger. Die Frau war ordentlich gekleidet, die Kinder gewaschen und das Zimmer, in dem alle wohnten, war ordentlich und aufgeräumt. Sie glauben gar nicht, wie sehr sie ihren Wohltäter gepriesen haben!«

»Wenn er all das tut, dann ist seine Arbeit in der Tat lobenswert«, sagte ich. »Predigt er denn ausschließlich in London oder auch woanders? Beispielsweise hier in Clapham?«

»Ich war imstande, ihm eine ganze Reihe Mitbürger aus Clapham vorzustellen«, erwiderte sie stolz. »Im Verlauf meiner regelmäßig stattfindenden Soireen.«

Und die Mitbürger von Clapham, zumindest diejenigen, die in den großen, komfortablen Häusern und Villen lebten, die ich gesehen hatte, verfügten über genügend Geld, um eine gute Sache zu unterstützen. Ich fragte mich, wie viel Geld Fawcett einzusammeln imstande gewesen war, seit er mit seinen Predigten im Temperenzsaal angefangen hatte. Zweifellos eine ganze Menge. Und welche Kontrollen stellten sicher, dass es auf die von Mrs. Scott so energisch dargestellte Weise ausgegeben wurde?

Ich wusste, wie diese Masche funktionierte. Mein Vater war Arzt und Polizeiarzt in einer kleinen Gemeinde gewesen. Er hatte über alles Bescheid gewusst, was hinter den Kulissen vorging, einschließlich vieler Details über alle möglichen Verbrechen. Ich war nicht nur seine Tochter gewesen, sondern auch seine Haushälterin und Gesellschafterin. Oft hatten wir abends beisammengesessen, und er hatte mir von seinem Arbeitstag erzählt. Von Fällen, in denen die Öffentlichkeit vermittels einer kunstvollen Masche getäuscht und um ihr Geld betrogen worden war. Fawcett hatte sicher keine Mühe, erforderlichenfalls eine geeignete »bekehrte Familie« für eine Inspektion durch Interessierte aus dem Hut zu zaubern. Der Besucher würde einen sauberen, ordentlichen Wohnraum zu Gesicht bekommen, einen geläuterten Haushaltsvorstand mit einer regelmäßigen Arbeit sowie eine anständig gekleidete Ehefrau mitsamt Kindern, die alle strahlten und ihr Loblied auf Mr. Fawcett sangen – genau so, wie Mrs. Scott es mit eigenen Augen gesehen hatte.

Die »geläuterte Familie« wurde von Fawcett bezahlt. Jeder interessierte Besucher bekam die gleiche Szene zu sehen, mit den gleichen Personen darin. Auf die gleiche Weise war wohl auch der Inhaber der von Mrs. Scott beschriebenen Spelunke geschmiert worden, sodass ein potenzieller Spender für die gute Sache einen Blick auf das Elend werfen konnte. Vielleicht war sogar vorher Geld unter den Zechenden verteilt worden, um sicherzugehen, dass sie zum Zeitpunkt von Mrs. Scotts Besuch auch wirklich alle in dem traurigen Zustand waren, den sie erlebt hatte. Doch es war zwecklos – sie würde mir nicht glauben, wenn ich ihr irgendetwas davon erzählte.

Ich konnte meinen Besuch nicht noch länger ausdehnen. Ich war nicht sicher, ob ich irgendetwas erfahren hatte außer einer Bestätigung für Bens Verdacht, dass Fawcett Spendengelder von wohlhabenden Leuten eintrieb, die er bei Soireen kennenlernte – und für meinen eigenen, dass Fawcett ein durchtriebener Scharlatan war.

Nichtsdestotrotz sollte ich auf dem Nachhauseweg noch ein interessantes Detail erfahren.

