KAPITEL FÜNFZEHN

 

Inspector Benjamin Ross

 

Ich muss gestehen, dass ich sehr nervös war, als ich an jenem Nachmittag in Gesellschaft unserer beiden Kollegen aus dem Norden nach Clapham aufbrach. Falls Fawcett nicht in seiner Wohnung war, würde ich in den Augen von Styles und O’Reilly dastehen wie ein Tor, und Dunn würde mir die Schuld geben, dass unsere Beute verschwunden war. Fawcett würde von seiner Wirtin gewarnt werden, dass wir bei ihr zu Hause gewesen seien und nach ihm gefragt hätten, und er würde augenblicklich seine Koffer packen und verschwinden. Der Superintendent würde zu Recht darauf beharren, dass ich Scotland Yard hätte aussehen lassen wie einen Haufen von stümperhaften Trotteln. All das war überhaupt nicht weit hergeholt, denn ich war alles andere als sicher, dass wir Fawcett zu Hause antreffen würden.

Meine beiden Begleiter auf der anderen Seite schienen bester Laune zu sein. Vielleicht lag es daran, dass sie gut gegessen hatten, oder auch, weil sie volles Vertrauen in mich und meine Fähigkeiten hatten und nicht für eine Sekunde daran zweifelten, dass wir den Mann genau da antreffen würden, wo er vermutlich steckte. Oder vielleicht war es auch nur die Aussicht, Fawcett im Triumph nach Hause zu bringen, die sie in diese Stimmung versetzte. Wahrscheinlich malten sie sich bereits jetzt aus, wie sie von den Stadtvätern belobigt wurden – und von jenen Baumwollkönigen, deren Familien so gründlich hereingelegt worden waren. Ich betete im Stillen, dass wir nicht vergeblich nach Clapham unterwegs waren.

»Nun denn, Mr. Ross«, sagte Styles jovial, während wir in einer gemieteten Droschke zur Waterloo Station fuhren (die Dringlichkeit unserer Mission hatte bewirkt, dass Superintendent Dunn die Ausgabe genehmigt hatte). »Ihr Superintendent glaubt also, unser Mann wäre nicht nur ein talentierter Hochstapler, sondern auch ein Mörder. Ist das auch Ihre Meinung?«

Während er sprach, fixierte er mich mit einem scharfen Blick, der seinen beiläufigen Tonfall Lügen strafte.

»Nach Lage der Dinge – nein«, erwiderte ich. »Ich bin anderer Meinung. Fawcett spielt sicherlich eine Rolle bei der Ermordung von Allegra Benedict. Wenn ich mich nicht irre, wurde sein Name benutzt, um die unglückselige Frau an jenem Samstag in den Park zu locken. Ob Fawcett davon wusste, ist eine andere Frage. Wie dem auch sei, bevor er nicht gesteht, eine wie auch immer geartete Beziehung mit der Toten gehabt zu haben, komme ich nicht weiter. Ich glaube nicht, dass Fawcett die Schnur um ihren Hals gelegt und sie erdrosselt hat. Andererseits, wenn er es nicht getan hat, wer war es dann? Das ist zumindest die Argumentation von Superintendent Dunn. Ich würde Fawcett gerne noch einmal befragen, bevor Sie ihn mit nach Manchester nehmen.«

»Ich bin sicher, das wird sich einrichten lassen«, rumpelte Styles. »Obwohl ich bezweifle, dass Sie die Wahrheit aus diesem Kerl herausbekommen. Er ist ein gerissener und zwanghafter Lügner. Wenn Sie mich fragen, er gehört zu jener Sorte von Betrügern, die sich so sehr mit ihrer Rolle identifizieren, dass sie am Ende selbst glauben, was auch immer sie zu sein vorgeben. Wie ein Schauspieler auf der Bühne, wissen Sie? Hier in London spielt unser Mann die Rolle eines Predigers, der gegen die Trunksucht angeht, und er hat sich als äußerst erfolgreich erwiesen. Es ist eine Schande, dass er seine Fähigkeiten niemals wirklich in den Dienst einer Sache gestellt hat.«

Oder ein Segen, dachte ich, als ich an Lizzies Bemerkung dachte, dass Fawcett jeden überzeugen konnte, mehr oder weniger alles zu tun.

