KAPITEL SIEBZEHN
Inspector Benjamin Ross
Ich habe alle möglichen Arten von Mördern gesehen. Manche waren arrogant, manche finster, andere trotzig, einige wenige reuig. Manche gestehen ihre Taten, andere bestreiten sie noch auf dem Schafott. Hin und wieder scheint der ein oder andere befremdet, wie er überhaupt in eine solch traurige Lage kommen konnte. Dieser hier jedoch war einer der eigenartigsten von allen. Ein unbedeutender kleiner Mann mit Schmalzlocken und einem nervösen Tick im Mundwinkel, der ständig die Augen rollte und dessen Hände unablässig zuckten. Abwechselnd überheblich und selbstmitleidig war er vor allem anderen überzeugt von der Rechtmäßigkeit seiner grausigen Taten.
Dies war in der Tat unser Mörder: Owen Pritchard, von Beruf Metzger. Es war ein Fehler von mir gewesen, die Möglichkeit nicht weiter zu verfolgen, dass das Phantom und der Mörder von Allegra Benedict ein und dieselbe Person sein könnten. Es würde mir eine Lektion sein, sinnierte ich. Solange man seinen Mann nicht kennt und nicht weiß, wie sein Gehirn funktioniert, darf man keine voreiligen Schlüsse ziehen.
Inzwischen hatten wir die Räume durchsucht, in denen Pritchard wohnte, über seinem Metzgerladen in Clapham, und dort hatten wir ein Knäuel jener dünnen Kordel gefunden, mit der Clarissa Brady, Allegra Benedict und Isabella Marchwood erdrosselt worden waren. Vielleicht hätte er die gleiche Kordel auch benutzt, um meine Frau zu erdrosseln, hätte er sie an jenem Sonntagnachmittag vor dem Saal der Temperenzbewegung dabeigehabt, doch das hatte er nicht. Er hatte sein Phantomkostüm mitgebracht und die Maske, weil er später an jenem Abend vorgehabt hatte, auf dem Heimweg nach Clapham die Straßenmädchen zu erschrecken und zu verjagen. Aber er hatte die Schnur nicht mitgebracht, und das war ein Segen gewesen.
Alles hätte schrecklich anders verlaufen können. Noch immer erstarrte mir das Blut in den Adern bei dem Bild, das mir immer wieder vor Augen stand: Pritchard in seiner Verkleidung, wie er sich mit einem Stück Schnur in den Händen von hinten an die ahnungslose Lizzie heranschlich …
Doch so weit war es nicht gekommen. Lizzie hatte sich gerade noch rechtzeitig umgedreht, und Pritchard war gezwungen gewesen, die bloßen Hände zu benutzen. Und er hatte noch nicht mit bloßen Händen getötet. Er hatte keine Gelegenheit gehabt zum Üben, wie er es bei der armen Clarrie Brady getan hatte, vor dem Mord an Allegra Benedict. Lizzie hatte sich mit aller Kraft zur Wehr gesetzt … und Bessie und Daisy waren rechtzeitig hinzugekommen.
All das weiß ich und sage es mir auch immer wieder, aber das Bild hat mich nie verlassen. Manchmal träume ich noch heute, dass es geschieht. In meinem Albtraum stehe ich dabei, ein von Grauen geschüttelter Zuschauer, außerstande, die Tat zu verhindern. Ich will eine Warnung rufen, doch meine Stimme bleibt mir im Hals stecken, und heraus kommt bloß ein Flüstern. Ich will zu ihnen rennen, Pritchard packen und Lizzie retten. Doch meine Beine sind wie angewurzelt. Das ist der Augenblick, in dem ich schweißgebadet und voller Angst aufwache. Lizzie wacht meistens ebenfalls auf und fragt mich, was denn los ist, und ich sage ihr, es sei lediglich ein Traum gewesen, und schiebe die Schuld auf das Bier, das ich zum Abendessen getrunken habe.
Ein Knäuel Schnur, wie wir es in Pritchards Wohnung gefunden hatten, findet sich in zahlreichen Haushalten, und kein Gericht hätte dies als einen Beweis für seine Schuld zugelassen. Doch wir hatten noch mehr gefunden. Versteckt unter einem Dielenbrett in seinem Schlafzimmer lag Allegras pinkfarbener Wildleder-Pompadour, und in ihm war noch die vollständige Summe Geldes, die der Juwelier Tedeschi ihr für die Brosche gezahlt hatte.
Der Pompadour war es, der Pritchard an den Galgen bringen würde. Benedict hatte ihn als den seiner Frau identifiziert, und auch der Juwelier hatte sich erinnert. Der Witwer war durch eine telegrafische Nachricht nach London bestellt worden, um die Identifikation vorzunehmen. Dunn hatte ausgerechnet, dass die Kosten geringer waren, als wenn ich erneut in einen Zug nach Egham gestiegen wäre.
Benedict war sichtlich bewegt gewesen beim Anblick der Handtasche, doch seine Stimme hatte bitter geklungen, als er gesagt hatte: »Ja. Diese Tasche hat meiner Frau gehört.«
Bevor er wieder ging, blieb er vor mir stehen und sah mich an. »Sie haben ihn also gefunden, Ross«, sagte er, und es gelang ihm nicht ganz, die Erleichterung aus seiner Stimme zu halten. Er wusste, dass auch er ein Verdächtiger gewesen war, bis zu dem Moment, wo wir den Richtigen gefasst hatten.
»Das ist richtig, Sir«, sagte ich.
Er bedachte mich mit einem Blick, dem ich deutlich entnahm, dass er an unsere letzte Begegnung dachte, auf der Straße beim Ansprechen einer Dirne. Es war ein Stück Information über ihn, für das er mich für alle Zeit hassen würde. Ich fragte mich, ob er noch mehr sagen würde, aber er nickte nur und marschierte hinaus. Es war alles, was Scotland Yard oder ich jemals als Dank von ihm erhalten würden.
Dunn zeigte Pritchard im Verhörzimmer die kleine Handtasche.
