KAPITEL EINS

 

Inspector Benjamin Ross

 

Einmal bin ich einem Mann begegnet, der auf dem Weg war, einen Mord zu verüben. Ich wusste es damals nicht. Vielleicht wusste er es selbst noch nicht. Was zu einem Verbrechen wurde, war vielleicht zuerst nur ein verschwommener Gedanke, ein kranker Traum in seinem Kopf. Hätte er den Entschluss bereits gefasst gehabt, wäre er vielleicht trotzdem vor der Tat zurückgeschreckt, hätte ihn eine natürliche Abscheu im letzten Moment abgehalten. Ein Wort hätte genügt. Ich hätte ihn vielleicht aufgehalten, indem ich ihn nur gefragt hätte, wohin des Weges, und ihn ermahnt, auf seinen Schritt zu achten. Ganz so, wie es von Polizeibeamten in der Öffentlichkeit erwartet wird. Er hätte noch genügend Zeit gehabt, sein Vorhaben zu überdenken. Vielleicht hätte er seinen Plan geändert, hätte ich ihn angesprochen. Doch wir gingen aneinander vorbei wie die sprichwörtlichen Schiffe in der Nacht, ohne uns zu sehen, und eine Frau starb.

Ich war noch nicht lange dabei, als ich von der uniformierten Polizei zur zivilen Abteilung wechselte, kaum mehr als zwei, drei Jahre. Es war zur Weltausstellung von 1851. Ich sollte mich unter das Volk mischen, lautete der Plan, um Taschendiebe und Falschgeldschieber unter den Besuchern des Crystal Palace im Hyde Park ausfindig zu machen. Ich war halbwegs erfolgreich, obwohl ich rasch herausfand, dass die kriminelle Bruderschaft (und auch die Schwesternschaft) einen Polizeibeamten innerhalb von Sekunden nach seinem Eintreffen vor Ort erkennt – gleichgültig, wie er gekleidet ist.

Mag dies sein, wie es will, ich war jedenfalls seither bei der zivilen Abteilung mit Sitz am Scotland Yard und im Lauf der Jahre bis in den Dienstrang eines Inspectors aufgestiegen. Was, wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf, gar nicht schlecht ist für jemanden, der sein Arbeitsleben als Kohlenjunge in seiner Heimat Derbyshire begann, bevor er nach London kam, um dort sein Glück zu versuchen. Die Weltausstellung jedoch werde ich nie vergessen. Ich kannte die großen Maschinen von den Zechen und Fördertürmen, doch das war gar nichts im Vergleich zu dem, was der Crystal Palace zu bieten hatte. Alle möglichen Apparate und Vorrichtungen wurden ausgestellt, prachtvolles Mobiliar und Haushaltsgeräte, wie sie der Queen zur Ehre gereicht hätten, was immer man sich nur vorstellen konnte – selbst eine Dampflokomotive, die ihre Fahrgäste über das Gelände beförderte.

Eine Sache wurde nicht in der Ausstellung gezeigt, doch sie war überall zu sehen, als ich an jenem Samstagabend sechzehn Jahre später nach Hause ging, Anfang November 1867, um genau zu sein. Eine Sache, die, wie ich schwören könnte, in der Welt außerhalb Londons ihresgleichen suchte. Nicht aus Metall, Holz, Porzellan oder Tuch geschaffen und nicht dem Kopf eines genialen Erfinders oder Handwerksmeisters entsprungen. Es kommt nicht ratternd und Dampf speiend und Öl verspritzend daher, und es ist nicht in sämtlichen Farben des Regenbogens bemalt, sondern von schmutzig gelblicher oder stumpfer grauer Farbe. Es ist lautlos, und es bildet sich aus dem feuchten Atem der Stadt daselbst. Es ist der Londoner Nebel.