Es war nur eine kurze Fahrt mit dem Zug von Waterloo nach Clapham. Während wir über die Gleise schaukelten, gingen meine Gedanken zu Isabella Marchwood, die irgendwo auf dieser Strecke den Tod gefunden hatte. Wir hatten auch in diesem Fall keinerlei Fortschritte gemacht. Burns hatte nichts gefunden, trotz umfassender Erkundigungen auf sämtlichen Bahnhöfen zwischen Egham und Waterloo.

»Warum bloß?«, murmelte ich vor mich hin, und meine beiden Begleiter sahen zuerst mich an und dann einander. Ich musste mich mehr bemühen, meine Gedanken bei mir zu halten. Trotzdem. Warum hatte die Eisenbahnpolizei trotz aller Mühen nicht eine einzige Person finden können, der am Morgen von Isabella Marchwoods Tod irgendetwas Verdächtiges aufgefallen war? Meine Gedanken wanderten weiter zu dem uniformierten Ordner von der Burlington Arcade, Harry Barnes. Auch er hatte uns keine spezifischen Informationen liefern können, doch diese Tatsache hatte mich zu dem Schluss geführt, dass die Geschichte, die Isabella Marchwood erzählt hatte, nicht ganz der Wahrheit entsprach. Hatte die Eisenbahnpolizei vielleicht deswegen niemand Verdächtigen finden können, weil die fragliche Person ständig zwischen Egham und Waterloo hin und her fuhr? Weil ihr Gesicht bekannt war? Weil der Mörder regelmäßig in den Zug stieg? Die Bahnsteige mit der Sicherheit langer Gewohnheit überquerte? War der Mörder letzten Endes vielleicht doch Sebastian Benedict?

Er war der erste Verdächtige des Superintendents gewesen, auch wenn Dunn diese Theorie bereitwillig zu Gunsten von Fawcett als Täter hatte fallen lassen. Aber wäre Fawcett wirklich das Risiko eingegangen, in den Zug zu steigen und sein Opfer am helllichten Tag zu erdrosseln? Isabella hätte ihn fraglos zu sich ins Abteil gelassen. Sie hätte keine Angst vor ihm gehabt und keinen Grund, mit einem mörderischen Angriff zu rechnen. Es wäre ein Leichtes für Fawcett gewesen, seine niederträchtige Tat zu begehen.

»Verraten Sie mir eins, Inspector«, sagte ich zu Styles – da er mich um meine Meinung gefragt hatte, hatte ich das Recht, ihn auch um seine zu bitten. »Sie kennen diesen Fawcett länger als ich. Würden Sie sagen, dass er imstande ist, einen Mord zu begehen?«

»Keinen kaltblütig geplanten«, erwiderte Styles nach kurzem Überlegen. »Nicht, weil er nicht die Fähigkeit hätte zu planen, ganz im Gegenteil. Er ist so gewieft wie ein Karren voller Affen. Trotzdem sehe ich ihn nicht, wie er die bewusste Entscheidung trifft, einen anderen Menschen zu töten. Es ist nicht seine Art. Er ist jemand, der sich auf seinen Charme verlässt und auf seine Schlagfertigkeit, um sich aus jeder Klemme zu befreien. Aber Sie wissen genauso gut wie ich, Ross, dass längst nicht jeder Mord sorgfältig geplant wurde. Mehr oder weniger jeder Schurke ist imstande zu töten, wenn er unerwartet in eine Ecke gedrängt wird und in Panik gerät. Was, wenn unser Hochstapler sich bedroht fühlte?«

»Ich bin nicht sicher, ob Sie mit dem Superintendent übereinstimmen oder mit mir«, sagte ich übellaunig.

»Hey«, meldete sich O’Reilly zu Wort. »Falls Sie ihn erneut befragen – was auch immer er sagt, genießen Sie es mit gehöriger Vorsicht, Sir. Er hat eine äußerst lebhafte Fantasie, unser Jeremiah Basset – oder Joshua Fawcett, wie er sich hier bei Ihnen nennt.«

Ich vermutete stark, dass O’Reilly recht hatte. Aber war Fawcett unser Mörder? Das ist nicht die Art und Weise, wie ein Hochstapler arbeitet, sagte ich mir einmal mehr. Ich denke das, Styles denkt das, selbst wenn er sich vorsichtig ausdrückt mit seiner Antwort. Aber irren wir uns beide? Ein Mann, der verzweifelt genug ist, hat Styles eben gesagt …

»Ich vermute, Sie sind kein Londoner, Mr. Ross?«, beobachtete Styles unvermittelt und riss mich aus meinen Gedanken.

