KAPITEL FÜNF
Inspector Benjamin Ross
Zum großen Ärger von Superintendent Dunn hatten die Gentlemen von der Presse schon am nächsten Morgen von unserem unheimlichen Flussphantom erfahren. Sowie von der Entdeckung der Leiche einer wunderschönen Frau, die erdrosselt im Green Park gelegen hatte (und deren Ehemann eine Galerie an der Piccadilly besaß). Mehr Material, als sie sich in den wildesten Träumen auszumalen imstande waren, würde ich sagen. Und wie nicht anders zu erwarten, standen die beiden Storys in einem Zusammenhang. Ich war genauso verärgert über all das wie Dunn. Meiner Meinung nach gab es immer noch nicht den Hauch eines Beweises dafür, dass das Phantom aus der Themse der Mörder von Allegra Benedict war. Die Presse hingegen kannte keine derartigen Zweifel.
Die resultierende Story war die große Titelschlagzeile auf Seite eins. Und nicht nur die Boulevardpresse stürzte sich darauf, auch die seriöseren Blätter wie der Daily Telegraph schenkten der Geschichte eine halbe Seite. Selbst in der Times gab es einen längeren Artikel (zusammen mit einem Kommentar von einem führenden Kirchenmann über die zunehmende Gesetzlosigkeit auf den Straßen). Das Spektakel würde so lange weitergehen, bis wir eine Verhaftung vorgenommen hatten, so viel schien klar.
In den darauffolgenden Tagen gab es reihenweise Leserbriefe an die Zeitungen. Eine Frage fand sogar den Weg bis ins Parlament. Der Innenminister, kein Geringerer, war gezwungen, sich zu erheben in dem Versuch, die Frage zu beantworten. Er beharrte eindringlich darauf, dass die Londoner Straßen durchaus sicher waren für ehrbare Frauenspersonen. Was noch mehr Leserbriefe an die Zeitungen nach sich zog. Mehrere Künstler hatten das Phantom aus der Themse je nach persönlichem Gusto gemalt, und plötzlich tauchte es überall auf. Die Vorstellung von einem unheimlichen Streuner in der Nacht beschäftigte jedermanns Fantasie.
Wie nicht anders zu erwarten, wurde die Polizei irgendwie für alles verantwortlich gemacht. Die Leserbriefschreiber wurden nicht müde, darauf hinzuweisen, dass die »Polizei nie da« war, wenn man sie brauchte. Auch die Worte »Steuergelder« und »Verschwendung« wurden häufig benutzt.
»Woher wissen die das?«, rief ein aufgebrachter Superintendent Dunn, indem er mit der Faust auf eine auf seinem Schreibtisch ausgebreitete Zeitung schlug. »Sie erfahren von einer toten Frau im Park, das steht zu erwarten. Aber woher wissen sie von diesem sogenannten Flussphantom?«
»Wenn ich raten soll, Sir, würde ich sagen, dass eine der Straßendirnen die Zeitung mit dem Artikel von der erdrosselten Frau im Park gelesen hat. Sie ist postwendend zu einem Reporter gegangen, um diesem die Geschichte vom Phantom aus der Themse für eine Guinee zu verkaufen. Und jetzt ist die Jagd eröffnet und sämtliche Londoner Reporter sind hinter den Mädchen und ihren Geistergeschichten her.«
»Das hat uns gerade noch gefehlt!«, stöhnte Dunn und rieb sich den Kopf. »Wir können die Anzahl der Constables auf Streife unten am Fluss erhöhen. Aber wenn dieser Halunke jetzt auch noch im Park seinen Opfern auflauert …«
»Das wissen wir nicht, Sir. Wir wissen bisher nicht einmal, ob er tatsächlich existiert und ob er unser Mörder aus dem Park ist. Daisy Smith, das Freudenmädchen, mit dem ich geredet habe, sagt, das Flussphantom habe die Hände um ihren Hals gehabt. Von einer Schnur war keine Rede.«
»Also hat er seinen Modus Operandi geändert«, brummte Dunn missmutig.
»Warum sollte er das tun, Sir?«
»Warum, warum! Weil ihm die Mädchen immer wieder entkommen sind, darum! Er wollte sicher sein, dass sein nächstes Opfer nicht mehr davonkommt.«
Diese Möglichkeit war mir bereits durch den Kopf gegangen, doch ich hatte Zeit gefunden, darüber nachzudenken und sie wieder zu verwerfen.
»In diesem Fall – warum sollte er in ein und derselben Nacht zwei unterschiedliche Methoden benutzen?«, widersprach ich. »Daisy Smith hatte keine Schlinge um den Hals, nur die Hände.«
»Weiß ich, was in seinem Kopf vorgeht?«, brauste Dunn auf. »Wir haben es mit einem Irren zu tun, Ross! Das nächste Opfer greift er vielleicht mit einem Messer an. Wir wissen nichts über diesen Kerl, rein gar nichts. Er ist kein rationales Wesen.«
Das Phantom aus der Themse, wie wir den Unbekannten in Ermangelung eines besseren Namens nannten, mochte vielleicht nicht wie ein rationales Wesen denken, doch es würde seine Gründe haben für das, was es tat. Vielleicht hasste es Prostituierte, oder es hatte einfach Spaß daran, sie mit seiner makabren Charade zu erschrecken. Vielleicht war sein Ziel auch nur, ihnen eine Heidenangst einzujagen. Es wollte sie nicht töten, indem es ihnen die Hände um den Hals legte, sondern verängstigen. Der Mörder von Allegra Benedict auf der anderen Seite war mit einer Schnur in der Tasche von zu Hause losgezogen. Er hatte von Anfang an Mord im Sinn gehabt.