»Die haben Sie Ihrem Opfer geraubt, Mrs. Allegra Benedict«, beschuldigte ihn der Superintendent. »Sie hatte sie bei sich, als sie zum Green Park ging, und wir haben seither nach dieser Handtasche gesucht.«
Pritchard hörte vorübergehend auf zu zucken und erklärte mit überraschendem Nachdruck, dass er kein Dieb sei. »Wie können Sie es wagen, das zu behaupten? Ich habe nichts gestohlen!«
»Und wie kommt es, dass Sie im Besitz dieser Tasche sind?«, brüllte Dunn.
Pritchard ließ die Schultern hängen und blickte missmutig drein. »Es war reines Pech! Es geschah nicht mit Absicht, bestimmt nicht! Sie muss sie fallen lassen haben, und ich bin mit dem Fuß dagegengetreten, als ich wegwollte. Ich habe sie aufgehoben, ohne darüber nachzudenken. Ich wollte nur weg, weiter nichts. Ich habe sie eingesteckt, und als ich nach Hause kam, stellte ich fest, dass ich das elende Ding immer noch bei mir trug. Ich wusste nicht, was ich damit anfangen sollte, also habe ich sie versteckt. Ich wollte sie später loswerden, verstehen Sie? Ich hätte sie irgendwann beseitigt, wenn Sie nicht dazwischengekommen wären und ohne meine Erlaubnis in meiner Wohnung herumgeschnüffelt hätten! Ich hatte nie vor, dieses Ding zu behalten!« Ein trotziger Unterton kehrte in seine Stimme zurück, aber er klang wenig überzeugend. »Zählen Sie das Geld doch nach! Es ist alles da, ich habe nichts herausgenommen.«
»Wir hatten einen Durchsuchungsbefehl«, informierte ich ihn. »Wir benötigten Ihre Erlaubnis nicht, um Ihre Wohnung und Ihren Laden zu durchsuchen, Mr. Pritchard.«
»Ich bin ein ehrbarer Bürger!«, beharrte er, und der Tick an seinem Mundwinkel arbeitete fieberhaft. »Jeder wird Ihnen das bestätigen. Fragen Sie in Clapham, wen Sie wollen! Alle kennen Pritchard, den Metzger. Ich habe noch nie Fleisch von minderwertiger Qualität verkauft! Mein Geschäft ist makellos sauber! Es riecht nicht, und es gibt keine Fliegen!«
»Wir interessieren uns nicht für Ihren Metzgerladen!«, explodierte Dunn. »Sie sind hier, weil wir Ihnen ein schweres Verbrechen zur Last legen, nämlich Mord. Mord in drei Fällen sogar, wenn ich Sie erinnern darf! Reden wir über den ersten Mord, von dem wir Kenntnis erlangt haben. Sie waren im Green Park, während des Nebels, wie Sie selbst zugegeben haben, und dort haben Sie Allegra Benedict getroffen und erdrosselt. Sind Sie ihr dorthin gefolgt, oder sind Sie ihr rein zufällig begegnet? Und warum haben Sie sie getötet?«
Pritchard blickte auf, und seine dunklen Augen glitzerten. »Wieso? Es musste doch getan werden, oder? Sie war eine Ehebrecherin! Ein sündhaftes Luder! Sie hat unseren Pastor vom rechten Weg geführt mit ihrer Schönheit und ihren ausländischen Bräuchen. Sie wäre sein Ruin gewesen. Sie musste aufgehalten werden!«
»Hören Sie auf, ihn Pastor zu nennen!«, befahl ich. »Er hat keinerlei theologische Qualifikation.«
»Was hat das denn damit zu tun?«, entgegnete Pritchard. »Er ist ein wunderbarer Prediger.«
»Fangen wir von vorne an«, schlug ich vor, indem ich mich weigerte, weiter mit ihm über die Person von Fawcett zu diskutieren. Dieser Gentleman würde schon bald in Dartmoor Steine klopfen, und seine silberne Zunge würde ihm dort gar nichts nützen.
Vermutlich – immerhin hatte er meine Frau angegriffen – hätte ich gar nicht mit Pritchard und Dunn im Verhörzimmer sein dürfen, und mit Biddle, der in seiner Ecke saß und wild mitschrieb. Doch dieser Mann hatte meine Tage ausgefüllt und mich in den Nächten verfolgt. Es war von Anfang an mein Fall gewesen, und ich hatte sämtliche Puzzlesteine in der Hand. Jetzt endlich würde ich imstande sein, sie zu einem Bild zusammenzusetzen.
»Sie haben sich als Phantom oder Gespenst verkleidet, um die Frauen am Fluss zu erschrecken, die als Prostituierte arbeiten«, sagte ich. »Ist das richtig?«
»Huren!«, spuckte Pritchard. »Sie sind vom rechten Weg abgekommen und wollen einfach nicht freiwillig von ihrem falschen Tun ablassen! Also habe ich versucht, sie so in Angst zu versetzen, dass sie sich nicht mehr trauen …«
»Und eine von ihnen haben Sie umgebracht, Clarissa Brady, genannt Clarrie.«
»Ich kenne keine von denen beim Namen«, sagte er launisch.
»Aber Sie haben eines der Mädchen mit einer Schnur erdrosselt und ihre Leiche in den Fluss geworfen.«
Er bedachte mich mit einem durchtriebenen Blick. »Ich habe nach ihr gesucht und sie gefunden. Es war nicht schwierig, ihr die Schnur um den Hals zu legen. Sie hat sich kaum gewehrt, wissen Sie? Stand nur da und schluchzte erbärmlich. Vielleicht hat sie über ihre Sünden geklagt!«
»Sie war erstarrt vor Angst!«, schnappte ich.
»Sie hat bekommen, was sie verdient hat«, murmelte Pritchard.
»Der Mord an Clarissa Brady ermöglichte Ihnen, Ihr Geschick zu trainieren, denn Sie hatten vor, auch Allegra Benedict zu erdrosseln, stimmt das etwa nicht? Wie genau ist es dazu gekommen?«
»Ich habe auf sie gewartet, und als sie kam, habe ich sie getötet«, sagte er einfach.