»Nein«, antwortete ich. »Ich komme aus Derbyshire.«

»Tatsächlich? Und was hat Sie nach London geführt?« Beide, sowohl Styles als auch O’Reilly, starrten mich verblüfft an.

»Ich hatte gehofft, hier ein Vermögen zu machen«, antwortete ich ironisch.

»Was denn, als Polizeibeamter?«, warf O’Reilly ein und stieß einen Pfiff aus.

»So schlecht habe ich es nicht getroffen!«, erwiderte ich grob. »Für einen Jungen, der in den Kohlengruben angefangen hat!«

»Ich habe zufällig eine Tante in Derbyshire«, rumpelte Styles. »Sie wohnt in Ashby-de-la-Zouch. Als junges Mädchen hatte sie einen ganz schlimmen Unfall, der darin resultierte, dass sie heute mit einem Holzbein durch die Gegend läuft.«

Ich machte mich innerlich darauf gefasst, mir die Geschichte von Styles’ Tante und ihrem verlorenen Bein anzuhören. Glücklicherweise waren wir da, bevor er richtig loslegen konnte.

Wir fanden das Haus, in dem unser Mann logierte, ohne weitere Mühen. Dort angekommen, blickten wir hinauf zu den Erkerfenstern und fragten uns, ob er uns hinter den Gardinen beobachtete und sich fertig machte zur Flucht.

»Gibt es einen Hintereingang?«, wollte Styles wissen. Plötzlich wirkte er gar nicht mehr so zuversichtlich. »O’Reilly, Sie gehen besser nach hinten und passen dort auf. Falls er uns bemerkt, wird er versuchen zu fliehen.«

»Möglicherweise gibt es eine Gasse hinter dem Garten«, sagte ich beim Gedanken an mein eigenes Haus. »Einen hinteren Zugang für Lieferanten.«

O’Reilly trottete gehorsam davon, um Fawcett jede Fluchtmöglichkeit nach hinten abzuschneiden. Styles und ich gingen zur Vordertür. Er kontrollierte noch einmal den Haftbefehl in seiner Manteltasche, und ich hob die Hand, um den Messingklopfer zu betätigen. Er war geformt wie ein Hufeisen. Vielleicht brachte uns das Glück.

Zuerst jedoch schien es nicht so. Die Tür wurde von einer pummeligen, respektabel dreinblickenden Frauensperson in einer Schürze geöffnet. Das Kleidungsstück sah aus, als hätten wir seine Trägerin bei der Zubereitung von Kuchenteig gestört.

Wir erkundigten uns, ob Mr. Joshua Fawcett zu sprechen sei.

»Du lieber Himmel, gibt es etwa noch mehr Probleme mit einem seiner geretteten Schäfchen?«, fragte die Wirtin. »Der arme Mr. Fawcett war am Donnerstag die ganze Nacht außer Haus, nachdem zwei Polizeibeamte hergekommen waren, um ihn zu sprechen. Er hat mir hinterher erzählt, als er wieder zu Hause war, dass er als Leumundszeuge für einen der armen Kerle auftreten musste, die er überzeugt hat, vom Alkohol abzulassen, und der wieder rückfällig geworden und auf die schiefe Bahn geraten war. Mr. Fawcett hat wirklich alles getan, was in seiner Macht stand, um dem Burschen zu helfen.«

Ich wechselte einen Blick mit Styles, der die buschigen Augenbrauen hob. Wir hatten beide keine Zweifel, dass Fawcetts geniale Schlagfertigkeit ihn auch diesmal nicht im Stich gelassen hatte. Er war zu Hause von der Polizei abgeholt worden, hatte die gesamte Nacht in Polizeigewahrsam verbracht und es dennoch geschafft, dieser vertrauensseligen Frau einzureden, dass er wegen einer guten Sache unterwegs gewesen war.

»Bitte erschrecken Sie nicht, Ma’am«, sagte ich. »Wir möchten lediglich mit Mr. Fawcett reden. Wenn Sie ihn informieren könnten, dass wir hier sind und ihn zu sprechen wünschen?«

»Ach, du meine Güte, Gentlemen!«, sagte die Wirtin freundlich. »Normalerweise wäre das sicherlich kein Problem, aber heute …«

Mein Mut begann zu sinken. Styles murmelte etwas Unverständliches in seinen Bart.