Laut pflichtete ich Dunn bei und betonte, dass es keine rationale Handlung sei, sich in Leichengewänder zu hüllen und im Nebel herumzuschleichen, um ahnungslose Freudenmädchen anzugreifen. Insgeheim bezweifelte ich weiterhin, dass er bei der einen nur die Hände benutzte und bei der anderen eine Schnur, noch dazu beides in der gleichen Nacht. Doch das erwähnte ich Dunn gegenüber nicht, genauso wenig wie meine anderen Überlegungen. Er war nicht in der Stimmung, mir zuzuhören.
Noch am gleichen Tag machte ich die Bekanntschaft von Mr. Angelis, dem Geschäftsführer von Benedict. Wie vereinbart war Morris losgezogen, um zunächst den Juwelier Tedeschi aufzusuchen und anschließend nach dem Verbleib des ehemaligen Butlers der Benedicts zu forschen, Mortimer Seymour. Biddle, mit vor jugendlichem Eifer leuchtendem Gesicht, patrouillierte die Piccadilly und die umgebenden Straßen auf der Suche nach jungen Straßenfegern. Ich begab mich in die Fine Arts Gallery von Sebastian Benedict.
Die Fassade des Hauses auf der Südseite der Piccadilly war recht diskret und lag ganz in der Nähe des Green Park. Die Nähe der Galerie zum Park, wo die Leiche gefunden worden war, hatte sicherlich etwas zu bedeuten. Was, das vermochte ich jetzt noch nicht zu sagen. Ich war zu dem Schluss gelangt, dass ich längst noch nicht alles wusste. Was die Galerie anging, sie hätte auch das Geschäft eines Beerdigungsunternehmers sein können, so diskret kam sie daher mit dem vielen schwarzen Lack auf der Tür und in der Fensterauslage. Die Auslage war leer bis auf eine einzelne Landschaft in Öl auf einer Staffelei: ein Ausblick auf eine Stadt mit einer großen barocken Kirchenkuppel, gemalt von einem Standpunkt auf der anderen Seite eines die Stadt durchziehenden Flusses. Die Staffelei war umgeben von schwarzem Samt.
Die Tür war abgeschlossen, doch es hing kein »Geschlossen«-Schild aus. Ich nahm an, dass der Geschäftsführer, George Angelis, es für notwendig erachtete, gewöhnlicher Laufkundschaft den Zugang zu verwehren und nur Bona-fide-Klienten einzulassen. Außerdem blieben mögliche Käufer der Galerie gegenwärtig wohl eher fern, um nicht von Reportern gestellt und ausgefragt zu werden.
Um Zutritt zu erlangen, musste ich wiederholt an der Glockenschnur ziehen, bis schließlich ein junger Assistent auf der anderen Seite auftauchte und mir gestikulierend bedeutete, dass ich wieder gehen sollte. Natürlich. Mein Aussehen entsprach nicht dem eines wohlsituierten Kunden, im Gegenteil. Ich sah eher aus wie einer dieser neugierigen Reporter. Ich formulierte mit den Lippen das Wort Polizei, und das Gesicht des jungen Mannes nahm einen Ausdruck von Resignation an. Er entriegelte die Tür und ließ mich eintreten.
»Danke sehr«, sagte ich. »Mein Name ist Inspector Ross vom Scotland Yard.«
»Ja, Sir?«, sagte er und wartete höflich, dass ich erklärte, was ich wollte.
Ich war für einen Moment verwirrt. Er wusste mit Sicherheit, in welcher Angelegenheit ich gekommen war – sein Gesichtsausdruck vor meinem Eintreten hatte mir so viel verraten. Doch nicht allein deswegen, sondern auch, weil ich jetzt, ohne Glasscheibe dazwischen, von seinem Aussehen gefesselt war. Er war noch sehr jung, höchstens zweiundzwanzig, und er war schön. Ich war verblüfft über mich selbst, weil ich dieses Adjektiv für einen Mann verwendete, und doch war es passend.
Seine Gesichtszüge waren von geradezu klassischer Ebenmäßigkeit, wie man sie in der Regel höchstens bei antiken Statuen sieht, und sein Teint war äußerst hell. Sein Gesichtsausdruck war ernst und traurig, während er mit übereinandergefalteten Händen geduldig wartend vor mir stand. Ich fühlte mich an die Statue eines über einem Grab wachenden Engels erinnert. Wäre er nicht hier in der Galerie angestellt gewesen, er hätte auch sehr gut für einen Beerdigungsunternehmer arbeiten können. Nein!, verwarf ich den Gedanken augenblicklich wieder. Als Modell für einen Künstler, das war es. Ob er bereits Erfahrung damit hatte?
»Mr. Angelis?«, fragte ich hastig. »Ist er da?«
Der besorgte Gesichtsausdruck des Assistenten änderte sich nicht. »Mr. Angelis ist hinten im Büro, Sir. Ich werde ihm sagen, dass Sie hier sind.« Er wandte sich zum Gehen.
»Einen Augenblick noch, bitte«, hielt ich ihn auf. »Wie heißen Sie?«
»Gray, Sir. Francis Gray.« Er verneigte sich würdevoll. »Ich bin seit einem halben Jahr der Assistent von Mr. Angelis.«
»Und Sie waren am vergangenen Samstag hier, als Miss Marchwood in den Laden – die Galerie kam auf der Suche nach Mrs. Benedict?«
»Das war ich, Inspector. Ich bin zusammen mit Mr. Angelis losgegangen, um nach ihr zu suchen. Es war ein hoffnungsloses Unterfangen.« Tragödie schien diesem jungen Mann wie auf den Leib geschneidert. Vielleicht war sie unter den gegebenen Umständen auch verständlich. Nichtsdestotrotz – ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie er einen Witz erzählte, auch nicht in glücklicheren Zeiten.