»Sie wussten, dass sie in den Park und zu dieser Eiche kommen würde? Haben Sie ihr eine Nachricht geschickt und vielleicht so getan, als käme sie von Fawcett?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, nein, ich hatte nichts damit zu tun. Mein Anteil bestand lediglich darin, dort zu sein und auf sie zu warten.« Er runzelte die Stirn. »Wir hatten nicht mit dem Nebel gerechnet. Das war eine zusätzliche Hilfe, die uns der Himmel geschickt hatte.« Er zeigte nach oben und nickte zufrieden.
»Uns?«, hakte ich nach. »Wer ist ›uns‹? Wer hat die Notiz geschrieben oder die Nachricht geschickt, in der Mrs. Benedict gebeten wurde, am Nachmittag in den Park zu kommen?«
Er schürzte wütend die Lippen. »Niemand hat eine Nachricht geschrieben. Miss Marchwood hat ihr gesagt, dass Mr. Benedict dort auf sie warten würde. Das hat sie für gewöhnlich so gemacht, wissen Sie? Mündliche Nachrichten überbracht. Sie war ebenfalls schuldig, diese Isabella Marchwood. Sie hat der Benedict geholfen, den Pastor zu verführen.«
»Isabella Marchwood hat mit Ihnen unter einer Decke gesteckt?«, rief Dunn bestürzt. »Sie war beteiligt am Mord ihrer gnädigen Herrin?«
Erneut schüttelte Pritchard ungehalten den Kopf. »Nein, nein, natürlich nicht! Sie dachte, wir wollten nur mit der Benedict reden. Sie überzeugen, dass sie aufhören müsse, den Pastor zu verführen und dass sie ihn in Frieden lassen solle.«
»Also waren Sie und Miss Marchwood Komplizen in dieser Sache!«, platzte ich hervor. »Sie hat eine falsche Botschaft weitergeleitet. Sie haben bei der Eiche im Green Park gelauert, und Mrs. Benedict fand Sie vor anstatt Fawcett, den sie erwartet hatte. Doch Sie hatten beschlossen – ohne dass Ihre Mitverschwörerin etwas davon wusste! –, Mrs. Benedict zu töten. Der Mord war Ihre Idee?«
»Nein«, sagte er leise. »Es war nicht meine Idee. Es war ihre.«
»Das ergibt keinen Sinn, Mann!«, grollte der Superintendent.
Doch für mich begann es Sinn zu ergeben. »Es war ursprünglich nicht Ihre Idee, die Lady zu ermorden. Genauso wenig hatte Miss Marchwood eine Ahnung, die arme Seele, dass Sie vorhatten, es zu tun. Es gibt also eine dritte Person, die bei der Geschichte mitgespielt hat. Sie, Pritchard, und diese andere Person haben diesen teuflischen Plan ausgeheckt. Die unglückselige Miss Marchwood war nur Ihr Bauer. Sie waren angewiesen worden, Mrs. Benedict zu töten, nicht wahr, und später erhielten Sie den Auftrag, auch Miss Marchwood zu töten, damit sie der Polizei nicht mehr die Wahrheit sagen konnte?«
»Ganz genau«, stimmte Pritchard zu und nickte. »Ich habe lediglich meine Befehle ausgeführt.« Er lächelte stolz.
»Und wer hat Ihnen diese Befehle erteilt?«, brüllte Dunn.
Pritchard starrte ihn verblüfft an. »Mrs. Scott natürlich. Wer denn sonst?« Seine Miene hellte sich auf. »Mrs. Scott ist eine sehr vornehme Lady. Sie hat sehr hohe Prinzipien.« Er hielt inne, um nachzudenken. »Und sie war immer eine gute Kundin.«
Damit war es ihm gelungen, sowohl Dunn als auch mich zum Schweigen zu bringen. Biddle saß mit offenem Mund in der Ecke. Dann ließ er den Stift fallen. Das laute Klappern, als er auf dem Boden landete, und Biddles gemurmelte Entschuldigung, als er sich bückte, um ihn wieder aufzuheben, brachen den Bann.
»Was geschah als Nächstes?«, fragte ich.
»Nichts«, antwortete Pritchard. »Ich ging zurück in mein Geschäft.«
»Und Mrs. Scott? Was hat sie getan, während Sie Ihr Opfer angegriffen haben? Was hat sie hinterher getan?«
»Mrs. Scott war nicht dabei«, sagte Pritchard. »Ich war allein.«
»Aber Sie gingen zu Mrs. Scott, um ihr zu berichten, was passiert war?«, wollte Dunn wissen. »Sie haben es doch wohl nicht der Presse überlassen, Mrs. Scott zu informieren, ob der Plan erfolgreich war oder nicht?«
»Allerdings, das ist richtig«, meinte Pritchard. »Ich bin noch am gleichen Abend zu ihr nach Hause gegangen und habe sie informiert.«
»Und was hat sie gesagt …?«, riefen Dunn und ich gleichzeitig.
»Ich denke, sie war zufrieden«, erwiderte Pritchard und blickte selbst höchst zufrieden drein. »Sie sagte mir, dass ich in mein Geschäft zurückkehren und mit niemandem darüber reden sollte.«
Dunn und ich wechselten Blicke. Also war Mrs. Scott nicht überrascht gewesen. Sie hatte gewusst, dass Pritchard Allegra Benedict aufgelauert hatte, um sie zu töten.
»Reden wir über Ihren nächsten Mord, den an Isabella Marchwood«, forderte Dunn unseren Gefangenen auf.