Der Londoner Nebel ist wie ein lebendes Tier. Er wirbelt um einen herum und greift von allen Seiten an, er schleicht sich in die Kehle und kriecht in die Nasenlöcher. Er blendet und raubt einem die Sicht, und manchmal ist er so dicht, dass man meint, nur die Hand ausstrecken zu müssen, um eine Faustvoll davon packen zu können, wie Watte. Doch das geht natürlich nicht. Er schlüpft einem spöttisch durch die Finger und hinterlässt nichts als den teerigen Gestank auf der Kleidung, den Haaren, der Haut. Und mag man noch so angestrengt versuchen, ihn aus der eigenen Wohnung herauszuhalten, die Tür vor ihm zu versperren, er findet selbst den Weg in die heimische Stube.

An jenem Tag im November legte sich der Nebel am frühen Nachmittag auf die Stadt, und um vier Uhr hatte er Central London fest in seinem feuchten, kalten Griff und streckte die klammen Finger bis in die abgelegensten Vororte aus. Den ganzen Tag über war es mehr oder weniger ruhig gewesen. Das Wetter hatte viel damit zu tun – auch die Ganoven und Taschendiebe blieben bei Nebel lieber zu Hause. Durch die Fenster meines winzigen Büros im Scotland Yard hatte ich verfolgt, wie der Nebel dichter und dichter geworden war, und nun ging die Sonne, wo auch immer sie stehen mochte über diesem dichten grauen Leichentuch, allmählich unter, und Dunkelheit zog auf. Die Gasbeleuchtung im Gebäude machte die Welt drinnen hell und klar, doch die Düsternis vor den Fensterscheiben war bedrückend und verhöhnte unsere Bemühungen, sie auf Distanz zu halten. Beamte kamen hustend und schnaufend herein und beschwerten sich fluchend, man könne kaum die Hand vor Augen sehen. Als ich mich schließlich auf den Nachhauseweg machte, konnte man sie tatsächlich nicht mehr sehen, außer man hielt sie direkt vor seine Nase.

Superintendent Dunn ging um vier Uhr und murmelte etwas von einem Abendessen, zu dem er und seine Frau eingeladen waren, auch wenn es mir ein Rätsel war, wie er bei diesem Wetter rechtzeitig nach Hause kommen wollte, um sich fertig zu machen. Und mehr noch, wie er und Mrs. Dunn anschließend das Haus ihrer Gastgeber in Camden erreichen wollten.

»Sie können meinetwegen auch nach Hause gehen, Ross«, sagte er zu mir.

Also nahm ich ihn beim Wort und verließ das Dienstgebäude nicht lange nach ihm. Meine Absicht war es, den Fluss nicht über die Westminster Bridge zu überqueren, wie ich es normalerweise tat, sondern über die Waterloo Bridge. Es war nicht so weit zu laufen, hätte klares Wetter geherrscht. Doch bei diesem Wetter benötigte ich eine Dreiviertelstunde, bevor ich nach einigen nahezu desaströsen Zusammenstößen mit einem Dutzend verschiedener Hindernisse am schlimmer werdenden Gestank erkannte, dass ich die große Baustelle des Uferdamms entlang der Themse erreicht hatte. Der Nebel hatte auch diese Arbeiten für den Rest des Tages zum Erliegen gebracht.

Was den Gestank anbetraf, der stieg aus der Themse auf. Außerstande, in die Höhe zu steigen, und vom Nebel an den Boden gedrückt, vermischte sich das wässrige Miasma mit all den anderen Gerüchen. Immer noch wird alles in den Fluss gekippt, obwohl Mr. Bazalgettes wundervolles neues Kanalisationssystem, das zum Teil unter meinen Füßen in der Uferböschung vergraben lag, dazu geschaffen worden war, eine von vielen Quellen der Verunreinigung zu beseitigen. Der Schiffsverkehr auf dem Fluss entlud seine Abfälle ebenfalls in das Wasser, und wenn irgendjemand aus der Gegend irgendetwas loswerden wollte, sei es Müll aus dem Haushalt oder einem Gewerbe, legal oder nicht, dann bestand der einfachste Weg darin, es zum Fluss zu schaffen und hineinzuwerfen.