»Ist … ist er nicht zu Hause?«, krächzte ich.

»Nein, Sir.«

»Man hat uns informiert«, sagte ich verzweifelt, »dass er samstags zu Hause anzutreffen wäre, wo er an seiner Sonntagspredigt schreibt …« Wie dürftig das klang! Was war nur in mich gefahren, dass ich mir einen derartigen Unsinn von ihm aufschwatzen lassen hatte?

»Nun ja, meine Herren, normalerweise ist das auch so, bloß heute ist er nicht im Haus. Er ist ausgegangen.«

»Ausgegangen? Wohin?«, platzte Styles hervor.

»Er ist zum Tee bei einer Lady, die selbst Mitglied seiner Kongregation ist«, berichtete die Wirtin. »Sie wohnt in Clapham und lädt manchmal zu sich nach Hause ein. Heute ist so ein Treffen bei ihr.«

»Mrs. Scott!«, rief ich. Indem ich mich zu Styles umwandte, fuhr ich hastig fort: »Das Haus heißt Wisteria Lodge, und ich weiß, wo wir es finden. Meine Frau war kürzlich dort.«

Ich dankte der befremdeten Wirtin, indem ich ihre endlosen Lobeshymnen auf den ausgezeichneten Mieter und seine unermüdlichen Bemühungen um die armen verlorenen Seelen unterbrach, während Styles losging, um O’Reilly in der Gasse abzuholen, wo der Sergeant im Hinterhalt gelauert hatte. Wir machten uns forschen Schrittes auf den Weg zur Wisteria Lodge. Meine beiden Begleiter waren inzwischen genauso angespannt und nervös wie ich selbst. Fast rannten wir, so eilig hatten wir es.

Dann standen wir vor der Villa von Mrs. Scott und überlegten, wie wir am besten vorgehen sollten. O’Reilly wurde erneut nach hinten geschickt. Styles und ich näherten uns der Vordertür. Wir waren noch nicht ganz angekommen, als wir aus dem Innern des Hauses auch schon das muntere Geschnatter von Stimmen und das Klimpern von Porzellan vernahmen.

»Sie scheint eine Menge Leute hier zu haben, die ihm lauschen wollen«, flüsterte Styles. »Wie wird sie darauf reagieren, wenn wir auftauchen?«

»Ungehalten«, antwortete ich. »Höchst ungehalten. Es ist besser, wenn Sie den Haftbefehl bereithalten. Sie wird danach verlangen.«

Die Haushälterin öffnete und zeigte keinerlei Überraschung. Sie trat sogar zur Seite und ließ uns eintreten, während sie uns anlächelte und einladend winkte.

»Der ehrenwerte Reverend hat erst vor ein paar Minuten angefangen«, sagte sie.

Mir wurde klar, dass sie uns für Gäste hielt, die gekommen waren, um den Vortrag zu hören. Von hier drinnen konnte ich Fawcetts wohlklingende Stimme hören, die in einem fort redete. Mein Herz machte einen Sprung. Er war hier!

»Wir würden gerne Mrs. Scott unter vier Augen sprechen«, sagte ich. »Wäre es möglich, sie nach draußen zu bitten, ohne die Aufmerksamkeit der übrigen Gäste von der Rede des Reverends abzulenken? Wir möchten den Redner nicht stören«, fügte ich doppeldeutig hinzu.

Fawcett würde dennoch auf der Hut sein. Wenn er bemerkte, dass wir hier waren, würde er sofort wissen, dass wir etwas Neues gegen ihn in der Hand hatten. Hoffentlich war O’Reilly auf seinem Posten.

Die Haushälterin zögerte. Endlich bemerkte sie, dass etwas nicht stimmte.