»Waren Sie im Park?«
Er sah mich verletzt an. »Selbstverständlich nicht! Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie in den Park gegangen ist! Bei diesem Nebel! Ich hätte durch den ganzen Park laufen können und sie doch nicht gefunden. Ich nahm an, dass überhaupt keine Besucher unterwegs waren.« Sein Tonfall war sanft tadelnd.
Wir hatten die Tür des Büros erreicht, und ich beschloss, ihn fürs Erste vom Haken zu lassen.
Er schien erleichtert, wie es normal ist für die Leute, wenn das Interesse der Polizei an ihnen erlischt, und verschwand durch die Tür, um den Geschäftsführer über mein Auftauchen zu unterrichten.
Ich blickte mich um. An den Wänden hingen geschmackvoll verteilt mehrere Gemälde, hauptsächlich in Öl, aber auch Wasserfarben. Die Letzteren bildeten eine eigene Gruppe und schienen von ein und demselben Künstler zu stammen.
Direkt hinter mir – so nah, dass ich zusammenschrak, als ich mich umdrehte – stand eine Statue. Es war ein unglaublich widerlich dreinblickender Satyr, und weil er auf einer Konsole stand, starrte er mir direkt in die Augen. Ich vermag nicht zu beschreiben, wie bösartig sein Blick auf mich wirkte, und ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie jemand so ein Ding in seinem Haus haben wollte.
Gray war zurück. »Hier entlang, Sir.« Er öffnete die Bürotür. »Ein Inspector Ross.«, verkündete er. »Vom Scotland Yard, Sir.«
Warum »ein« Inspector Ross?, fragte ich mich. Ob er annahm, dass es beim Scotland Yard mehr Inspektoren meines Namens gab?
Angelis war ein attraktiver Mann, groß gewachsen, um die vierzig, mit levantinischem Teint. Sein dichtes schwarzes Haar war gelockt und reichte bis über den Kragen. An den Schläfen zeigte sich bereits ein deutlicher silberner Schleier. Er hatte tief liegende, große schwarze Augen und dichte schwarze Brauen. Der schwarze Rock und die Hosen wurden nur wenig aufgelockert von einer dunkelroten Samtweste, doch diese triste Garderobe war kaum passend für jemanden wie ihn. Er schien irgendwie in eine exotische, vergangene Zeit zu gehören. Ich konnte ihn mir am Hof eines byzantinischen Kaisers vorstellen, gekleidet in goldene Gewänder.
Er empfing mich würdevoll, ließ mich in einem komfortablen Ledersessel Platz nehmen und bot mir ein Glas Sherry an. Ich dankte ihm und lehnte den Sherry ab.
»Ich bedaure außerordentlich, Inspector, dass meine eigenen Bemühungen, Mrs. Benedict zu finden, erfolglos geblieben sind«, begann er mit geschmeidiger Stimme. »Die Nachricht, als wir sie schließlich erfuhren, war schrecklich! Ich weiß überhaupt nicht, wie Mr. Benedict damit fertig wird. Ich habe ihn nicht mehr gesehen, seit ich bei ihm in Egham war an jenem traurigen Abend.«
»Und davor?«, fragte ich. »Wann haben Sie ihn davor zum letzten Mal gesehen?«
Angelis legte die Fingerspitzen aneinander. Ich meinte zu erkennen, dass die Nägel poliert waren. »Warten Sie, Inspector. Das muss Mittwoch vergangener Woche gewesen sein. Normalerweise kommt Mr. Benedict dienstags, mittwochs und donnerstags in die Galerie. Freitags ist er nur selten hier, und samstags niemals. Montags haben wir geschlossen.«
Das stimmte überein mit den Informationen, die Benedict mir gegeben hatte. »War Mrs. Benedict oft in seiner Begleitung?«, wollte ich wissen.
Angelis bedachte diese Frage mit der gleichen Sorgfalt wie die vorhergehende, bevor er antwortete. »Ich hatte Mrs. Benedict seit wenigstens drei Wochen nicht mehr gesehen. Ich würde nicht sagen, dass sie häufig mitkam. Aber gelegentlich, ja. Mr. Benedict brachte sie hin und wieder mit, um ihr eine Erwerbung zu zeigen, auf die er besonders stolz war. Oder sie kam vorbei, wenn sie zum Einkaufen in der Stadt gewesen war, aber nur, wenn sie wusste, dass ihr Mann da war.«
Er betonte die letzten Worte, um mir klarzumachen, dass an der Tugendhaftigkeit von Mrs. Benedict nicht der geringste Zweifel bestand – oder daran, dass er sich unkorrekt verhalten haben könnte.
»War Miss Marchwood bei diesen Gelegenheiten mit Mrs. Benedict unterwegs?«
»Ja, Inspector. Miss Marchwood war immer dabei«, erwiderte Angelis tadelnd.
Wie anständig und tugendhaft das doch alles war. Ich fragte mich, ob Benedict ein eifersüchtiger Ehemann gewesen war.
Die Sache war, ich vermutete sehr stark, dass Allegra nicht ganz so treu gewesen war. Angelis hatte mir zu verstehen gegeben, dass er nicht derjenige gewesen war. Doch wenn sie sich heimlich mit einem Verehrer getroffen hatte, musste Miss Marchwood davon wissen. Allegra hatte anscheinend niemals ohne sie das Haus verlassen. Die Marchwood war weniger eine Gesellschafterin als eine Aufpasserin gewesen! Und sie musste Allegra geholfen haben, die Affäre vor dem betrogenen Ehemann zu vertuschen … falls es eine Affäre gegeben hatte. Es würde Miss Marchwoods Zögern erklären und ihre eigenartige Angst. Falls Benedict davon erfuhr, war sie ganz allein seinem Zorn ausgesetzt. Er würde ihr niemals ein Zeugnis schreiben, und wenn zukünftige mögliche Arbeitgeber sich mit ihm in Verbindung setzten, um sich nach ihr zu erkundigen, würde er ihnen zweifellos sagen, dass sie unzuverlässig war.