Kadaver und gelegentlich auch Leichen fanden ebenfalls ihren Weg in den Fluss. Mörder rollten ihre Opfer in der Nacht lautlos über die Uferkante. Selbstmörder stürzten sich von den Brücken. Ich bin froh, dass ich nicht bei der Flusspolizei bin. Der Qualm der Lokomotiven vom großen Bahnhof von Waterloo trug seinen unverkennbaren Teil zum allgemeinen Gestank bei. Ich war daran gewöhnt. Er war mein Begleiter an jedem Abend.

Ich erreichte die große Steinbrücke mit den neun Bögen und betrat sie. Kein Wärter saß im Zollhäuschen – vermutlich, weil er annahm, dass bei diesem Wetter sowieso niemand den Fluss überqueren würde. Die Droschkenkutscher hatten den Betrieb mehr oder weniger eingestellt. Selbst bei bestem Wetter war der Verkehr über die Brücke eingeschränkt angesichts der Tatsache, dass die Londoner eine natürliche Abneigung gegen den Brückenzoll hatten und aus diesem Grund den Fluss, wenn es sich irgendwie einrichten ließ, lieber an anderer Stelle überquerten. Wenn ich mich nicht irre, haben die Erbauer der Brücke ihre Investition nie wieder hereingeholt. Es heißt sogar, am Ende müsse die Regierung die Kosten übernehmen, und das wäre das Ende des Brückenzolls, weil der Steuerzahler die Rechnung begleichen würde.

Ich marschierte los und hielt mich wohlweislich dicht an der steinernen Brüstung auf der linken Seite, die ich alle paar Schritte sicherheitshalber ertastete.

Es dauerte nicht lange, bis ich mich fühlte, als wäre ich ganz allein in dieser lautlosen Welt. Das einzige Geräusch war das gelegentliche dumpfe Hupen eines Nebelhorns. Der Flussverkehr war zum Erliegen gekommen, und die Leichter und Kähne warteten vor Anker auf das Ende des Nebels. Warnlichter waren nutzlos in diesem Wetter. Die Gaslaternen der Brücke brannten und erreichten doch nicht mehr, als dem Nebel in kleinem Umkreis einen safrangelben Schimmer zu verleihen. Ich hörte das Echo meiner eigenen Schritte von der Brüstung widerhallen. Obwohl ich mir den Schal um die untere Gesichtshälfte geschlungen hatte und meine Nase bedeckt war, fand der elendige Nebel dennoch einen Weg in meine Kehle und brachte mich zum Husten.

Ich musste die Hälfte erreicht haben, soweit ich es beurteilen kann, als mir bewusst wurde, dass ich nicht länger allein war. Schritte kamen mir entgegen. Der Nebel spielt dem Gehör manchen Streich, deswegen blieb ich stehen, für den Fall, dass ich nichts weiter gehört hatte, als mein eigenes vorsichtiges Schreiten. Doch es waren schnelle Schritte – diese andere Person rannte fast, daran bestand kein Zweifel. Diese andere Person rannte ungeachtet der schlechten Sicht und fürchtete sich offensichtlich nicht vor einer Kollision.

Mit einem Schlag war der Polizeibeamte in mir hellwach. Es ist nicht nur Furchtlosigkeit, die jemanden dazu bringt, den Hals zu riskieren. Manchmal ist es das genaue Gegenteil. Dieser anderen Person war es egal, wohin sie rannte oder ob ein Hindernis vor ihr lag. Sie lief vor etwas oder jemandem davon, so viel schien offensichtlich.