Pritchards Selbstgefälligkeit verflog. »Ich habe das sehr bedauert, glauben Sie mir, sehr bedauert. Miss Marchwood war eine gute und fromme Person. Aber sie war vom schmalen Pfad der Tugend abgekommen. Sie hat Botschaften zwischen der Benedict und dem Pastor hin und her getragen. Dann wurde sie von Reue gepackt, als ihr das Falsche an ihrem Tun bewusst wurde. Mrs. Scott fürchtete, sie könnte reden, vielleicht sogar mit der Polizei, wahrscheinlicher jedoch mit Mr. Benedict. Verstehen Sie, Miss Marchwood wohnte immer noch in seinem Haus, The Cedars heißt es, in Egham. Es ist ebenfalls ein sehr vornehmes Haus, wie das von Mrs. Scott. Wie gesagt, der Ehemann war da, und sie litt schwer unter der Last ihrer Schuld. Deswegen war es wahrscheinlich, verstehen Sie? Dass sie mit ihm reden würde, nicht wahr?«
»Erzählen Sie uns, wie es dazu geführt hat«, forderte ich ihn auf.
Pritchard war mehr als bereitwillig. »Na ja, sehen Sie … ich fahre jedes Mal mit dem Zug nach Hause, von Waterloo nach Clapham, nach den Temperenzversammlungen, und an diesem Sonntag war das nicht anders. Ich wollte den Saal gerade verlassen, als ich sah, dass Miss Marchwood draußen mit Mrs. Ross redete …« Pritchard sah mich ernst an. »Eine sehr naseweise Person, Ihre Frau, wenn ich mir erlauben darf, das zu bemerken.«
Er durfte nicht, aber bevor ich etwas sagen konnte, mischte sich Dunn ein. »Reden Sie weiter, Mann!«
»Also ging ich zurück in den Saal und wartete dort, bis Mrs. Ross und dieses Mädchen, Bessie Newman, außer Sicht waren, weil ich nicht wusste, ob Mrs. Ross mir Fragen stellen würde. Ich dachte, es wäre möglich. Ich wusste schließlich nicht, was in ihrem Kopf vorging, verstehen Sie, im Kopf Ihrer Frau …« Erneut dieser ernste Blick zu mir. »Als sie weg waren, eilte ich zur Waterloo Station, weil ich so schnell wie möglich nach Hause wollte.«
»Sie hatten also nicht vor, sich zu verkleiden und die Straßenmädchen in jener Nacht zu erschrecken?«, wollte ich wissen.
Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Nein, ich dachte, es wäre besser, wenn sich das Phantom für eine Weile bedeckt halten würde. Es hatte so viel Aufmerksamkeit und so viele Berichte in den Zeitungen gegeben.« Er konnte ein kleines Lächeln nicht unterdrücken. Es war nicht zu übersehen, dass ihm seine traurige Berühmtheit viel Vergnügen bereitete.
Dann stieß er einen Seufzer aus. »Aber ich habe es vermisst, wissen Sie? In meinem Kostüm nach draußen zu gehen, meine ich. Es hat viel Arbeit gekostet, dieses Kostüm. Ich habe Blut aus dem Laden benutzt, um die Flecken zu machen. Deswegen dachte ich bald, dass das Phantom wieder auftauchen sollte. Deswegen nahm ich das Kostüm am letzten Sonntag mit zum Saal. Mr. Fawcett konnte seine göttliche Arbeit ja wohl kaum verrichten – Sie hatten ihn eingesperrt. Doch ich war frei, mein Werk zu tun.
Jedenfalls, als ich an diesem Sonntag zur Waterloo Station kam, bin ich erneut Miss Marchwood begegnet. Sie wartete auf den Zug nach Egham. Sie war erfreut, mich zu sehen, und sie fragte mich, ob ich eine Note an Mrs. Scott mitnehmen könnte, falls wir Stift und Papier fänden. Nun, ich hatte zwar keinen Federkiel, aber ich hatte einen Bleistift, den ich ihr leihen konnte. Keiner von uns hatte Schreibpapier zur Hand, doch ich hatte ein paar Flugblätter bei mir … die Flugblätter, die wir hatten drucken lassen, über unsere Temperenzversammlungen im Saal. Sie schrieb auf die Rückseite, in dem Vertrauen, wie sie sagte, dass Mrs. Scott dieses ungewöhnliche Papier entschuldigen würde. Sie faltete es und gab es mir.
Ich versprach ihr, dass ich ihre Note nach Wisteria Lodge – das ist das Haus von Mrs. Scott in Clapham, ein wirklich sehr schönes Haus, hatte ich das bereits erwähnt? – bringen und noch am gleichen Abend der Lady übergeben würde. Dann stieg ich in meinen Zug nach Clapham. Es gibt mehrere Züge, die von Waterloo aus dort halten, und ich stieg gleich in den ersten. Auf dem Weg nach Hause faltete ich den Brief auseinander und las, was Miss Marchwood geschrieben hatte. Ich gestehe, dass ich den Inhalt sehr beunruhigend fand.«
»Und Sie brachten den Brief zu Mrs. Scott, noch am gleichen Abend?«
Er nickte. »Ich begab mich geradewegs vom Bahnhof nach Wisteria Lodge. Ich ging nicht zuerst nach Hause, weil ich dachte, es wäre wichtig. Mrs. Scott war der gleichen Meinung. Sie war selbst noch nicht lange zu Hause, denn sie hatte zuerst den Pastor mit ihrer Kutsche zu seinem Logis gebracht. Sie sagte zu mir, dass Miss Marchwood aufgehalten werden müsste, genau wie die Benedict. Miss Marchwood hatte in ihrer Note geschrieben, dass sie am nächsten Tag vorbeikommen würde, am Montag, um Mrs. Scott zu besuchen. Sie teilte in ihrer Note den Zug mit, den sie von Egham zu nehmen gedachte, sodass Mrs. Scott Bescheid wusste, um welche Zeit der Besuch in Wisteria Lodge eintraf.