»Ich bin Inspector Ross«, sagte ich. »Meine Frau war kürzlich hier, um mit Mrs. Scott zu reden.«

Die Haushälterin entspannte sich jetzt wieder. »Oh, richtig, Mrs. Ross. Ich erinnere mich. Wenn die Herren bitte einen Moment warten würden?«

Sie ging zu einer Tür auf der linken Seite der Halle, die allem Anschein nach in den Salon führte. Von dort kamen auch die Stimmen und das Klimpern von Porzellantassen. Rasch bewegte ich mich zurück zur Türschwelle und warf einen schnellen Blick durchs Fenster. Der Raum war voller Menschen, hauptsächlich Damen. Und da stand unser Mann! Mitten im Raum – glücklicherweise sah er nicht in meine Richtung –, ein richtiger Dandy in Frack, Hosen und Krawatte mitsamt Diamantnadel, weitschweifig gestikulierend, während er argumentierte. Ich sah, wie die Haushälterin das Zimmer durchquerte und sich nach unten beugte, um ihrer gnädigen Herrin diskret ins Ohr zu flüstern. Fawcett, ganz in seine Ansprache vertieft, bemerkte nichts von alledem.

Machen Sie das Beste draus, Joshua Fawcett, dachte ich. Es wird die letzte Rede für eine lange Zeit sein, die Sie vor einem Publikum halten.

Ich kehrte zu Styles in der Halle zurück. Er hob die buschigen Augenbrauen, und ich nickte bejahend. Er grinste in seinen buschigen Bart und enthüllte starke, weiße Zähne, ein Raubtier, das bereit war, sich auf seine Beute zu stürzen.

Ein Rascheln von Seide und Röcken, und plötzlich stürzte sich Mrs. Scott mit einem militanten Glitzern in den Augen auf uns.

Indem sie mich korrekt identifizierte, ließ sie Styles links liegen und wandte sich an mich. »Das ist nun wirklich nicht der passende Augenblick für einen Besuch, Inspector Ross! Sie und Ihre Frau scheinen wohl beide zu denken, dass Sie zu jeder Tages- und Nachtzeit vor meiner Haustür auftauchen und Einlass erwarten können. Ich habe eine Gesellschaft im Haus. Gehen Sie weg!«

Das war deutlich genug. Styles gefiel es nicht. Er hatte eine finstere Miene aufgesetzt und kramte nach seinem Haftbefehl.

»Das hier ist Inspector Styles, der eigens von der Polizeibehörde in Manchester hergekommen ist«, sagte ich zu Mrs. Scott.

Sie starrte Styles an, der ihren Blick ungerührt erwiderte. »Ach, tatsächlich?«, sagte sie herablassend. »Und ich vermute, in Manchester ist es üblich, dass man zu jeder beliebigen Tages- und Nachtzeit Hausbesuche unternimmt?«

Aus dem vollen Bart von Styles erklang ein tiefes Rumpeln, das an einen vor dem Ausbruch stehenden Vulkan erinnerte.

»Inspector Styles hat einen Haftbefehl für einen Mann«, beeilte ich mich zu sagen, »von dem wir annehmen, dass er einer Ihrer Gäste ist.«

Styles hielt ihr den Haftbefehl hin. Er wurde ihm aus der Hand gerissen.

»Pah!«, sagte die Lady, nachdem sie ihn gelesen hatte. Sie streckte ihn Styles hin, und er nahm ihn hastig wieder in Besitz. »Dieser Haftbefehl ist ausgestellt auf eine Person namens Jeremiah Basset. Ich kenne die Namen sämtlicher Gäste in meinem Haus, Inspector, und keiner von ihnen heißt Basset.«

»Das mag sein«, sagte ich. »Sie kennen diesen Mann unter dem Namen Fawcett.«

Ein erschrockenes Ächzen folgte auf meine Worte, und tiefe Röte stieg ihr in die Wangen. »Unsinn!«, schnappte sie.

»Keineswegs, Madam. Er wurde erkannt und identifiziert. Er hat in der Vergangenheit zahlreiche Namen getragen. Ich muss Sie bitten, uns nicht an der Ausübung unserer Pflicht zu hindern.«

Styles wartete nicht ab, bis die Höflichkeiten ausgetauscht waren. Er schob sich einfach an ihr vorbei und eilte zur Salontür.

»Wagen Sie es nicht, meine Gäste zu stören!«, protestierte Mrs. Scott so laut, dass es im Salon deutlich zu hören war.

»Verdammt!«, murmelte ich und rannte an ihr vorbei hinter Styles her.

Die Tür flog auf, und wir platzten in die Versammlung. Das resultierende Durcheinander war vorhersehbar, aber dennoch beeindruckend. Damen kreischten, die wenigen anwesenden Gentlemen sprangen auf, Porzellan fiel zu Boden und zersprang, Tee und Gebäck segelten durch die Luft. Ein Papagei gab eine Serie von ohrenbetäubenden Schreien von sich, während er mit den gestutzten Flügeln flatterte und in Panik zwischen den Drahtwänden seines Käfigs hin und her sprang.