Ich wartete, wo ich war, spitzte die Ohren, lauschte. Ich schätzte, dass es sich um eine Frau handelte. Die Schritte waren leicht, nicht das massive Stampfen schwerer Männerstiefel. Tapp-tapp-tapp näherte sich das Trippeln immer mehr und schien mir so etwas wie Verzweiflung zu signalisieren. Eine Frau, allein, verängstigt, in heller Flucht über die Brücke hinweg und durch den dichten gelblichen Nebel.

»Verdammter Nebel!«, murmelte ich in meinen Schal. Ich war orientierungslos. Ich meinte sie direkt vor mir zu hören, auf der gleichen Seite der Brücke, doch sie konnte genauso gut auf der rechten Seite laufen oder sogar mitten auf der Fahrbahn. Ich bewegte mich meinerseits ein wenig mehr in die Brückenmitte. Im unwahrscheinlichen Fall, dass ein Gespann vorbeigerattert kam, konnte ich leicht zu einer Seite ausweichen. Andererseits konnte ich in dieser zentralen Position genau erkennen, ob sie rechts oder links vorbeikam, und sie – mit ein wenig Glück – abfangen. Schließlich war die Brücke nicht besonders breit. Ich überlegte kurz, ob ich sie anrufen und wissen lassen sollte, dass Hilfe nah war. Doch da sie offensichtlich bereits so verängstigt war, dass sie Leib und Leben in ihrer heillosen Flucht riskierte, konnte das unerwartete Geräusch einer fremden Stimme weiter vorn ihre Panik nur noch stärker schüren.

Biff!

Bevor ich mich’s versah, materialisierte auf Armeslänge vor mir wie aus dem Nichts eine dünne Gestalt. Ich fand gerade noch Zeit zu bemerken, dass sie einen Rock trug und dass ihr Kopf mit einer Art Hahnenkamm gekrönt war, bevor die Person im vollen Lauf gegen mich prallte. Die Kollision raubte mir den Atem. Die Welt schien auf dem Kopf zu stehen. Ich stolperte rückwärts und wäre beinahe gestürzt und hielt nur mit äußerster Mühe mein Gleichgewicht. Durch reinstes Glück erwischte ich mit rudernder Hand ein Büschel leichtes Gewebe – ein Frauenkleid –, und als ich zupackte, veranlasste mich ein entsetzter Schrei dicht neben meinem rechten Ohr um ein Haar, das Kleid wieder loszulassen. Glücklicherweise war ich geistesgegenwärtig genug, dies nicht zu tun.

»Madam!«, rief ich der Unbekannten zu, von der immer noch nichts außer einer Silhouette zu erkennen war. »Ich bin Polizeibeamter. Haben Sie keine Angst!«

Sie stieß einen weiteren schrillen Schrei aus und trommelte mit geballten Fäusten gegen meine Brust und meinen Kopf. Durch die Gerüche des Nebels stieg mir ein weiterer in die Nase: der nach billigem Parfum.

»Lassen Sie mich auf der Stelle los!«, kreischte sie. »Ich habe nichts Unrechtes getan!«

»Ich will Ihnen nichts Böses«, rief ich zurück, während wir miteinander rangelten.

Sie begriff, dass ich sie nicht loslassen würde. Es war mir sogar gelungen, ihren Arm zu packen. Unvermittelt stellte sie ihre Gegenwehr ein und flehte mit leiserer, mitleiderregender Stimme: »Tun Sie mir nichts!«

»Ich tue Ihnen doch gar nichts!« Ich hätte sie am liebsten angebrüllt, doch das hätte nur einen weiteren Anfall von Panik hervorgerufen, also bemühte ich mich nach Kräften, wie ein vernünftiges menschliches Wesen zu klingen. »Ich sagte Ihnen doch bereits, ich bin Polizeibeamter.«

Ihr freier Arm kam aus dem Dunst, und eine Hand tippte auf eine mir von früher noch recht vertraute Weise suchend über die Brust.