›Sie wissen, was zu tun ist, Pritchard!‹ Das waren die Worte, die Mrs. Scott zu mir sagte. Ich wusste selbstverständlich, was gemeint war. Am nächsten Morgen ließ ich in aller Frühe meinen Gehilfen allein im Laden zurück und stieg in den Frühzug nach Egham. Ich wollte außerhalb von The Cedars warten, dem Haus der Benedicts, und Miss Marchwood auf dem Weg den Berg hinunter nach Egham und zu ihrem Zug abfangen. Es war die beste Stelle, um sie zu überfallen. Sie wäre weit weg von London gestorben, verstehen Sie, und die Polizei hätte vielleicht Mr. Benedict verdächtigt, aber es hätte keinerlei Verbindung zur Temperenzbewegung gegeben. Leider hatte ich kein Glück«, fuhr er traurig fort. »Ein Bote war mit seinem schwer beladenen Wagen auf der Straße unterwegs, und das Pferd hatte alle Mühe, den steilen Berg hinaufzukommen. Ich befürchtete schon, es würde abrutschen und stürzen. Die meiste Zeit allerdings, die Miss Marchwood den Berg hinunterging und die ich ihr heimlich folgte, war entweder sie oder ich in Sicht- beziehungsweise Hörweite dieses Boten. Was bedeutete, dass ich mich nicht verstecken konnte, sondern offen über die Straße laufen musste. Die ganze Zeit über hatte ich Angst, sie könnte sich umdrehen und mich sehen. Ich hatte mir für den Fall eine Geschichte zurechtgelegt – dass ich gekommen wäre, um mit ihr zu reden. Aber es war nicht nötig. Sie bemerkte mich nicht.
Am Bahnhof stieg sie in einen Erster-Klasse-Waggon. Es gab nur einen einzigen, gleich hinter der Lokomotive. Ich stieg in einen Waggon dritter Klasse, ziemlich weit am Ende des Zuges. Bei jedem Halt streckte ich den Kopf aus dem Fenster und merkte mir, wer ein- oder ausstieg und ob irgendjemand zu Miss Marchwood in den Waggon ging. Niemand. Es war keine Tageszeit für Reisende. Allerdings gab es einen Schaffner, und er arbeitete sich von hinten nach vorne durch die Waggons, die er während der Halts wechselte. Er hätte ein Problem darstellen können, doch in Twickenham war er beim Erster-Klasse-Waggon angekommen und stieg dort ein. Das bedeutete, dass er in Richmond wieder aussteigen würde, dem nächsten Halt, um ganz bis zum Ende des Zuges zu laufen und wieder von vorn anzufangen. Das war meine Chance. Ich schlüpfte aus meinem Waggon, eilte nach vorn zur ersten Klasse und stieg hinter dem Rücken des Schaffners ein, während er den Zug entlang nach hinten ging. Er bemerkte mich nicht.«
»Miss Marchwood war zweifellos überrascht, Sie zu sehen«, sagte Dunn bedeutungsvoll. »Und erschrocken obendrein, weil sie sich vielleicht denken konnte, dass Sie und nicht irgendjemand anders, der durch den Nebel streifte, ihre Herrin an jenem Nachmittag im Park ermordet hatten?«
Pritchard grinste erneut sein selbstgefälliges Grinsen. »Ah … Das ist richtig. Aber verstehen Sie, der Zug hatte sich schon wieder in Bewegung gesetzt, und sie konnte nicht mehr aussteigen.«
Also war es einfach gewesen für ihn. Bevor die Züge nicht mit einer Verbindungstür zwischen den Waggons ausgestattet wurden, wie es nach den Worten von Burns angestrebt wurde, war eine allein reisende Frau stets in Gefahr und verletzlich.
»Es war ein feiger Akt!«, sagte ich erbittert.
Pritchard blickte mürrisch drein. »Ich hatte meine Befehle.«
So kam es, dass ich mich erneut in Wisteria Lodge wiederfand, dem Heim von Mrs. Scott. Die Hausherrin empfing mich in ihrem Salon und zeigte keinerlei Überraschung angesichts meines Besuchs. Sie schien mich bereits erwartet zu haben. Sie wusste, dass Pritchard, sobald er erst verhaftet worden war, alles ausplaudern würde, stolz auf das, was er erreicht hatte. Aus diesem Grund konnte es lediglich eine Frage der Zeit sein, bis die Polizei eintraf, um auch sie festzunehmen.
Der Salon, den Styles und ich bei der Verfolgung von Fawcett in solcher Unordnung hinterlassen hatten, war wieder hergerichtet worden. Es gab keinerlei Hinweis, dass sich je ein unbotmäßiger Zwischenfall abgespielt hatte – mit Ausnahme vielleicht des Papageis, der ein paar Federn verloren hatte, als er vor Aufregung und Panik in seinem Käfig hin und her geflattert war. Vermutlich hatte er mich nicht vergessen, den Verursacher des gesamten Aufruhrs, denn seit meinem Auftreten fixierte er mich mit bösen Blicken. Von Zeit zu Zeit bewegte er sich seitwärts auf seiner Sitzstange und stieß ein dumpfes Krächzen aus, als wollte er sagen, dass er mir schon die Leviten lesen würde, wenn man ihn nur aus seinem Gefängnis freiließe.
Seine Herrin hegte offensichtlich mehr oder weniger die gleichen Gefühle für mich, doch sie saß kerzengerade und steif in einem Korbsessel und hatte die Hände im Schoß verschränkt. Die Haushälterin hatte mich eingelassen. Auch sie hatte sich an mich erinnert und mich beklommen angesehen, während sie sich wahrscheinlich gefragt hatte, welches Chaos ich nun schon wieder über das Haus bringen würde.
»Sie werden wahrscheinlich wissen, warum ich hier bin«, sagte ich zu Mrs. Scott. »Wir haben Mr. Owen Pritchard ausgiebig verhört, und er hat seine Taten in aller Ausführlichkeit geschildert – und uns über Ihren Anteil daran informiert.«
Sie antwortete nicht, sondern hob fragend eine Augenbraue.