»Sie haben draußen in der Auslage ein Landschaftsgemälde«, bemerkte ich.
»Das haben wir, in der Tat!«, erwiderte Angelis überrascht.
Ich wusste nicht, ob seine Überraschung daher rührte, dass mir das Gemälde überhaupt aufgefallen war, oder ob er glaubte, ich würde mich als Nächstes nach dem Preis erkundigen. Was ich ganz bestimmt nicht vorhatte.
»Es scheint eine ausländische Stadt zu sein.«
Angelis hob die dichten schwarzen Augenbrauen, doch der Blick, mit dem er mich bedachte, war weit weniger reserviert als zuvor. Als Polizeibeamter stand ich in seiner Wertschätzung zweifellos niedrig. Als Kunstliebhaber war ich soeben ein paar Stufen hochgeklettert.
»In der Tat, Inspector! Es ist ein Bild von Dresden, gemalt von Bernardo Bellotto.«
»Sie wissen mehr als ich«, gestand ich. »Der Name sagt mir nichts.«
»Bernardo Bellotto war der Neffe des großen Canaletto«, erklärte Angelis.
Gott sei Dank hatte ich wenigstens diesen Namen schon einmal gehört, daher konnte ich mich gebührend beeindruckt zeigen.
»Bellotto war sich nicht zu schade, seine Arbeiten hin und wieder selbst mit ›Canaletto‹ zu signieren«, erklärte Angelis weiter. »Im Allgemeinen kann man den Unterschied zwischen den beiden auf den ersten Blick erkennen, wenn man weiß, worauf man achten muss. Doch ein paar seiner Gemälde in Museen und Sammlungen überall in Europa geben vor, von Bellottos berühmtem Onkel zu stammen. Ich will damit nicht sagen, dass Bellotto kein hervorragender Künstler war, doch ihm fehlt eine gewisse Leichtigkeit im Pinselstrich.«
»Woher stammt dieses Gemälde?«
Jegliches Wohlwollen, das ich mir bis jetzt erarbeitet hatte, löste sich im Bruchteil einer Sekunde in Luft auf. Angelis versteifte sich. »Sie wollen doch wohl keine Unregelmäßigkeit andeuten?«, fragte er mit eisiger Stimme. »Jedes Werk, das diese Galerie eingekauft hat, ist von einwandfreier Herkunft!«
Ich hob eine Hand und entschuldigte mich. »Verzeihen Sie mir, so hatte ich das nicht gemeint. Ich wollte lediglich wissen, wo Mr. Benedict es gekauft hat.«
Er entspannte sich. »Oh. Was das angeht, Mr. Benedict hat es von seiner letzten Europareise mitgebracht. Er fährt jedes Jahr auf den Kontinent, um Kunstwerke einzukaufen.«
»Hat Mrs. Benedict ihn auf diesen Reisen begleitet?«
Angelis schüttelte die dunklen Locken. »Es waren reine Geschäftsreisen, Inspector.«
Also war Allegra, die wahrscheinlich um ihr Leben gerne mit Benedict auf Reisen gegangen wäre, daheim in Surrey zurückgeblieben, mit nichts zu tun außer stundenlang auf ihrem Flügel zu spielen.
Ich kam wieder auf den Samstagnachmittag zu sprechen. »Um welche Zeit ist Miss Marchwood hier eingetroffen auf der Suche nach Mrs. Benedict?«
»Das wird so kurz nach halb sechs gewesen sein«, sagte Angelis ohne zu überlegen. »Ich weiß das so genau, weil ich gerade auf meine Uhr gesehen hatte, als ich draußen in der Galerie Stimmen hörte. Wie sich herausstellte, die Stimmen von Miss Marchwood und Mr. Gray. Mr. Gray kam zu mir ins Büro und informierte mich, dass Mrs. Benedict verschwunden war. Als ich nach draußen ging, fand ich Miss Marchwood in einem sehr aufgeregten Zustand vor. Sie schluchzte unkontrolliert. Ich nahm sie mit zu mir ins Büro und gab ihr ein großes Glas Sherry. Es schien ein wenig zu helfen, auch wenn sie immer noch zusammenhanglose Dinge sagte. Sie wiederholte mehr oder weniger die Geschichte, die sie auch schon Gray erzählt hatte. Wie sie Mrs. Benedict verloren hatte. ›Sie ist weg! Einfach so verschwunden!‹, heulte sie immer wieder.
Ich hatte ohnehin überlegt, die Galerie früher zu schließen, weil wegen des schlechten Wetters sowieso nicht mehr mit Kundschaft zu rechnen war. Sobald mir klar wurde, wie ernst die Nachricht war, sperrte ich die Galerie sofort zu. Ich ließ Miss Marchwood zurück, mit der Sherry-Karaffe als Mutmacher, und ging mit Gray nach draußen, um nach der verschwundenen Ehefrau meines Arbeitgebers zu suchen.«
»Mr. Gray hat gesagt, dass er nicht im Park gewesen ist, um dort nach Mrs. Benedict zu suchen. Waren Sie im Park?«
»Nein, Inspector. Ich ging in die andere Richtung, bis hinunter zum Piccadilly Circus, immer auf dieser Straßenseite. Dann kehrte ich um und ging auf der anderen Straßenseite zurück.«
»An der Burlington Arcade vorbei?«
»Ganz recht. Der Nebel war ungeheuerlich. Ich konnte kaum sehen, wohin ich meine Füße setzte. Mir wurde bewusst, dass kaum Aussicht bestand, Mrs. Benedict zu finden. Ich fand eine Droschke und bat den Fahrer, mit mir zur Galerie zu fahren. Dort setzte ich Miss Marchwood in die Kutsche und schickte sie nach Waterloo. Hernach ging ich ein zweites Mal los und ließ Gray zurück für den Fall, dass Mrs. Benedict letzten Endes doch noch hierherfindet. Schließlich jedoch gab ich auf. Es war hoffnungslos. Ich kehrte um, schickte Gray nach Hause, schloss die Galerie ab und ging zur Wache in der Little Vine Street, um Mrs. Benedict als vermisst zu melden. Die Beamten dort nahmen eine Beschreibung ihrer Person auf. Ich hatte Miss Marchwood vorsichtshalber gefragt, was Mrs. Benedict an jenem Nachmittag angehabt hatte, und von ihr erfahren, dass sie ein braunes Kleid und einen braunen Mantel getragen hatte. Ich habe den Beamten außerdem gesagt, dass …« Angelis nahm die Faust vor den Mund und hüstelte geziert. »Ich hatte ihnen gesagt, dass Mrs. Benedict außergewöhnlich gut aussehend wäre. Anschließend ging ich zum Bahnhof von Waterloo und stieg in den Zug nach Egham. Ich begab mich zum Haus von Mr. Benedict und berichtete ihm von der Situation.«
»Er muss sehr aufgeregt gewesen sein«, bemerkte ich.