»Sie sind kein Constable!«, protestierte sie anklagend. »Sie tragen keine Uniform. Wo sind Ihre Messingknöpfe?«

Ich bemerkte, dass der eigenartige Kamm auf ihrem Kopf aus einer Art Hut bestand, der mit daran angehefteten Seidenblumen oder Federn verziert war. Inzwischen war ich ziemlich sicher, dass ich eine von jenen Frauen am Arm gepackt hatte, die im Allgemeinen ihre Dienste auf der Straße anbieten. Ich konnte mich täuschen. Schon möglich, dass sie eine respektable Person war. Doch das blumige Parfum, das der Jahreszeit nicht angemessene dünne Kleid und der frivole Kopfschmuck, ganz zu schweigen von der Geschwindigkeit, mit der sie meine Aussage durch Abklopfen meiner Kleidung auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüft hatte, legten etwas anderes nahe.

»Ich bin in Zivil«, sagte ich.

»Ach, tatsächlich?« Jetzt wurde sie sarkastisch. »Das ist mal was Neues. Die Kerle erzählen mir alle möglichen Geschichten, aber ein Bulle in Zivil ist mir bisher noch nicht untergekommen.«

»Mein Name ist Inspector Benjamin Ross«, sagte ich bestimmt. »Und Sie laufen vor jemandem davon.«

»Tue ich nicht!«, widersprach sie aufgebracht. »Lassen Sie mich los!«

»Bestimmt nicht«, sagte ich. »Vielleicht haben Sie jemandem die Geldböse gestohlen oder seine Uhr und Kette und laufen vor dem Gesetz davon.«

Diesmal holte sie mit der freien Hand aus und versetzte mir mit der geballten Faust einen kräftigen Hieb mitten auf die Brust. »Ich bin keine Diebin! Ich bin ein ehrliches Mädchen!«

»Sie sind ein Freudenmädchen«, entgegnete ich. Ich hätte sie auch als »gewöhnliche Straßendirne« bezeichnen können, doch vermutlich hätte mir das eine ganze Serie von Faustschlägen eingebracht. »Und Sie haben soeben einen Gesetzesbeamten geschlagen. Allein dafür kann ich Sie bereits unter Arrest stellen.«

Sie hatte während unserer Unterhaltung unablässig versucht, sich aus meinem Griff zu befreien, doch nun entspannte sie sich, was mir angesichts meiner Drohung als eigenartig erschien. Sie schwieg sekundenlang. Vielleicht dachte sie über meine Worte nach, doch ich spürte, dass es etwas anderes war. Sie lauschte. Auf einen Verfolger?

»Also schön«, sagte sie unvermittelt. »Stellen Sie mich unter Arrest.«

»Sie möchten, dass ich Sie unter Arrest stelle?« Ich versuchte mir meine Überraschung nicht anmerken zu lassen.

»Sicher. Nur zu! Stellen Sie mich unter Arrest!« Sie beugte sich vor, während sie sprach, und in den Geruch des billigen Parfums mischte sich der Geruch von Alkohol. Sie hatte eine Fahne.

»Ah«, sagte ich. »Sie nehmen offensichtlich an, in meinem Gewahrsam sicherer zu sein als in Freiheit. Sie fürchten eine Begegnung mit ihm

»Ihm?«, fragte sie erschrocken.

»Dem Mann, vor dem Sie davonlaufen. Wer ist er?«

Ich zögerte, sie zu verhaften. Sie klang sehr jung. Das war nicht anders zu erwarten. Die Mädchen auf den Straßen sind meistens jung, manche erschreckend jung, noch Kinder. Doch ich hatte sie nicht dabei ertappt, wie sie sich angeboten hatte. Ich hatte eine verängstigte junge Frau auf der Flucht angehalten. Sie nun zu einer Polizeiwache zu schleifen erschien mir nicht verhältnismäßig.

»Wie heißen Sie?«, fragte ich.

»Was interessiert Sie das?«, entgegnete sie mürrisch.

»Eine ganze Menge. Hören Sie, ich habe Ihnen auch meinen Namen genannt. Nun sprechen Sie schon. Es ist nur fair.«

»Daisy«, sagte sie nach kurzem Zögern.