Ich deutete auf den Raum ringsum. Der Papagei packte mit dem Schnabel einen Drahtbügel seines Käfigs und kaute darauf herum, um zu demonstrieren, was er gerne mit mir getan hätte. »Allegra Benedict und Joshua Fawcett – unter diesem Namen kennen Sie den Mann – haben sich hier in Ihrem Haus kennengelernt, ist es nicht so? In Ihrem Salon, während einer ihrer Soireen, bei der Fawcett geredet hat?«
Mrs. Scott atmete tief durch. »Miss Marchwood brachte sie mit. Ich denke, sie hegte die Hoffnung, ihre Herrin würde sich ebenfalls für unsere Sache interessieren und uns helfen. Stattdessen jedoch besudelte sie alles! Von dem Augenblick an, als die Benedict Mr. Fawcett zum ersten Mal sah, wusste ich, dass sie ihn für sich wollte. Sie war eine unbescheidene Kreatur ohne jeglichen natürlichen Anstand und ohne Manieren. Er war wehrlos gegen ihre Tricks. Wie so viele Männer, deren Geist auf höhere Ziele gerichtet ist, war Joshua unerfahren und hilflos gegen diese Art von Frauen.«
Wohl eher nicht!, schoss es mir durch den Kopf, aber ich schwieg und wartete ab.
Mrs. Scott schürzte die Lippen. »Sie kam zwei Mal vorbei, wenn ich mich nicht irre. Danach kam sie nicht wieder her, und zuerst war ich sehr erleichtert darüber. Ich dachte, die Gefahr wäre vorbei. Doch dann kam Isabella Marchwood in großer Not zu mir.« Mrs. Scott schüttelte den Kopf. »Marchwood war auf ihre Weise eine gutmütige Person, jedoch alles andere als besonnen. Zu meinem Entsetzen erfuhr ich von ihr, dass Joshua Fawcett von dieser Benedict verführt worden war und die beiden nun eine geschmacklose Affäre hatten, die letztendlich zu seinem Ruin führen würde. Diese Person Benedict war ohne jede Scham und ohne Diskretion, und Marchwood fürchtete, der gehörnte Ehemann würde bald herausfinden, dass sie ihn betrog. Marchwood selbst war von der Benedict überredet worden, als Vermittlerin zu agieren und Botschaften zwischen den beiden zu befördern. Wie ich bereits sagte, Isabella Marchwood war alles andere als eine intelligente Person. Trotzdem kann ich nicht begreifen, was sie dazu gebracht hat zuzustimmen. Ich kann nur mutmaßen, dass sie Allegra Benedict irgendwie genauso verfallen war wie jetzt auch Joshua Fawcett. Jedenfalls, Marchwood wusste nicht mehr ein noch aus. Sie wandte sich an mich.
Ich begriff, dass drastische Maßnahmen erforderlich waren. Ich erkundigte mich, wo sich die beiden trafen, und erfuhr, dass sie häufig eine alte Eiche im Green Park als Treffpunkt benutzten. ›Also schön‹, sagte ich zu Marchwood. ›Sagen Sie Mrs. Benedict, dass Mr. Fawcett sie am Samstagnachmittag dort sehen möchte. Ich werde mit Mr. Pritchard dort warten, als Repräsentanten unserer kleinen Gruppe.‹ Ich erklärte ihr, dass wir ein sehr ernstes Wort mit Mrs. Benedict reden und ihr sagen würden, dass ihre Affäre weithin bekannt und es nur noch eine Frage sehr kurzer Zeit wäre, bevor ihr Ehemann davon erfahren würde. Die Tatsache, dass Pritchard und ich bereits Bescheid wussten, würde ein Übriges tun, um sie genug zu erschrecken, sodass sie die Liaison abbrach. Marchwood akzeptierte den Plan und war nur allzu bereit, mir zu vertrauen – und Pritchard.«
Sie verstummte. »War es das, was Sie wirklich vorhatten?«, hakte ich nach. »Mit Mrs. Benedict zu reden, weiter nichts? Oder war das die Version, die Sie Miss Marchwood erzählten, damit sie bei Ihrem Plan mitspielte und sich nicht weigerte?«
»Selbstverständlich war das alles.«, sagte Mrs. Scott gelassen.
Ich bemerkte, dass ich gegen meinen Willen fasziniert war von dieser grässlichen Person. Sie redete völlig kühl und gleichmütig von ihrem verschlagenen Plan. Sie hatte keinerlei Gewissensbisse und zeigte auch kein Bedauern. »Und Sie waren darauf vorbereitet, tatenlos mit anzusehen, wie Pritchard Mrs. Benedict erdrosselte?«, fragte ich mit einer Stimme, die trotz meiner heftigsten Bemühungen zittrig klang.
»Nein, selbstverständlich nicht! Das war nicht der Plan. Wie ich bereits sagte, wir wollten lediglich ein ernstes Wort mit Mrs. Benedict reden. Allerdings war ich am fraglichen Tag überhaupt nicht zugegen. Ich hatte Marchwood gesagt, ich wäre dort, doch dann kam dieser furchtbare Nebel auf und reichte von London bis hinaus nach Clapham. Ich habe viele Jahre in heißem, trockenem Klima verbracht, und feuchtes, kaltes Wetter ist meiner Gesundheit abträglich. Ich wagte nicht, das Haus zu verlassen, um mir keine gefährliche Erkältung zuzuziehen. Ich blieb hier in Clapham, und Pritchard fuhr allein nach London, um sich mit Mrs. Benedict zu treffen. Er hat sie ganz alleine umgebracht. Es war seine Entscheidung.«
Sie hielt meinem Blick stand, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich konnte ihr das Gegenteil nicht beweisen. Sie wusste das. Ihr Wort, das einer reichen Witwe von beträchtlichem gesellschaftlichem Ansehen, stand gegen das von Owen Pritchard, einem einfachen Metzger. Welche Jury würde glauben, dass eine Frau wie Mrs. Scott, die so respektabel und vornehm in einer Villa in Clapham residierte, imstande wäre, einen kaltblütigen Mord zu planen?
Nun denn, sie mochte der Verantwortung für Allegras Tod entkommen, doch der Mord an Isabella Marchwood war eine andere Geschichte, aus der sie sich nicht so einfach herauswinden würde können!
»Was dachten Sie, als Pritchard Ihnen berichtete, oder als Sie hörten, dass er Mrs. Benedict erdrosselt hatte?«, begann ich.