»Sehr«, sagte Angelis knapp.
Ich dankte ihm für seine Hilfe und kehrte in den Ausstellungsraum der Galerie zurück, wo Gray auf mich wartete. Er begleitete mich zur Tür und verabschiedete mich mit seiner so natürlich wirkenden, ernsten und eleganten Höflichkeit. Ich murmelte meinen Dank und trat hinaus auf die Piccadilly, froh darüber, wieder zurück im lebendigen Durcheinander der Straße zu sein. Die Passanten wirkten beruhigend normal und bildeten einen starken Kontrast zu dem exotischen Paar drinnen in der Galerie. Du gehörst nicht in die Welt der Kunst, Ross!, sagte ich zu mir. Und du musst dich auch nicht dafür schämen, dass du nichts anfangen kannst mit diesem Hokuspokus.
Als ich mich dem Eingang der Burlington Arcade näherte, stellte ich zu meiner großen Freude fest, dass Morris bereits dort war und sich mit einem uniformierten Ordner unterhielt.
»Das hier ist Harry Barnes«, informierte er mich, als ich hinzutrat. »Er hatte am Samstag Dienst, aber er erinnert sich nicht an die beiden Ladys.«
Ich wandte mich an den Ordner. Der Mann legte grüßend einen Finger an den Rand seines Hutes und musterte mich aus Augen, deren Weiß geradezu ungesund gelb wirkte. Seine Haut erschien gleichermaßen ockerfarben. Litt er etwa an Gelbsucht oder sonst einer Leberkrankheit? Ansonsten erweckte er einen gesunden Eindruck, daher nahm ich an, dass er lange Jahre in heißen und ungesunden Gegenden verbracht hatte und sich dort die Beschwerden zugezogen hatte, die alle Europäer in diesen Ländern befallen. Ein ehemaliger Soldat, vermutete ich. Wie die meisten Ordner der Burlington Arcade.
»Sind Sie sicher, was die beiden Damen angeht?«, fragte ich ihn. »Absolut sicher? Sie können sich nicht erinnern? Eine von ihnen war eine außergewöhnliche Schönheit.«
»Sehr schlechte Sicht, Sir!«, bellte Barnes ohne Zögern, wie beim Rapport gegenüber einem vorgesetzten Offizier. Dann wurde sein Verhalten etwas unsicherer. »Was nicht heißt, dass sie nicht da waren, Sir! Aber die Burlington Arcade ist immer gut besucht, wenn Sie verstehen.«
»Die betreffenden Damen haben sich an einen der Ordner gewandt, um eine Droschke herbeizuwinken«, half ich ihm weiter.
»Gut möglich, Sir. Aber ich kann es beim besten Willen nicht genau sagen. An jenem Nachmittag wurde ich von den verschiedensten Leuten gebeten, eine Droschke herbeizuwinken, Ladys und Gentlemen gleichermaßen. Viele Ladys kommen her, um in den Arkaden einzukaufen. Doch an jenem Nachmittag war es wie verhext. Nicht eine einzige Droschke war zu haben, nirgendwo. Ständig kamen Leute aus dem Nebel und stellten Fragen. Die meisten hatten sich verlaufen, und einige wussten überhaupt nicht, wo sie waren. Tut mir leid, Gentlemen, wenn ich Ihnen nicht mehr helfen kann.«
Wir entfernten uns ein wenig.
»Zu schade, wirklich«, brummte Morris.
»Was ist mit dem Juwelier?«, fragte ich gereizt. »Wie steht es mit seinem Gedächtnis?«
»Er hat bestätigt, dass Mrs. Benedict und ihre Gesellschafterin am Samstagnachmittag in seinem Laden waren, Sir. Er kennt Mrs. Benedict, und es besteht kein Zweifel an ihrer Identität. Ich fragte ihn, ob er sich erinnere, warum die beiden Damen bei ihm gewesen seien, und er antwortete, es sei um eine Brosche gegangen, die Mrs. Benedict umarbeiten lassen wollte. Ich fragte ihn, um welche Zeit sie das Geschäft verlassen hätten, und er meinte, es müsse gegen halb fünf gewesen sein. Genauer vermag er es nicht zu sagen.«
»Aber Angelis hat gesagt, dass Miss Marchwood erst um halb sechs in der Galerie ankam, und er ist sich absolut sicher, was die Zeit betrifft. Die Galerie ist wie weit von hier entfernt? Zehn Minuten, wenn überhaupt?«
»Bei gutem Wetter, Sir«, pflichtete Morris mir bei. »Im Nebel kann es durchaus länger dauern, und die Ladys sind nicht auf dem schnellsten Weg hierhergekommen.«
Ich stieß einen ärgerlichen Seufzer aus. »Ich wünschte, Tedeschi wäre genauso präzise mit seiner Antwort wie Angelis. Es sieht mehr und mehr danach aus, Morris, als gäbe es einen gewissen Zeitraum, den wir nicht belegen können. Ich muss Miss Marchwood noch einmal befragen, auch wenn ich glaube, dass es nicht weiterführt. Sie, Morris, fangen besser an, die Vermittlungen für Hauspersonal abzulaufen. Vielleicht finden wir wenigstens diesen Butler.«
Ich kehrte zum Scotland Yard zurück in der Absicht, einen Bericht, mein Gespräch mit George Angelis betreffend, für Superintendent Dunn zu verfassen. Als ich das Vorzimmer betrat, sah ich, dass es einen Besucher gab.