»Und mit Nachnamen?«

Ein weiteres Zögern. »Smith.«

»Das glaube ich nicht«, sagte ich.

»Glauben Sie, was Sie wollen. Wenn ich sage, ich heiße Daisy Smith, dann beweisen Sie mir doch, dass es nicht stimmt.«

»Schön, Daisy Smith«, sagte ich. »Dann verraten Sie mir doch, was Sie so in Angst versetzt hat.«

»Sie haben mir Angst gemacht!«, erwiderte sie schlagfertig. »Ein Mädchen einfach so am Arm zu packen und festzuhalten! Sie haben mir vielleicht einen Schrecken eingejagt!«

»Das mag sein, aber ich wage zu behaupten, dass jemand anders Ihnen bereits einen größeren eingejagt hat.«

Weiteres Schweigen folgte. Dann wehte das traurig klagende Echo eines Nebelhorns über den Fluss. Unter unseren Füßen knirschte Holz an Stein, und eine Männerstimme rief eine Warnung. Irgendjemand war tollkühn – oder dumm – genug, um bei diesem Wetter auf dem Fluss zu fahren.

»Es steckt dahinter«, sagte sie plötzlich und so leise, dass ich es beinahe überhört hätte.

»Sagen Sie mir, wer, Daisy. Wer ist ›es‹? Ich kann Sie vor ihm beschützen«, antwortete ich genauso leise.

Sie stieß ein eigenartig gezwungenes leises Lachen aus. »Das kann niemand. Es ist nicht zu fassen, Inspector Benjamin Ross. Niemand kann es fassen, nicht ich und nicht Sie.«

»Und warum nicht?«, fragte ich.

Ein weiterer Schwall von warmem Bieratem und Parfum, so stark, dass es mich in der Nase juckte. Sie hatte ihre Lippen dicht an mein Ohr gebracht.

»Weil es schon tot ist, verstehen Sie? Es war das Phantom. Das Phantom aus der Themse. Es kriecht in nebligen Nächten ans Ufer und streift durch die Straßen. Es ist in sein Leichentuch gehüllt und versteckt sich in Türen und Gassen. Man hört und sieht es niemals, doch plötzlich spürt man die Berührung seiner Hand und seinen Geruch. Es riecht wie das Grab, nach toten Dingen und nach Blut. Das hat mich so erschreckt vorhin. Seine kalten Hände kamen aus dem Nebel und packten mich an der Kehle. Zum Glück konnte ich mich losreißen.«

»Wie das?«, fragte ich zweifelnd. Ich war daran gewöhnt, dass die Mädchen alle möglichen Geschichten erzählten, wenn sie verhaftet wurden, doch diese hier war mir neu.

Mit plötzlich nüchterner, sachlicher Stimme fuhr sie fort: »Ich habe ihm meine Finger in die Nasenlöcher gestoßen.«

Ah, richtig. Ein Mädchen, das seine Dienste auf der Straße anbot, musste diese Tricks beherrschen. Trotzdem hatte sie mir mein nächstes Argument geliefert.

»Daisy«, sagte ich leise. »Es ist kein Flussphantom oder was auch immer – nicht, wenn es Schmerz verspürt. Wer auch immer Sie gepackt hat, es war kein Geist. Es war ein Mensch aus Fleisch und Blut.«

»Und warum kommt es immer nur dann, wenn Nebel herrscht?«, wollte sie wissen.

»Weil er sich im Nebel verstecken kann«, erwiderte ich schlicht. »Und weil er nicht gesehen werden will. Das tun die meisten Kriminellen und andere Leute mit üblen Absichten.«

»Aber sie laufen nicht in Leichentüchern herum«, konterte Daisy.

Ich war entschlossen, ihr dieses überspannte Bild von ihrem Angreifer auszureden. »Sie haben ihn also gesehen? In seinem Leichentuch?«, fragte ich.