»Ich dachte, dass es so wahrscheinlich am besten war«, antwortete sie mit der gleichen übernatürlichen Ruhe. »Es würde eine Menge Wirbel verursachen, aber den mussten wir ertragen. Mit der Zeit würde er sich wieder legen.«
»Aber Miss Marchwood konnte oder wollte sich nicht so einfach damit abfinden«, sagte ich in scharfem Ton.
Der Papagei stieß ein erschrockenes Krächzen aus angesichts meines Stimmungswechsels.
»Nein«, erwiderte seine Besitzerin nachdenklich. »Sie wollte nicht. Mir war natürlich klar, dass sie erschüttert reagieren würde. Doch ich nahm an, die Angst davor, dass ihr Anteil an alledem bekannt würde, brächte sie zum Schweigen.«
»Am Sonntagabend vor ihrem Tod kam Miss Marchwood zu Ihrer Kutsche und wollte mit Ihnen reden. Sie sagten zu ihr, sie möge doch bitte zu Ihnen nach Clapham kommen. Meine Frau hat das Ganze beobachtet.«
»Ja, Mrs. Ross hat mir davon erzählt.« Sie legte die Stirn in Falten. »Ich habe Mrs. Ross nicht gesehen an jenem Abend auf der Straße. Ich weiß beim besten Willen nicht, wo sie gestanden hat …«
Im Eingang zu einem Stallhof, dachte ich. Aber ich hatte nicht vor, es dieser Frau zu verraten.
»Als wir den Leichnam von Miss Marchwood im Bahnhof von Waterloo im Zug fanden, war mein erster Gedanke, dass sie auf dem Weg nach London gewesen war, um mit mir zu reden, oder vielleicht mit meiner Frau«, sagte ich. »Doch das war ein Irrtum, habe ich recht? Sie war nicht auf dem Weg nach London, sondern nach Clapham. Sie wollte in Clapham aussteigen, um Sie in Wisteria Lodge zu besuchen.«
Erneut die erhobene Augenbraue.
»Als meine Frau herkam, um mit Ihnen zu reden am Dienstag nach dem Mord an Miss Marchwood, haben Sie sich über ihr unangemeldetes Erscheinen vor Ihrer Tür echauffiert«, fuhr ich fort.
»Selbstverständlich. Es ist nicht üblich und ein gesellschaftlicher Fauxpas«, entgegnete sie.
»Miss Marchwood hätte die gesellschaftlichen Konventionen niemals auf diese Weise missachtet«, sagte ich.
»Nein«, pflichtete sie mir bei.
»Und deswegen bat sie Pritchard, als sie ihn am Sonntagabend auf dem Bahnhof von Waterloo traf, der Einfachheit halber eine Note an Sie mitzunehmen, in der sie erklärte, am folgenden Montag vorbeikommen zu wollen, und außerdem die Ankunftszeit ihres Zuges mitteilte, sodass Sie genau wussten, um welche Zeit Sie mit ihr rechnen mussten. Die Note wurde mit Bleistift auf der Rückseite eines Flugblatts verfasst, von der Sorte, die auch unser Hausmädchen Bessie Newman mitbekommen hatte und in der Reklame gemacht wurde für die Treffen Ihrer Temperenzbewegung.«
»Ihre Frau hat sich in sehr überzogener Weise dagegen geäußert, dass Ihr Hausmädchen diese Flugblätter verteilt«, sagte Mrs. Scott. »Aber nein. Ich habe keine an mich gerichtete und von Miss Marchwood verfasste Note erhalten.«
»Pritchard sagt, er hätte sie Ihnen am Sonntagabend zugestellt, sobald er nach Clapham zurückgekehrt wäre.«
»Pritchard kam zu mir ins Haus«, verbesserte sie mich entschieden, »doch er brachte mir keine Note. Entweder irrt er sich, oder er hat diese Geschichte aus irgendeinem Grund, den nur er weiß, erfunden. Er hat mit mir gesprochen und seinen Befürchtungen Ausdruck verliehen. Er suchte meinen Rat. Er war besorgt wegen Miss Marchwood und auch, weil, wie ich Ihnen sagen muss, Ihre Frau ein unbotmäßiges Interesse an dieser Sache zu haben schien.«
Ich ignorierte den verschlagenen Hinweis, dass Lizzie in gewisser Hinsicht schuld war am Tod von Isabella Marchwood. »Ihnen wurde klar, dass weder Sie noch Pritchard jemals sicher sein konnten, dass Miss Marchwood nicht über die Verschwörung reden würde, die Sie ausgebrütet hatten«, sagte ich.
»Mir wurde klar, dass sie unzuverlässig war, richtig«, stimmte sie zu. »Ein schwacher Verstand, fürchte ich, und kein Rückgrat. Ich befürchtete, Ihre Frau könnte sie zum Reden bringen.«
»Und deswegen sagten Sie zu Pritchard, dass sie niemals Ihr Haus erreichen dürfte.«
»Das behauptet er also?«, erwiderte sie und musterte mich aufmerksam.