Er saß auf einem Stuhl und vertilgte einen großen Laib Brot mit einem Stück Käse, als hätte er den ganzen Tag noch nichts zu essen bekommen. Vielleicht war dies sogar zutreffend – er war ein zerlumpter, ungewaschener Straßenbengel von vielleicht zehn oder elf Jahren mit Stiefeln, die ihm viel zu groß waren. Neben ihm lag ein abgewetzter Filzhut auf dem Boden.
Constable Biddle saß an einem Tisch und starrte mit düsterem Blick auf den Knaben. Bei meinem Eintreten sprang er auf. »Der Straßenfeger, Sir, von der Piccadilly.«
»Gute Arbeit, Biddle«, sagte ich erfreut.
Biddle lief puterrot an.
Der Bengel sammelte die letzten Krümel Brot ein und stopfte sie sich in den Mund. Ohne mich zu beachten, wandte er sich an Biddle.
»Haben Sie noch mehr?«
»Nein, ich hab nichts mehr«, sagte Biddle unfreundlich. »Du hast mein ganzes Mittagsmahl aufgegessen, wenn du es genau wissen willst. Das dort ist Inspector Ross, also steh gefälligst auf und benimm dich!«
»Komm in mein Büro«, sagte ich zu dem Knaben.
Er klemmte sich den Hut unter den Arm und folgte mir. In meinem Büro angekommen, blickte er sich erst einmal ungeniert um.
Ich setzte mich hinter meinen Schreibtisch und hoffte, dass er beeindruckt war. Ich fürchtete allerdings, dass diese Hoffnung vergeblich war.
»Wie heißt du?«, fragte ich ihn.
»Charlie«, antwortete er.
»Charlie wie?«
»Nein!«, antwortete er entrüstet. »Da haben Sie den falschen. Sie suchen wahrscheinlich Percy Wie. Er kehrt aber in einer anderen Gegend, in Strand.«
»Ich meinte, wie du weiter heißt. Deinen Familiennamen«, sagte ich geduldig.«
»Ich hab keine Familie«, sagte der Knabe prompt.
»Aber du musst doch noch einen weiteren Namen haben außer Charlie?«
»Ach, das meinen Sie. Klar«, sagte der Junge endlich. »Die Leute rufen mich Charlie Tubbs.«
»Dann heißt du also Tubbs mit Nachnamen. Wo wohnst du, Charlie Tubbs?«
»Nirgendwo«, antwortete der Knabe.
»Und wo schläfst du nachts?«
»Meistens in Hauseingängen.«
Wahrscheinlich sagte er die Wahrheit.
»Nun denn, Charlie Tubbs, wenn ich richtig informiert bin, kehrst du Fußgängern den Weg über die Straße frei, am Piccadilly.«
»Zwischen dem Circus und der St. James Street, genau«, sagte der Junge mit einem Kopfnicken.
»Ist es ein guter Platz zum Arbeiten?«
»Jepp!«, sagte der Junge. »Es ist die Gegend, wo die Stenze und ihre Ladys einkaufen gehen. Sie wandern mit ihren polierten Stiefeln die Straße hoch und runter, und die Frauen in ihren Reifröcken mit dem glänzenden Stoff und den vielen Spitzen. Sie überqueren die Straße nicht so gerne, wegen all dem Dreck und dem Pferdemist und so. Also renne ich hin und biete ihnen an, den Weg für sie freizukehren, und sie sind sehr zufrieden darüber.«
»Du warst letzten Samstagnachmittag dort?«
»Ich bin immer dort«, antwortete der Junge.
»Es war sehr neblig.«
»Als wüsste ich das nicht selbst!«, erwiderte Charlie Tubbs mit tiefer Inbrunst. »Es waren überhaupt keine Leute unterwegs! Ich dachte schon, ich würde überhaupt kein Geld verdienen. Es war außerdem kalt und feucht. Ein heißes Stück Pastete wäre genau das Richtige gewesen. Es gibt einen kleinen Stand am Circus. Ich musste den ganzen Nachmittag an Pastete denken.«
»Was geschah dann? Nachdem sich der Nebel herabgesenkt hatte und du in der Hoffnung auf einen Kunden die Straße rauf und runter gelaufen bist?«
»Ich hörte Stimmen. Frauenstimmen. Sie klangen sehr vornehm, klangen sie. Also näherte ich mich dem Geräusch. Frauen überqueren die Straße ganz besonders ungern, wenn viel Verkehr herrscht wie in der Piccadilly. Man kommt kaum über die Straße, ohne in einen Pferdeapfel …«
»Ja, Tubbs, schon gut! Konntest du hören, was die beiden Frauen geredet haben?«
»Jepp«, sagte Tubbs und hielt dann inne, um mich erwartungsvoll anzusehen.
»Sprich weiter, worauf wartest du?«, forderte ich ihn auf.
»Was ist Ihnen die Information wert?«, wollte das unverschämte Kind wissen.