Das ließ sie für eine Sekunde zögern, bevor sie genauso bestimmt wie schon zuvor antwortete: »Nein, habe ich nicht. Aber andere. Andere haben es gesehen. Eine Freundin von mir hat es sogar ganz deutlich gesehen. Sie wartete auf Kundschaft, doch die Nacht lief schlecht, und sie hatte niemanden gefunden und Angst, ohne Geld nach Hause zu gehen.«

Das klang schon näher an der Wahrheit. Ich wusste, dass es so gut wie immer irgendeinen Mistkerl gab, der den Mädchen das Geld abnahm. Dieser »Freund« war in der Regel auch schnell mit den Fäusten dabei, wenn »sein« Mädchen am Ende der Nacht ohne Geld nach Hause kam. Ich fragte mich, ob Daisy auch so einen widerwärtigen Beschützer hatte oder ob es ihr gelungen war, ohne fremde Hilfe zu überleben.

»Sprechen Sie weiter«, forderte ich sie auf.

»Na ja, sie hörte Schritte und dachte, hey, vielleicht ist es ein Kunde! Also vertrat sie ihm den Weg. Dann teilte sich der Nebel, wie er das manchmal so tut, und der Kerl stand direkt vor ihr. Sie hat mir alles genau erzählt, das Leichentuch, einfach alles. Ganz weiß war es, und es hüllt ihn von oben bis unten ein. Auch das Gesicht, nur die Augen nicht. Aber er hat überhaupt keine Augen. Nur große schwarze Augenhöhlen, wo normalerweise Augen sein müssten. So, jetzt wissen Sie’s!«, schloss sie triumphierend.

Ich glaubte nicht an verhüllte Phantome, bei keinem Wetter. Doch hier war ein Rätsel zu lösen, und ich wollte ihm auf den Grund gehen, vorzugsweise in einer mehr komfortablen Umgebung. Ich begann zu frösteln auf der eisigen Brücke, und meine Begleiterin in ihrem dünnen Kleidchen musste halb erfroren sein.

»Gehen wir zurück über die Brücke und suchen uns ein Kaffeehaus«, schlug ich daher vor. »Sie können etwas Heißes zu trinken vertragen und mir bei einem Kaffee alles über dieses Phantom erzählen.«

Sie wand sich in meinem Griff. Sie hatte ihre Meinung geändert, was das Mitkommen anging, das war nicht zu übersehen. Vielleicht glaubte sie, ihren Verfolger abgeschüttelt zu haben. Oder dass meine Anwesenheit ihn vertrieben hätte.

»Ich gehe nirgendwohin mit einem Polizisten!«, keifte sie böse. »Nicht einmal mit einem Inspector. Sie wollen mich gar nicht in ein Kaffeehaus bringen. Ich lande ja doch nur auf dem Revier, und morgen früh stehe ich dann vor dem Friedensrichter!«

»Ich verhafte Sie doch gar nicht, Daisy«, versuchte ich sie zu beschwichtigen. »Ich will Ihnen helfen. Hören Sie mich an. Hat dieses sogenannte Flussphantom Sie schon einmal angegriffen? Und wann ist es zum ersten Mal aufgetaucht?«

»Vor vielleicht sechs Monaten«, antwortete sie vage, um dann munterer hinzuzufügen: »Sie können die anderen Mädchen fragen. Mehr als eine hatte Glück, ihm zu entwischen. Ich erfinde das nicht alles. Fragen Sie nur, fragen Sie irgendeines der Mädchen, die in der Nähe vom Fluss arbeiten, egal auf welcher Seite.«

»Und diese anderen Mädchen wurden tatsächlich angegriffen? Und das seit sechs Monaten?«