»Das behauptet er«, sagte ich ungerührt. »Pritchard hat seine Befehle erhalten, genau wie bei der vorangehenden Gelegenheit, und alles darangesetzt, sie auszuführen.«
»Sie irren sich. Ich habe Pritchard beruhigt und ihm versprochen, dass ich mit Miss Marchwood reden und ihr noch einmal eindrücklich klarmachen würde, dass sie unter keinen Umständen reden dürfte. Das hatte ich jedenfalls vor.«
»Und das wollten Sie tun, als sie am Montagmorgen vor Ihrer Tür stand?«
Sie durchschaute meinen Trick und lächelte verkniffen. »Es gab kein derartiges Arrangement«, sagte sie. »Weder eine Note auf einem Flugblatt noch eine mündliche Verabredung noch sonst irgendetwas. Das habe ich Ihnen bereits gesagt. Das ist alles eine Erfindung von Pritchard.«
Ich drängte weiter. »Er hat der Polizei die Abfolge seiner Handlungen an jenem Tag in allen Einzelheiten beschrieben. Nachdem er die wehrlose Miss Marchwood erdrosselt hatte, stieg er in Clapham aus dem Zug. Er entfernte sich in aller Ruhe zusammen mit den übrigen Passagieren und ließ die Leiche der armen Frau im Waggon zurück. Er begab sich in sein Geschäft und wieder an die Arbeit. Die Leiche wurde erst entdeckt, als der Zug in Waterloo angekommen war. Das muss Ihnen und Pritchard doch wie ein unerwarteter Glücksfall vorgekommen sein.«
»Sie wäre jedenfalls jetzt noch am Leben, wenn sie einen kühlen Kopf bewahrt hätte«, sagte Mrs. Scott wegwerfend. »Und wenn sie Pritchard nicht so erschreckt hätte.«
Sie glättete mit vorsichtiger Hand eine Falte in ihrem Kleid. »Als Ihre Frau so unerwartet zu mir kam an jenem Dienstagmorgen, mit der Nachricht vom Tod Isabellas, war das das erste Mal, dass ich von ihrem Tod hörte. Ich habe es sehr bedauert. Mir wurde bewusst, dass Pritchard sich wohl hatte mitreißen lassen und einen Schritt zu weit gegangen war. Falls es tatsächlich Pritchards Werk war, heißt das.«
»Sie zeigen sich sehr unbeeindruckt von alledem, so viel steht fest«, sagte ich. »Was ist mit dem Mädchen, Clarissa Brady? Wussten Sie, dass Pritchard auch hinter ihrem Tod steckte?«
Bis zu diesem Moment hatte ich ihr nichts verraten, was sie nicht längst wusste, ob sie nun bereit war oder nicht, es zuzugeben. Doch jetzt nannte ich einen neuen Namen, und ich erkannte für einen Augenblick, dass sie überrascht war. »Wer ist das?«, fragte sie. Zum ersten Mal schlich sich so etwas wie Unruhe in ihre Stimme.
»Sie war Pritchards erstes Opfer, eine Prostituierte. Er übte an ihr seine Methode des Erdrosselns, bevor er Allegra Benedict auf die gleiche Weise umbrachte. Er warf den Leichnam in die Themse, aus der sie später von der Flusspolizei geborgen wurde.«
»Ich weiß von alledem nichts!«, dementierte sie aufgebracht. »Eine Prostituierte, sagen Sie? Woher soll ich etwas von einer Prostituierten wissen?«
»Wissen Sie etwas darüber, dass Pritchard die Angewohnheit hatte, sich in ein Leichentuch zu hüllen und in nebligen Nächten die Straßenmädchen zu erschrecken, die in der Nähe des Flusses arbeiten, indem er ihnen die Hände um den Hals legte?«
Sie sah mich verwirrt an. »Warum sollte er so etwas tun?«
»Er sagt, er wollte ihnen Angst machen, damit sie aufhören, sich auf der Straße anzubieten.«
»Oh«, sagte Mrs. Scott. »Dann wollte er wohl nur das Beste für sie, würde ich sagen.«
»Vielleicht wussten Sie nicht, dass er Clarissa Brady erdrosselt hat«, entgegnete ich. »Aber ich bin überzeugt, dass Sie von seinen Aktivitäten als das Phantom aus der Themse wussten, und das ist auch der Grund, warum Sie ihn benutzten, um Allegra Benedict aus dem Weg zu räumen. Er war ein gefügiges Werkzeug in Ihren Händen und hat Sie ohne Weiteres als höhere Autorität akzeptiert. Mehr noch, ich halte es für möglich, dass selbst seine Aktivitäten als Phantom ursprünglich Ihre Idee waren. Sie haben ihn ausgeschickt, eingehüllt in ein blutiges Leichentuch und mit einer Maske aus Pappmaschee auf dem Kopf. Bevor Sie Ihre Aufmerksamkeit auf den Kampf gegen das Laster der Trunksucht richteten, hatten Sie beschlossen, etwas zu unternehmen, um die Prostituierten von den Straßen zu vertreiben.«
»Die Polizei hat so gut wie nichts dagegen unternommen!«, platzte es aus ihr hervor. »Das ganze Land geht nach und nach vor die Hunde, und die Behörden machen absolut nichts! Es ist die heilige Pflicht eines jeden gesetzestreuen Bürgers, gegen jede Art von verlotterter Moral in unserer Gesellschaft anzugehen! Was war verkehrt an Pritchards harmloser kleiner Maskerade?«
Sie presste die Lippen aufeinander, als ihr bewusst wurde, dass sie mehr gesagt hatte, als sie eigentlich wollte.
»Ein gesetzestreuer Bürger wäre sicherlich direkt zur Polizei gegangen, nachdem er von Pritchard von dessen Mord an Allegra Benedict erfahren hätte«, entgegnete ich. »Wenn das, was Sie mir erzählt haben, der Wahrheit entspricht, und wenn Sie ihn nicht beauftragt hatten, die Frauen zu ermorden, dann haben Sie die Nachricht von den Morden zumindest bemerkenswert gelassen aufgenommen und zugleich nichts getan, damit Pritchard zur Verantwortung gezogen werden konnte.«
»Mir war bewusst, dass er übereifrig gewesen war, doch das Ergebnis entsprach dem, was wir uns gewünscht hatten. Joshua Fawcett war frei von dieser Frau. Das war alles, was zählte.« Ihre grauen Augen, bis zu diesem Moment so eisig kalt, funkelten plötzlich triumphierend. »Wir hatten unser Ziel erreicht.«
Ich konnte nicht länger ruhig sitzen. Ich hatte genug gehört. Ich stand auf und ging zum Fenster, um Morris Bescheid zu geben, der draußen wartete.
Als er hereingekommen war, drehte ich mich zu Mrs. Scott um.
»Jemima Scott, ich verhafte Sie hiermit wegen des Verdachts der Anstiftung und Beihilfe zum Mord in wenigstens zwei Fällen und in einem weiteren Fall wegen Zurückhalten von Informationen, die zur Aufklärung eines Kapitalverbrechens geführt hätten. Ich muss Sie bitten, uns zu begleiten.«
Der Papagei begann wie verrückt mit den Flügeln gegen die Gitterstangen seines Käfigs zu schlagen.