»Eine Ohrfeige, falls ich zu dem Schluss gelange, dass du frech bist«, schnappte ich. »Oder ich befehle Constable Biddle, dich in eine Zelle zu sperren, bis du dich eines Besseren besinnst.«
Tubbs war unbeeindruckt. »Ich könnte draußen in der Piccadilly kehren und Geld verdienen. Stattdessen sitze ich schon wer weiß wie lange rum und warte auf Sie.« Er wies mit dem Kopf in Richtung Vorzimmer.
»Du hast zu essen bekommen. Los doch, Tubbs, rede! Was haben die Damen gesagt?«
Tubbs kam irgendwie zu dem Schluss, dass es klüger wäre, die Information preiszugeben und später nach einer Belohnung zu fragen.
»Eine der beiden sagte, dass es wirklich besser wäre, nach Hause zu fahren. Die andere sagte, sie sagte …« Tubbs atmete tief durch und fuhr mit ganz passabler Frauenstimme fort: »›Aber wir sind so nah!‹«
»Wie klang ihre Stimme?«, fragte ich. »Nein, nein, bitte versuch nicht schon wieder, sie zu imitieren. Sag es einfach. Redete sie leise? Laut? Wie klang sie? Besorgt? Alarmiert?«
»Sie sprach sehr leise. Ich konnte sie kaum verstehen«, antwortete Tubbs. »Außerdem redete sie ein wenig eigenartig. Ich schätze, sie kam nicht aus London. Ich kenne die meisten Londoner Dialekte. Sie war von außerhalb. Sie klang so ähnlich wie die alte Martini, die unten in der Old Bond Street einen Kaffeestand führt.«
Gott segne alle Londoner Gassenjungen! Ihnen entging aber auch gar nichts. Eine der Frauen war zweifellos Allegra Benedict gewesen, die ihren italienischen Akzent nicht abgelegt hatte. Aber wir sind so nah! Nah woran? Benedicts Galerie?
»Sprich weiter«, ermunterte ich Tubbs.
»Die andere Frau«, fuhr Tubbs fort, »sie fing an zu stöhnen wegen des Nebels und wie hoffnungslos ihr Unterfangen doch sei. Doch die mit dem fremden Akzent bestand darauf, dass sie es schaffen könnten. ›Es ist so nah‹, wiederholte sie. ›Außerdem wartet er sicher.‹«
Ich wäre fast aus dem Sessel gesprungen und hatte alle Mühe, meine Erregung vor Tubbs zu verbergen. Ich wollte ihn unter keinen Umständen ermuntern zu fantasieren.
»Bist du sicher, dass sie das gesagt hat, Charlie Tubbs?«
»Absolut sicher, Sir«, antwortete der Knabe. »Ich stand bereits ganz dicht neben den Frauen. Sie hatten mich noch nicht entdeckt. Der Nebel war wirklich unglaublich dicht.
›Aber wir können ja nicht mal sicher über die Straße!‹, protestierte die andere. Das war mein Stichwort, verstehen Sie? ›Die Damen möchten über die Straße? Ich führe Sie!‹, sagte ich. Die eine kreischte leise auf, weil sie mich überhaupt nicht bemerkt hatte. Die andere, mit dem eigenartigen Akzent, sagte nur: ›Ja. Ja, Isabella! Der Junge bringt uns auf die andere Seite, und von dort aus finden wir alleine den Weg.‹ Also brachte ich die beiden Ladys über die Straße und fegte ihnen einen hübsch ordentlichen, sauberen Weg. Die erste Lady gab mir einen Sixpence. Ich rannte sogleich los und kaufte mir eine heiße Pastete von dem Geld.«
»Und die andere der beiden Frauen? Die mit dem merkwürdigen Akzent?«
Tubbs zuckte die Schultern. »Ich weiß nicht. Sie marschierte in den Nebel davon. Sie hatte es eilig, schätze ich.«
»Wieso schätzt du das?«
»Sie war ziemlich nervös. Die andere war besorgt und schreckhaft. Aber die mit dem Akzent, die hat sich benommen wie eine Katze auf einem heißen Blechdach. Aufgedreht.«
Ich gab Tubbs einen Shilling, den er mit den Zähnen testete, um sicherzugehen, dass er echt war. Dann brachte ich ihn nach draußen zu Biddle, setzte ihn vor den Constable und bat ihn, seine Geschichte noch einmal zu erzählen, genau so, wie er sie mir erzählt hatte.
»Der Constable wird alles aufschreiben und es dir vorlesen. Anschließend wirst du dein Zeichen daruntersetzen als Beweis, dass die Aussage echt ist. Verstehst du, was ich sage?«
»Krieg ich noch einen Sixpence dafür?«, fragte Tubbs hoffnungsvoll.
»Nein, kriegst du nicht. Aber wenn du ordentlich mitarbeitest, bekommst du vielleicht noch einen Becher Tee.«
Biddle bedachte mich mit einem tadelnden Blick.