»Was hat die Haushälterin erzählt?«, fragte ich Bessie. »Du hast ihr doch gesagt, dass Miss Marchwood tot ist?«

Bessie nickte. »Ja, habe ich. Sie war völlig entsetzt. Schockiert. Es wäre ganz furchtbar, meinte sie, und Miss Marchwood wäre ja so eine nette Person gewesen. Sie wäre viele Male bei den Swarrees der gnädigen Herrin zu Gast gewesen.« Bessie bedachte mich mit einem triumphierenden Blick. »Genau wie ihre italienische Herrin, die erdrosselt worden wäre.«

Mrs. Scott hatte sorgfältig vermieden, mir das zu verraten.

»Bist du sicher?«, fragte ich Bessie aufgeregt.

»Mrs. Field, das ist der Name der Haushälterin, hat mir erzählt, dass gelegentlich eine sehr schöne Lady mit Miss Marchwood gekommen wäre, und dass diese Lady Italienerin gewesen wäre. Mrs. Field hat in der Zeitung von ihrer Ermordung gelesen, und sie sagt, eine respektable Frau kann heutzutage nicht mehr den Fuß vor die Tür setzen, ohne dass ihr irgendein mörderischer Halunke auflauert. Mrs. Field hat eine Schwester, die in Cheapside wohnt. Jetzt hat sie Angst, an ihrem freien Tag in den Zug zu steigen, um ihre Schwester zu besuchen. Mrs. Field ist ebenfalls Witwe, Missus. Soldatenwitwe, genau wie Mrs. Scott. Ihr Mann war Sergeant und zur gleichen Zeit in Indien wie Major Scott, und deswegen ist sie jetzt die Haushälterin von Mrs. Scott. Jedenfalls, Mrs. Field sagt, in Indien hätte es Menschen gegeben, die Thugs genannt wurden. Sie hätten sich mit arglosen Reisenden angefreundet und diese dann ermordet und ausgeraubt. Sie sagt, es wird hier in England bald genauso schlimm wie dort. Ich fragte sie, was Mrs. Scott gesagt hätte, als sie von der Ermordung der italienischen Lady erfahren hätte.«

»Und? Was hat Mrs. Scott zu Mrs. Field gesagt?«

»Dass es eine Schande sei, dass so etwas am helllichten Tag in einem anständigen Teil von London geschehen kann. Nur war es nicht helllichter Tag, wie wir beide wissen, Missus. Es war schlimmer Nebel, und es wurde dunkel«, schloss Bessie pedantisch.

»Es ist eine Redensart«, erklärte ich. »Mrs. Scott wollte damit sagen, dass es tagsüber war.«

»Und Mrs. Field sagte auch noch …« Bessie lächelte mich triumphierend an. »… sie sagte, sie hätte den Eindruck, dass ihre Herrin, Mrs. Scott, die italienische Lady nicht besonders mochte. Sie war zwar schockiert gewesen, aber nicht so, dass sie Tränen vergossen hätte. Sie, also Mrs. Field, hätte einmal gehört, wie Mrs. Scott zu Miss Marchwood gesagt hätte, dass Mrs. Benedict ihrer guten Sache nicht verbunden wäre. Was so viel heißt wie, sagt Mrs. Field, Mrs. Benedict ging nicht zu den Treffen der Temperenzbewegung. Ich habe Mrs. Field gefragt, ob sie schon jemals bei einem Treffen gewesen wäre, aber Mrs. Field antwortete bloß: ›Selbstverständlich nicht!‹ Ich fragte sie nach dem Grund, und sie meinte, sie wäre eine gläubige Katholikin und würde nicht auf diese Art von aufwieglerischen Reden hereinfallen. Sie meint, die italienische Lady wäre vielleicht auch katholisch gewesen und deswegen nicht zu den Treffen der Temperenzbewegung gegangen. Doch es stand ihr nicht zu, dies gegenüber Mrs. Scott zu äußern.«

Bessie verstummte und blickte nachdenklich drein. »Wissen Sie was, Missus? Ich glaube nicht, dass ich je wieder zu diesen Treffen gehen kann. Es wird nie mehr so sein wie früher. In Gedanken werde ich immer Miss Marchwood dort sitzen sehen oder beim Helfen mit dem Tee. Ich hoffe wirklich, der Inspector findet ganz schnell heraus, wer der Mörder ist.«