Inmitten von alledem stand Fawcett. Er reagierte genauso, wie es zu erwarten stand. Beim ersten Anblick von Styles’ stämmiger, bärtiger Gestalt wandte sich der falsche Prediger ohne weitere Umschweife zur Flucht. Er rannte in Richtung einer Tür auf der anderen Seite des Salons. Styles und ich setzten zur Verfolgung an, jedoch wurden wir von der aufgebrachten Menge und von den kleinen Tischen überall im Raum behindert. Die Tische kippten um, weiteres Gebäck wurde verstreut, neuerliche Schreie und Klagerufe erhoben sich und wenigstens zwei der Ladys wurden ohnmächtig. Zwei der anwesenden Gentlemen versuchten uns zu packen, doch wir stießen sie beiseite, und einer der beiden fiel über eine Vitrine, die er mit sich riss. Der Inhalt verstreute sich scheppernd über den Boden.

Die Tür, durch die Fawcett zu flüchten versuchte, führte in ein weiteres Zimmer auf der Rückseite des Hauses. Wir sprangen hinter Fawcett her und kamen gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie er durch ein Fenster nach draußen in den Garten kletterte.

Es war ein schmales Fenster, und in unserem Eifer, den Fliehenden zu packen, behinderten Styles und ich uns gegenseitig. Ich war schlanker und beweglicher als mein Begleiter und kletterte schließlich zuerst hindurch. Hinter mir hörte ich den wesentlich schwerer gebauten Styles laut fluchen, während er sich durch die enge Öffnung zwängte.

Fawcett sprintete unterdessen über den Rasen auf ein paar Rhododendren zu. Er schien genau zu wissen, wohin er wollte. Irgendwo muss es ein Tor geben …, dachte ich, während ich hinter ihm herhechelte. Er weiß, wo es ist. Wo steckt O’Reilly?

Wie als Antwort auf meine Gedanken trat O’Reilly genau in diesem Augenblick zwischen den Rhododendren hervor. Fawcett, vom eigenen Schwung vorangetragen, hatte keine Chance mehr, O’Reilly auszuweichen. Die beiden prallten mit einem lauten Geräusch zusammen. Der Sergeant wurde umgerissen, und Fawcett verlor das Gleichgewicht. Sie gingen gemeinsam zu Boden, wo sie verkrümmt liegen blieben, außerstande, irgendetwas zu tun, bevor Styles und ich bei ihnen waren. Wir packten Fawcett und rissen ihn auf die Beine. Der stöhnende O’Reilly musste alleine sehen, wie er wieder hochkam.

»Jeremiah Basset!«, polterte Styles. »Ich habe hier einen Haftbefehl gegen Sie …«

Fawcetts wilder Blick war auf mich gerichtet. Verschwunden war jeglicher Rest von Urbanität. Das dort war eine gejagte Kreatur in der Falle, atemlos und zerzaust. Der vornehme Frack und die Hosen waren verdreckt, und er war irgendwo – wohl beim Klettern durch das Fenster – hängen geblieben und hatte sich einen langen Riss am Ärmel zugezogen.

»Ich habe es nicht getan!«, heulte er.

»Der Haftbefehl«, informierte ich ihn, »bezieht sich auf Ihre Straftaten in Manchester. Sie haben offensichtlich in ganz ähnlicher Weise wie hier unter falschem Vorwand Geld erschwindelt. Zwecklos, etwas abstreiten zu wollen. Jetzt wartet das Gericht auf Sie.«

»Ich habe das getan, es stimmt«, schluchzte er. »Aber mit der anderen Sache habe ich nichts zu tun! Ich schwöre es, Mr. Ross! Ich hatte keine Hand im Spiel beim Tod von Allegra Benedict oder Isabella Marchwood! Ich schwöre bei Gott, ich bin kein Mörder!«

O’Reilly war unterdessen wieder auf den Beinen. Er zog ein Paar Handschellen aus der Tasche.

»Legen Sie ihm die Dinger an«, befahl Styles.

Fawcett starrte benommen auf seine gefesselten Hände, dann hob er den Blick und sah mich beinahe flehend an. »Sie glauben mir doch, Mr. Ross? Bitte, Sie müssen mir glauben!«