»Es war eine Verabredung!«, berichtete ich Superintendent Dunn ein paar Minuten später. »Ich wette ein Pfund gegen einen Penny, dass es eine Verabredung war! Wohin auch immer die beiden Frauen wollten, es war nicht die Galerie. Sie wollten in den Park und zu dieser Eiche. Oder, wahrscheinlicher, Allegra Benedict wollte dorthin. Um sich mit jemandem zu treffen. Isabella Marchwood sollte in der Piccadilly warten, vielleicht am Eingang zum Park, oder vielleicht sollte sie auch in der Nähe des Tors auf und ab laufen, bis Allegra wieder zurück war. Das erklärt die Zeitspanne, über die Miss Marchwood sich so vage äußert. Sie hat auf die Rückkehr ihrer Herrin gewartet. Doch Allegra kam nicht zurück. Schließlich war so viel Zeit vergangen, dass ihr klar wurde, dass Allegra nicht zurückkehren würde und irgendetwas schiefgegangen war. Vielleicht hat sie sogar selbst im Park nach Allegra Benedict gesucht, doch wegen des Nebels war es aussichtslos. Daher war ihr aufgelöster Zustand – wie Angelis ihn beschrieben hat – verständlich, als sie schließlich in der Galerie auftauchte. Nicht nur, dass sie Mrs. Benedict verloren hatte, sondern sie musste auch irgendwie erklären, warum sie nicht ununterbrochen mit ihr zusammen gewesen war …
»Das ist wohl der Grund, warum Charlie Tubbs die Frau mit dem ausländischen Akzent als aufgedreht beschrieben hat. ›Wie eine Katze auf einem heißen Blechdach.‹ Sie hat sich gesorgt, sie könnte zu spät kommen, weil irgendjemand auf sie wartet. Deswegen ist das, was Harry Barnes zu sagen hatte, wahrscheinlich ebenfalls von Bedeutung.«
»Wer um alles in der Welt ist Harry Barnes? Bleiben Sie endlich mal stehen, Ross!«
Inzwischen marschierte ich vor seinem Schreibtisch auf und ab und stieß mit dem Zeigefinger Löcher in die Luft. Nur verständlich, dass der Superintendent ungeduldig wurde. Ich blieb stehen und entschuldigte mich.
»Bitte um Verzeihung, Sir. Harry Barnes ist ein Ordner, der für die Burlington Arcade arbeitet. Am letzten Samstagnachmittag hatte er Dienst am Ausgang zur Piccadilly. Isabella Marchwood sagt, sie und Mrs. Benedict hätten den Ordner gebeten, ihnen eine Droschke zu organisieren, doch er sei außerstande gewesen, die Bitte zu erfüllen. Als Morris und ich Barnes zu diesem Sachverhalt befragten, erwiderte dieser, er könne sich nicht an zwei Ladys erinnern, die ihn wegen einer Droschke angesprochen hätten. Im gleichen Atemzug jedoch machte er geltend, dass eine Menge Gäste ihn am fraglichen Nachmittag gebeten hätten, ihnen eine Transportgelegenheit zu organisieren. Wegen des Nebels habe er allerdings nicht eine einzige Droschke finden können. Es war eine konfuse Situation, und entsprechend konfus war seine Erinnerung.
Doch nehmen wir für einen Moment an, dass seine Erinnerung nicht schlecht, sondern ganz im Gegenteil ausgezeichnet ist. Der Grund, aus dem Barnes sich nicht an zwei Ladys erinnern kann, die nach einer Droschke gefragt haben, wäre in diesem Fall, dass sie keine derartige Bitte an ihn gerichtet haben. Die Kundschaft der Burlington Arcade ist wohlhabend und mit entsprechender Zuvorkommenheit zu behandeln. Barnes’ Aufgabe, abgesehen davon zu verhindern, dass unerwünschtes Volk die Burlington Arcade betritt, besteht in erster Linie darin, die zahlende Kundschaft zufriedenzustellen. Er würde sicherlich nicht behaupten, dass ein Kunde eine Lüge erzählt. Oder vielleicht erinnert er sich tatsächlich nicht. Es war ein chaotischer Nachmittag. Wie dem auch sei, seine Aussage trägt nicht gerade zur Untermauerung der Geschichte bei, die Isabella Marchwood mir erzählt hat, nämlich, dass sie den Ordner gebeten hätten, ihnen eine Droschke zu besorgen. Ich dachte zuerst, Barnes hätte uns nichts zu erzählen, doch im Gegenteil. Indem er nichts erzählt hat, haben wir eine Menge erfahren.«
»Wird diese Isabella Marchwood alles zugeben?«, fragte Dunn gelassen, als mir schließlich Dampf und Argumente ausgegangen waren. Er wirkte vollkommen unbeeindruckt von meiner messerscharfen Logik, um nicht zu sagen ausgesprochen skeptisch.
Das war kaltes Wasser für meinen Enthusiasmus. Ich musste einräumen, dass es extrem unwahrscheinlich war.
»Ich bezweifle es, Sir. Wie könnte sie? Sie würde sich selbst kompromittieren und hätte keine Möglichkeit, sich vor Benedicts Zorn zu schützen. Nein, sie wird behaupten, der Ordner hätte es vergessen … genau wie Barnes selbst es sagt. Sie wird behaupten, der Junge hätte sich verhört. Sie wird sagen, sie wären in Sorge gewesen, zu spät nach Hause zu kommen, wo Benedict auf sie wartete. Und sie wird sagen, sie und Mrs. Benedict hätten darüber gesprochen, zur Galerie zu gehen, was sie schließlich auch getan hätte.« Ich schlug mit der geballten rechten Faust in meine linke Hand. »Sie wird für alles eine fertige Antwort parat haben. Trotzdem. Ich wusste gleich, dass die Marchwood uns nicht die ganze Wahrheit gesagt hat.«
»Nein, Ross, Sie wissen es nicht. Sie haben eine Theorie, das ist alles. Wohlgemerkt, ich sage nicht, dass Sie nicht auf der richtigen Fährte sind …« Dunn hob eine massige Hand, um einem weiteren Wortschwall von meiner Seite zuvorzukommen. »Sie müssen Ihren besorgniserregenden Enthusiasmus dämpfen, wissen Sie? Wir müssen vorsichtig zu Werke gehen. Behalten Sie Ihre Erkenntnisse erst einmal für sich, seien Sie so gut. Wir wollen schließlich nicht, dass Benedict hier hereingestürmt kommt und uns beschuldigt, den Namen einer unschuldigen Frau in den Dreck zu ziehen. Wir müssen erst völlig sicher sein, Ross.«
Genau das war der Knackpunkt. Es war nämlich überhaupt nicht sicher – außer, dass ich gerade erst am Anfang dieses Rätsels stand. Ich nickte betreten.