»Allerdings, das wurden sie! Wenngleich nur in Nächten wie heute, wenn sich der Nebel herabsenkt und man kaum die Hand vor Augen sehen kann. Es macht ihm nicht das Geringste aus. Es kann sehen, als wäre klarer, helllichter Tag! Es ist kein normaler Mensch wie Sie und ich. Ich stehe hier vor Ihnen, und trotzdem wissen Sie nicht, wie ich aussehe, und ich weiß nicht, wie Sie aussehen. Ich kann nicht klar sehen in diesem Nebel, und Sie können es auch nicht. Aber das Phantom aus der Themse kann es!«

Bei diesen letzten Worten wand sie sich unvermittelt wie ein Aal, und ihr Arm löste sich aus meinem Griff. Bevor ich nachfassen konnte, war sie auf und davon und im Nebel verschwunden. Ich hörte, wie sich ihre Schritte in höchster Eile entfernten.

»Flussphantom!«, murmelte ich wütend. »Pah! Das Mädchen ist nicht ganz richtig im Kopf.«

Trotzdem. Irgendjemand oder irgendetwas hatte sie angegriffen. Und dieser Irgendjemand oder dieses Irgendetwas hatte sie in kopflose, panische Flucht geschlagen.

Ich setzte meinen Weg über die Brücke fort. Inzwischen konnte ich deutlich die mächtigen Lokomotiven riechen, und ich hörte ihr dumpfes Rattern und das metallische Klirren ihrer Räder auf den Gleisen und Weichen, die in den Bahnhof von Waterloo hinein- und hinausführten. Die Lokführer ließen sich viel Zeit; die Züge wurden erst schneller, wenn sie den Bereich von Central London hinter sich gelassen hatten und der Nebel wieder aufklarte. Wie dem auch sein mochte, ich war beinahe zu Hause. Ich hatte das andere Ufer noch nicht ganz erreicht, als sich erneut Schritte näherten. Diesmal klangen sie gemessen und schwer. Männerstiefel. Der Mann marschierte munteren Schrittes voran. Ich hörte keinen Gehstock. Vielleicht machte der andere es wie ich und tastete sich an der Balustrade entlang.

Seine Silhouette tauchte vor mir auf: Männlich, eher klein, mit einem langen dunklen Mantel und einer Art Tasche in der Hand. Vermutlich ein Reisender, der soeben mit dem Zug eingetroffen war.

»Was für ein Abend, Sir!«, rief ich ihm freundlich zu.

Ein Grunzen war die einzige Antwort. Er beschleunigte seine Schritte und eilte an mir vorbei. Ich konnte sehen, dass er sich wegen des allgegenwärtigen Gestanks das Taschentuch vors Gesicht hielt und offensichtlich nicht geneigt war, es zu entfernen, um meinen Gruß zu erwidern.

Oder vielleicht wollte es mir auch beim allerbesten Willen einfach nicht gelingen, nicht wie ein Polizeibeamter zu klingen.

Andererseits bewegte ich mich in die Richtung, aus der er gekommen war, und mit jedem Schritt von ihm und mir vergrößerte sich der Abstand zwischen uns wieder, und vielleicht beruhigte ihn das aus irgendeinem Grund.

Wie dem auch sein mochte, je näher ich meinem Zuhause kam, desto beschwingter wurden meine Schritte, und bald darauf hatte ich die beiden Begegnungen auf der Brücke fast vergessen. Bis zu dem Augenblick, als es – soll man es glauben – erneut geschah!

Eine zweite Gestalt rannte in mich hinein, und eine vertraute weibliche Stimme stieß einen überraschten, erschrockenen Laut aus. »Oh. Es tut mir leid, bitte verzeihen Sie! Ich habe Sie nicht gesehen!«, ächzte sie.

Mit diesen Worten wich sie zur Seite aus und wollte an mir vorbei. Ich streckte die Hand aus und erwischte sie beim Arm.

»Lizzie? Bist du das?«

»Ben!«, rief meine Ehefrau erleichtert. »Oh Ben! Du bist es! Was für ein schrecklicher Abend!«